Titel:
Die Hände eines Königs Autoren: Balduin IV von Jerusalem
Er wusste nicht, wie lange er ohnmächtig gewesen war.
Das Einzige, an
das er sich wirklich erinnerte, war, dass ihn ein mächtiger Hieb zu Boden
gestreckt hatte. Ein Hieb, der sein Gesicht getroffen hatte und der so gewaltig
war, dass er das Bewusstsein verloren hatte.
Und nun musste er tot sein,
zweifelsohne, denn was er sah, war dem, an was er sich erinnerte, so gänzlich
widersprüchlich und gegenläufig, ja, fremd, dass er nur tot sein konnte,
hinübergeschieden in eine andere Welt.
Es roch gut, auf jeden Fall.
Würzig und ein wenig verbrannt, aber gut. Irgendein Kraut wurde verbrannt, das
einen guten Geruch dabei verströmte, und die Sonne kam gefiltert durch rote
Vorhänge. Nun, dachte er, dass es rote Vorhänge im Jenseits gibt, hätte ich
nicht gedacht, aber wohlan denn, so sei es. Man kann sich gewaltig täuschen in
seiner Vorstellungskraft.
Er versuchte sich zu erinnern.
Es war
eine gewaltige Schlacht gewesen, und ein gewaltiger Hieb. Und von wem – er
wusste es nicht mehr. Er wusste auch nicht mehr, gegen wen er gekämpft hatte,
und warum – er erinnerte sich mühsam daran, wer er war, und auch das nur schwer.
Ich habe wohl versagt, dachte er, und versuchte aufzustehen, doch
Schmerzen hielten ihn zurück, und als er an sich herab sah, sah er, dass er
weitaus schlimmer verletzt war, als er dachte. Sein rechtes Bein war in arge
Mitleidenschaft gezogen worden und vermutlich durch einen Schwerthieb getroffen
worden, es war in dicke Bandagen eingehüllt und er beschloss, sich wieder
hinzulegen und der Dinge zu harren, die kommen würden.
Irgendwer käme
sicherlich irgendwann und er würde aufgeklärt werden über seinen Status und
seinen Verbleib.
Denn das Jenseits schien dies hier doch nicht zu sein –
zumindest hatte er andere Vorstellungen über das Jenseits. Man würde nicht
verwundet herumliegen und verbrannte Kräuter riechen und durch rote Vorhänge
sehen. Möglicherweise war er in Gefangenschaft geraten. Er würde sehen.
Er musste nicht lange warten, denn eine Tür schwang auf und jemand
kam zu ihm.
Der Mann, der sich über ihn beugte, hatte lange schwarze
Locken und einen Bart der gleichen Farbe, seine Augen waren sehr dunkel und
seine Nase leicht gebogen. Und er sprach mit leiser, beruhigender Stimme auf ihn
ein, in einer Sprache, die der Verletzte nicht verstand. Aber es war keine
Bedrohung, so viel sickerte in seinen Geist ein, und es war gut, hier zu sein,
wenngleich er nicht wusste, wo genau er war.
Der schwarzgelockte Mann
lockerte den Verband und wickelte ihn ab und zum ersten Mal sah der Verwundete
das volle Ausmaß seiner Beschädigung. Sein rechtes Bein war durch eine Klinge
vom Oberschenkel bis zur Wade aufgeschlitzt worden und die Wunde sah entzündet
aus. Der Mann, der ihn versorgte, sah besorgt drein, dann öffnete er einen
Tiegel und verteilte eine wohlriechende Salbe auf der Verletzung. Frische Tücher
wurden geholt und als der Verband wieder platziert war, versuchte der Mann, der
wohl ein Arzt oder Heiler war, zu lächeln.
Verständigung war nicht
möglich, so schien es, und so begnügte sich der Heiler damit, kurz an seine
Stirn zu fassen, dann an sein Herz, und sein Mund murmelte etwas, das sich
anhörte wie Salam aleikum.
Eine schwarze Welle bemächtigte sich des
Verletzten, und er glitt wieder hinweg, in das Reich eines fiebrigen Traumes,
aus dem er so schnell nicht mehr aufwachen sollte.
Es war heiß und kalt zugleich und er öffnete die Augen nicht, denn jede
Anstrengung schien zu viel zu sein. So blieben seine Lider auch geschlossen, als
er hörte, wie jemand mit ihm sprach, doch wiederum verstand er nichts, denn die
Sprache war ihm nicht geläufig.
Dann änderte sich die Sprache und zum
ersten Mal konnte er Worte verstehen.
Die Stimme klang wie von ferne,
sehr leise und irgendwie gedämpft, und er bemühte sich zu verstehen, aber er
konnte nicht antworten, so schwach fühlte er sich. Die Stimme war sanft und fast
zärtlich. Er hatte noch nie jemanden so sprechen gehört.
Eine Hand legte
sich auf seine Stirn, oder etwas anderes, es fühlte sich nicht an wie eine Hand,
eher wie ein Lappen, doch er war nicht nass und kühlend, sondern trocken und
warm.
„Ihr seid sehr verletzt worden, als Ihr zu uns gebracht wurdet.
Man hat Euch halb verdurstet und verblutet in der Wüste gefunden und ohne
Umschweif in meine Gemächer gebracht, da hier die besten Ärzte sich einfinden.
Ihr müsst ein Edelmann sein, Euren Gewändern nach. Und Ihr habt heftig gekämpft,
Euren Verletzungen nach. Seid froh, dass Ihr hier seid. Man wird das
Bestmöglichste für Euch tun, ich schwöre es.“
Mühsam öffnete er seine
Augen, um sie sogleich wieder zu schließen, denn was er sah, konnte nicht
wirklich sein.
Oder doch...?
Erneut sah er auf den Mann mit der
leisen, sanften Stimme, der sich über ihn gebeugt hatte und tatsächlich seine
Hand auf seine Stirn gelegt hatte, doch die Hand war, wie die andere auch, mit
Bandagen umwickelt und endete in einem Leinenhandschuh, und das Gesicht des
Mannes war nicht zu erkennen, denn eine silberne Maske verdeckte das Antlitz und
nur die blauen Augen blickten auf ihn herab, voller Mitleid, voller Sorge.
„Wer – seid – Ihr?“ fragte der Verletzte mühsam und die silberne Maske
lächelte nicht, obwohl der Mann darunter lächelte. Nur die Augen zwinkerten und
verrieten die Stimmung.
„Ich bin Balduin, und bevor Ihr weiter fragt,
Ihr seid in Sicherheit, Ihr seid in Jerusalem. Ich werde Sorge dafür tragen,
dass Eure Wunden gut versorgt werden und es Euch bald wieder besser geht. Und
wer seid Ihr, Ritter?“
„Ich weiß es nicht...“ sagte der Mann und
schüttelte den Kopf. In der Tat sprach er wahr, er wusste nicht mehr mit
Genauigkeit um seinen Namen und sein Sein. „Ich weiß auch nicht, wo Jerusalem
ist und warum ich hier bin und in einer Wüste war. Ich dachte immer, ich wüsste
es, aber nun weiß ich gar nichts mehr. Sagt mir – in welchem Land befinden wir
uns?“
Balduin hielt seinen Kopf ein wenig schief, bevor er antwortete.
„Wir sind in Jerusalem, im Heiligen Land, in Palästina. Der Ort, wo
unser Herr Jesus gekreuzigt wurde, starb und am dritten Tage wieder auferstand
von den Toten. Der Ort, den die Juden, die Sarazenen und die Christen verehren
und um den sie seit Jahren streiten. Ihr habt sicherlich schon von Jerusalem
gehört.“
„Nein.“ sagte der Mann ehrlich und Balduin wirkte verwundert,
denn er legte den Kopf noch schiefer.
„Ist es möglich, hier im Osten zu
sein und Jerusalem nicht zu kennen? Was, sagt mir, suchet Ihr dann hier? Ihr
tragt das Gewand eines Ritters, wenngleich nicht das Gewand eines Kreuzritters
oder eines mir sonst bekannten Ordens, aber Ihr seid eindeutig nicht
sarazenischen Blutes. Eure Locken sind golden und Euer Schwert nicht
orientalisch. Sicherlich habt Ihr Euren Verstand verloren durch die großen
Schmerzen, die Ihr erlitten habt. Mit der Zeit wird Eure Erinnerung zurückkehren
und wir werden reden. Bis dahin – schlaft. Ihr habt viel zu tun, um gesund zu
werden, glaubt mir!“
Balduin lachte leise und zog seine Hand zurück.
„Ich sollte Euch nicht berühren, Ritter, wenn es um die Vorschriften aus
Rom ginge. Geht es aber nicht, denn wir sind hier in Jerusalem. Habt keine Angst
vor mir, ich werde Euch in keinerlei Hinsicht schaden, glaubt mir. Und nun ruht.
Ich werde wieder nach Euch sehen. Friede sei mit Euch.“
Doch
der Zustand des blonden Mannes verschlechterte sich und Balduin wurde am frühen
Morgen des 5. Tages, da dieser Mann in Jerusalem weilte, an das Bett geholt.
Fieberwahn hatte den Verletzten ergriffen und er konnte nur mühsam die
Augen öffnen, um Balduin überhaupt wahr zu nehmen, und dieser ließ seine
Leibärzte aufwarten, um dem Fiebernden beizustehen.
„Wenn ich nur wüsste, was Euch heilen
könnte!“ sagte Balduin leise und der Mann sah ihn an. „Es gibt etwas, das mich
heilen könnte, denn die Klinge eines Nazguls hat mich verwundet und wäre hier
ein König, so könnte ich durch die Hände eines Königs geheilt werden, der das
Königskraut sammelt und es mir in die Wunde reibt...“
Balduin sah den
Blonden verwundert an, kein Wort von dem verstehend, was dieser äußerte.
„Königskraut?“ fragte er dann, die Frage nach dem Worte „Nazgul“
unterdrückend, und der Mann nickte. „Ja. Aber es ist Euch kein Begriff,
nehme ich an.“
„Oh doch, es ist mir ein Begriff, doch ich wusste nicht,
dass es über solche Heilwirkung verfügt. Meine Köche verwenden es in der Küche
und es hat einen griechischen Namen hier, wir nennen es Basilikum. Königskraut,
wenn Ihr es übersetzen wolltet. Und Königskraut könnte Euch helfen?“
Der blonde Mann nickte und Balduin
überlegte nicht lange, sondern er schickte sogleich nach Basilikum, was ihm in
wenigen Augenblicken gebracht wurde.
„Und – wie genau muss es auf Eure
Verletzung gebracht werden, Ritter?“
„Mein Name ist Eomer, ich erinnere
mich....“ flüsterte der Mann und sah Balduin erstaunt an. „Wer – ich meine....“
Eomer sah an Balduins Augenwinkeln, dass dieser wieder lächelte. Es war
nahezu unwiderstehlich, in diese blauen Augen zu sehen, die ihn erinnerten –
erinnerten.... doch an was, wusste er nicht mehr genau, so wischte er den
Gedanken weg und stellte die Frage, die ihm auf der Zunge lag.
„Es muss
ein König sein, der mir dieses Kraut auflegt, wie, ist fast egal, denn es ist
der König, der durch dieses Kraut heilt – die Hände eines Königs. Es wirkt nur
so. Es muss ein König sein.“
„Es ist also gleich, wie Euch das Kraut
verabreicht wird? Es kann also auch einfach nur auf Eure Wunde gelegt werden,
ohne weitere Zubereitung? Ich verfüge über viele gute Ärzte, christliche und
muslimische, ich kann Euch Tinkturen bereiten lassen, Pasten, alles, was Ihr
wünscht.“
Eomer schüttelte den Kopf, sich nur kurz fragend, was
christlich und muslimisch bedeuten könnte, welche Stämme Mittelerdes, die er
noch nicht kannte, sich dahinter verbergen könnten, doch es gab Wichtigeres zu
besprechen. „Es würde alles nichts nützen, wenn es nicht ein König wäre, der es
tut. Nur der König eines Volkes hat heilende Hände, und er allein vermag es, mit
dem Königskraut zu heilen.“
Balduin sah das Basilikum an, das süß und
pfeffrig duftete.
„Aber ich muss es berühren? Ich meine, mit – meinen
Händen? Oder reicht es, wenn ich es Euch einfach nur auflege?“
„Ihr seid
ein König, Balduin....“ Der blonde Mann richtete sich auf und sein Atem ging
schwerer und schneller zugleich. „Ihr seid ein König. Ich bin gerettet, Ihr
werdet mich heilen. Ich danke Euch. Doch eilt Euch, das Haus meines Lebens
beginnt zusammen zu stürzen...“
Balduin verneigte sich und ließ nach
einem Diener schicken, um das Bein zu entblößen und die schwärende Wunde frei zu
legen.
Eomer schloss seine Augen und fühlte, wie sich etwas auf die
Wunde legte, dann spürte er wieder die behandschuhte Hand auf seiner Stirn, die
andere oberhalb seiner Verletzung auf dem Oberschenkel.
„Ich habe Euch
das Kraut aufgelegt, Eomer. Und ich erbitte Heilung für Euch, wie auch immer
dies vor sich gehen mag, durch unseren Herren, er möge sich Eurer erbarmen.“
„Welchen Herrn?“ fragte Eomer, doch Balduin schüttelte nur den Kopf und
strich vorsichtig über die Stirn des Liegenden. „Seid still, Eomer, auf dass Ihr
gesundet. Und dann werden wir reden, wenn Ihr es wünscht, und ich werde sehen,
ob Ihr derjenige seid, den ich in meinen Gebeten erbat, der vollkommene Ritter,
der Jerusalem retten wird vor dem drohenden Untergange... denn anders kann ich
mir Euer Erscheinen nicht erklären denn durch die Erhörung meines Flehens. Ihr
werdet gesund werden, Ritter.“
„Ja, durch Eure Hände...“ flüsterte
Eomer, dann schlief er ein.
Und in der Tat wurde Eomer gesund, in
wenigen Tagen war von seiner schweren Verletzung kaum mehr zu sehen als eine
feine weiße Narbe, die wohl bleiben und ihn daran erinnern würde, dass er dem
Tod von der Schippe gesprungen war, und dies nur durch den glücklichen Umstand,
dass ihn ein König heilen konnte.
Doch der König Balduin machte sich
rar, als es mit Eomer wieder aufwärts ging. Immer seltener sah Eomer den König
mit der silbernen Maske und er begann sich zu fragen, was es damit auf sich
hatte. In den wenigen Augenblicken, in denen er auf Balduin traf und sich dieser
nicht zurückgezogen hatte, wagte Eomer es nicht danach zu fragen – sicherlich
handelte es sich um ein besonderes Insignium der Macht oder der Königswürde oder
Balduin war einfach zu schüchtern, um sein Gesicht offen zu zeigen, aus welchem
Grunde auch immer – Eomer hielt es nicht für schicklich, darauf einzugehen,
zudem er hoffte, dass Balduin etwas verlauten lassen würde, doch dem war nicht
so.
Im Gegenteil, Balduin war seltener Gast in seinem Gemach,
stattdessen bekam er immer häufiger Besuch von Raymond, dem Grafen von Tiberias,
der sich nach seinem Wohlbefinden erkundigte und ihn in die Staatsgeschäfte von
Jerusalem einzuweihen begann.
Eomer erfuhr, dass es sich bei dem Orte
Jerusalem um eine große Stadt handelte, die in einem Land lag, das von Wüste
umgeben war und das die Menschen „Palästina“ nannten. Es gab mehrere Völker, die
diese Stadt für sich beanspruchten, wobei jedes dieser Völker zu einem anderen
Gott zu beten schien, der aber, so dünkte es Eomer, der Gleiche war, jedoch
unter anderem Namen. Er lernte, dass es Juden gab, deren Gott Jahwe hieß,
Christen, die einen Gott verehrten, der einen Sohn namens Jesus hatte, der
blutigerweise starb, für seinen Vater, was Eomer nicht verstehen konnte, denn
ein Vater konnte so etwas doch nicht zulassen, vor allem, wenn er ein Gott –
also so etwas wie ein Valar – wäre, und Muslime, die ihren Gott Allah nannten
und es ablehnten, irgendwelche Bilder von Menschen zu erstellen, weshalb ihre
Ornamente so reich und schön ausgeprägt waren. Und alle diese Menschen waren an
Jerusalem interessiert. Balduin gehörte zu den Christen, die aber in sich auch
gespalten waren – so mochte der König von Jerusalem beispielsweise einen
Herrscher in Rom nicht und dieser ihn nicht, so viel konnte Eomer erfahren, und
mit dem Herrscher der Muslime hatte Balduin einen Frieden geschlossen, der
wiederum einigen anderen nicht behagte. Es war nicht leicht und der Graf von
Tiberias schien ebenso wie der König im Kreuzfeuer der verschiedenen Parteien zu
stehen.
Eomer wusste, wem er, so lange er hier sein würde, dienen würde,
und er versuchte immer wieder die Gesellschaft Balduins zu erlangen, doch dieser
entzog sich ihm, mit unterschiedlichsten Ausreden, und in seinen eigenen
Gemächern war es verboten ihn aufzusuchen, nur mit ausdrücklicher Einladung
durfte man zu ihm so weit vordringen.
Raymond hingegen wurde immer
vertrauter und Eomer fand Gefallen an dem gestandenen dunklen Ritter, was auf
Gegenseitigkeit beruhte.
Eines Abends begab es sich, da Eomer und
Raymond zusammen ein Glas Wein tranken. Sie waren alleine und Raymond beugte
sich vor, um Eomers Kelch erneut zu füllen, dabei berührte er zufällig Eomers
Hand und hielt sie einen Moment länger als nötig fest.
Irgendetwas
raschelte im Hintergrund und Eomer vermeinte aus seinen Augenwinkeln eine weiße
Gestalt zu sehen, doch als er sich wieder umwandte, nachdem er Raymond die Hand
entzogen hatte, war niemand mehr zu sehen und nichts zu hören, so musste er sich
getäuscht haben und Raymond prostete ihm zu.
Aber diese Zufälle häuften
sich, immer wenn Raymond und Eomer alleine waren, und eines Tages war es kein
Zufall mehr, sondern offenbar, Balduin zeigte sich, als Raymond gerade einen
Schritt näher an Eomer herangetreten war, als es die Schicklichkeit erlaubte,
und zupfte Raymond am Ärmel, ihn in seine Gemächer bittend und Eomer sich selbst
überlassend.
Etwas stimmt hier nicht, dachte Eomer, während er den Rest
seines Weines trank und das frische Brot dazu aß. Balduin geht mir aus dem Weg,
aber er lässt mich auch nie alleine. Irgendetwas ist hier nicht in Ordnung.
Und so beschloss Eomer, sich einen Abend mit dem König zu erbitten.
In der Tat wurde es ihm gewährt, zumal er andeutete, dass er gerne eine Partie
Schach spielen würde, und Eomer trat in Balduins innerstes Gemach. Balduin saß
bereits an dem niedrigen Tischchen, auf dem die Figuren standen, mit denen
umzugehen und zu spielen Eomer Raymond gelehrt hatte, und Eomer setzte sich.
„Ihr wünscht zu spielen, Eomer?“ fragte der König und zeigte auf Eomer.
„So tut den ersten Zug, ich bitte Euch.“
„Ich wünsche um einen Einsatz
zu spielen, mein König!“ erwiderte Eomer und Balduin legte seinen Kopf auf seine
eigentümliche Art und Weise schief.
Nach einer längeren Bedenkzeit
antwortete er: „Oh, dann soll das so sein. Und an was dachtet Ihr?“
Eomer lächelte. „Sicherlich werdet Ihr siegreich sein, viel länger als
ich beherrscht Ihr schon das Spiel der Könige, doch sollte ich gewinnen, so
wünsche ich mir, dass Ihr mir einen Wunsch erfüllt, den ich nach dem Spiele
äußern werde. Ich bitte Euch. Es ist nichts, was Euch schaden wird, ich schwöre
es, um es mit Euren Worten zu sagen. Es ist eine Kleinigkeit. Bitte gewährt es
mir – es wird eh nicht eintreten, da Ihr gewinnt. Und Ihr sollt den gleichen
Preis haben. Ein Wunsch sei Euch frei, den ich Euch erfüllen werde.“
Balduin lächelte, was Eomer an den Augenwinkeln erkannte, und er
lächelte zurück. „Ist das ein Zeichen Eures Einverständnis, König Balduin?“
fragte er, und dieser nickte.
„So soll es sein, ich vertraue Euch. Und
nun lasst uns kämpfen!“
Balduin zog seine weißen Figuren mit Bedacht.
Zwar war Eomer ein sehr guter Schüler gewesen, was Schach anging – dies
hatte auch der Graf von Tiberias bestätigt – doch ungestüm und zu direkt waren
oft seine Angriffe gewesen, zwar von strategischer Güte, jedoch nicht von
Weitblick, und der König sah kommen, was kommen musste – Schwarz würde
verlieren, früher oder später.
Und er würde niemals erfahren, weshalb
Eomer wirklich mit diesem Wunsche an ihn herangetreten war.
Also galt es
abzuwägen: Ein Spiel zu verlieren, das in den letzten Jahren nie von ihm
verloren wurde, und ein guter Verlierer zu sein und zu erfahren, weshalb der
blonde Ritter wirklich wünschte, ihn zu sehen und was genau er von ihm begehrte,
oder zu gewinnen, die Oberhand zu behalten, wie alle diese Jahre zuvor,
siegreich, aber nicht wirklich zufrieden.
Balduin beschloss einen
fatalen Fehler zu machen und seine Dame war dahin und sein weißer König stand
ohne Schutz da. Er spürte, wie es in ihm stach – es fiel ihm nicht leicht – doch
er musste es tun. Eomer lächelte, als er den weißen König umzingelt
hatte.
„Schach, mein König – Schach matt. Ihr habt verloren.“
Sein Lächeln war triumphierend und Balduin schluckte verstohlen, doch er
hatte nicht umsonst geopfert, das wusste er. Manchmal musste man einen sicheren
Sieg verloren geben, um mehr zu gewinnen.
„Ihr habt gewonnen, Eomer, Ihr
habt meinen Beifall. Doch – Ihr dürft, als Sieger, nun einen Wunsch äußern. Es
sei Euch frei gestellt, Ihr habt mein Wort, ich werde ihn erfüllen, wenn es in
meiner Macht steht, und ich traue Euch zu, nur Wünsche zu äußern, die in meiner
Macht stehen.“
Eomer lächelte. „Natürlich, mein weißer König. Und es ist
so einfach wie billig – denn nur eines begehre ich von Euch – seitdem ich Euch
das erste Mal begegnete, mit klarem Verstande.“
Der König wartete.
Aufrecht sitzend, mit leicht geneigtem Kopfe, fast regungslos, seine Hände mit
dem Handschuhen um die Lehnen seines Sitzes geschlungen.
Eomer nahm
wieder diese unglaublich blauen Augen wahr. Blau wie ein Herbsthimmel, ohne
Wolken. Blau wie – wie... wie....
„So sprecht. Es wird Euch gewährt
werden.“
„Es wird mir gewährt. Wohlan denn. Ich wünsche, Euer Gesicht zu
sehen. Nehmt Eure Maske ab. Mir gegenüber, ich bitte Euch. Ein einziges Mal. Ich
kenne die Gebräuche Eures Volkes nicht, ich weiß nicht, warum der König sein
Gesicht verhüllt.“
Balduin zuckte sichtbar zusammen.
„Mein edler
Ritter...“ sagte er, sehr leise, „dies ist der einzige Wunsch, den ich Euch
nicht erfüllen kann.“
„Ihr habt es versprochen!“
Eomers braungrüne Augen blitzten trotzig und
enttäuscht zugleich auf und er verschränkte seine Arme vor seiner breiten Brust.
Balduin lehnte sich zurück, stöhnte leise, unhörbar.
Wie sollte
er seinem Gast erklären, was sich unter seiner Maske befand? Bis jetzt hatte er
noch kein einziges Wort verlautbaren lassen. Und er konnte sich ausdenken, was
für Folgen dies haben würde. Jetzt schon sah er es ja – Eomer zog sich zurück,
wollte nicht mehr in seiner Gesellschaft sein, zog die des Raymond vor, was den
König sehr schmerzte, doch ändern konnte er es nicht. Und wenn der Ritter erst
die Wahrheit erfahren würde – dann wäre alles vorbei, jeglicher
freundschaftliche Umgang, einfach alles. Ja, der Ritter würde sich im Gegenzug
fürchten, sich auch mit der tödlichen Krankheit angesteckt zu haben und ihn
dafür verantwortlich machen.
Aber er war in einer Sackgasse, er musste
sich nun offenbaren.
So entschied er sich für die Wahrheit.
„Ich
kann Euch mein Gesicht nicht zeigen, Eomer. Es ist eine Krankheit, die mich
entstellt, die mein Gesicht vernichtet hat, keine Eitelkeit, die mich dazu
bewegt, diese Maske zu tragen. Es ist der Schutz vor der Sichtbarkeit meines
Elends und es ist der Schutz vor dem Elend, vor der Ansteckung, denn die
Krankheit, die ich in mir trage, ist übertragbar und tödlich. Verzeiht mir, wenn
ich Euch diesen Wunsch nicht erfüllen kann, doch es ist zu Eurem Besten, edler
Ritter. Es tut mir Leid.“
Eomer stand auf, das Schachbrett mit sich
reißend, die holzgeschnitzten Figuren fielen auf den Boden.
„Ich glaube
Euch KEIN Wort, König! Ihr lehnt es ab, mir Euer Gesicht zu zeigen, weil Ihr zu
hochmütig seid! Ich soll Euch nicht sehen, Ihr seid zu weit über mir, so ist es
doch! Noch nie habe ich von solch einer Krankheit gehört, und schon gar nicht,
dass ein König wie Ihr davon befallen ist! Ihr sprecht nicht die Wahrheit, König
Balduin, schämt Ihr Euch denn gar nicht?“
Balduin sank in seinem Sessel
zusammen und schwieg, dann bedeutete er mit einer seiner behandschuhten Hände
Eomer wieder Platz zu nehmen.
„Nun gut, Ihr fordert einen Beweis, den
sollt Ihr erhalten. Aber wappnet Euch gut, der Anblick ist nicht schön. Ihr
werdet meine Hand sehen, anstelle meines Gesichtes, dessen Gegenwart ich
niemandem zumuten kann. Selbst die Spiegel sind verhängt, dass ich selbst nicht
sehen muss, was aus mir geworden ist. Die Krankheit heißt Aussatz, oder Lepra,
und sie zerfrisst mein Fleisch. Ich muss nicht sehen, wie ich aussehe, ich kann
es mir denken. Manchmal erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild, wenn der
Arzt mich wäscht, dann sehe ich mich im Wasser. Und ich sehe mich nicht mehr,
das bin ich nicht. Es ist eine Krankheit, wie sie auch schon in der Bibel steht,
und die Menschen, die sie haben, müssen von den anderen getrennt werden, die
gesund sind, so sagt es Rom. Doch ich denke nicht daran, ich bin der König von
Jerusalem, und hier hat Rom keine Macht. Doch, seht her, als Beispiel....“
Und Balduin zog vorsichtig seinen linken Handschuh aus und Eomer starrte
entsetzt auf die Hand, die von Geschwüren übersät war, voller unglaublich
schmerzhaft aussehender Wunden, die sichtbar mit einer Medizin bestrichen waren,
und den Ring des Königs, der fast spottend ob der Umgebung auf dem Ringfinger
saß, mit einem roten Stein geziert, der so rot war wie das Blut des Königs.
„Bei allem Valar....“ flüsterte Eomer und bedeckte seine Augen. „Ihr
müsst furchtbare Schmerzen leiden.“
Balduin schüttelte den Kopf, als er
seine Hand wieder in den Handschuh steckte. „Nein, Eomer, ganz im Gegenteil, das
bringt diese Krankheit mit sich – dass ich gar nichts mehr fühle. Das Gefühl
stirbt als erstes. Ich fühle – nichts. Es tut nicht weh. Es ist einfach nur –
nichts. Ich kann mich nicht erinnern, wie es sich anfühlt, etwas zu spüren. Es
ist taub, als ob es gar nicht da wäre.“
„Es tut mir so leid für Euch,
Balduin.... und es ist nicht heilbar, durch gar nichts?“
Balduin nickte.
„Durch gar nichts. Es ist eine Krankheit, die zum Tode führt. Und sicherlich
erspart Ihr mir nun die Erfüllung Eures Wunsches, denn Ihr könnt Euch denken,
wie mein Antlitz aussieht, nun, da Ihr einen Blick auf meine Hand geworfen
habt.“
Eomer spürte, wie ihm Tränen aufstiegen.
Dann stand er
auf und sah Balduin von oben herab an, lange Zeit. Die fragile Gestalt, in weiße
Roben aus Seide gehüllt, reich bestickt, die Silbermaske, so schön und nun so
schrecklich. Die blauen Augen, die ihn fragend ansahen.
Und Eomer kniete
nieder vor dem König von Jerusalem, nahm dessen behandschuhten Hände in die
seinen.
„Ich möchte Euch Königskraut auflegen, mein König. Bitte erlaubt
es mir, Euch das Kraut aufzulegen.“
Balduins Augenwinkel zuckten, er
lächelte.
„Welch liebe Idee, Eomer. Erlaubt mir eine Nacht darüber
nachzudenken.“
Balduin stand auf, seine rechte Hand berührte kurz seine
Stirn und sein Herz.
„Salam aleikum, Eomer – ich werde Euch morgen rufen
lassen und Euch meine Entscheidung mitteilen.“
Balduin
wälzte sich auf seinem Nachtlager hin und her.
Eomer wollte ihm also
Königskraut auflegen. Welch schöne Idee, welch reizende Geste, doch leider so
vollkommen unnütz. Sicherlich dachte Eomer daran, dass Glauben Berge versetzen
könnte und es sicherlich auch bei einem König selbst wirken könnte, selbst wenn
kein König es auflegte, aber –
Balduin kam ein Gedanke.
Selbst
wenn es nichts bringen würde – was sicherlich der Fall wäre – so wäre dies doch
eine Gelegenheit, Eomer nahe zu sein, wenngleich das erste und das letzte Mal.
Es war ihm nicht entgangen, dass Eomer die Nähe zu Raymond suchte und sicherlich
musste es sehr schön sein, von Eomers Händen, vielleicht sogar in den Arm
genommen zu werden – wann hatte ihn das letzte Mal ein Mensch umarmt ohne Angst,
wann war er das letzte Mal berührt worden, außer von einem Arzt? Dies wäre die
einmalige Gelegenheit. Der Ritter würde sich danach so abgestoßen fühlen, dass
er ihm nie wieder nahe kommen würde, aber dieses eine Mal... vielleicht würde
Eomer ihn ja umarmen, ihn ein wenig von seiner Wärme spüren lassen, und dieses
wäre es wert, für das würde Balduin dieses Spiel mitmachen, das so hoffnungslos
wie grausam war, wenn man es bei Tageslicht betrachtete. Zum Glück machte er
sich keinerlei Hoffnungen, aber er würde Eomer dies gewähren – als Preis für
seinen Sieg. Und als Preis für seine mitleidigen, barmherzigen Gedanken. Ja, er
wusste durchaus darum, dass manche christlichen Ritter es als Zeichen besonderer
Bußfertigkeit ansahen, Leprakranke zu berühren und zu pflegen, warum also nicht
Eomer. Er würde es erlauben, ja, unter diesen Umständen, warum nicht.
Der Morgen kam und Balduin ließ Eomer in sein Gemach rufen.
Voller
Hoffnung sah Eomer den König an.
„Ihr habt Euch entschieden, König
Balduin? Sicherlich erlaubt Ihr es mir.“, sagte er zuversichtlich.
„Sicherlich erlaube ich es Euch, Eomer, an meinen Händen. Ich möchte
Euch nach wie vor meinen Anblick ersparen. Aber ich möchte Euch damit zeigen,
dass ich Euch vertraue und Eure Geste, Eure Barmherzigkeit zu schätzen weiß,
wenngleich mir bewusst ist, dass es Euch zutiefst abstoßen muss. Wann wollt Ihr
es tun?“
Eomer lächelte.
„Jetzt gleich, König, lasst uns nicht
zögern, bringt das Kraut heran, auf dass ich es Euch auflege auf Eure Hände. Ihr
glaubt nicht daran, dass es eine Wirkung haben könnte, nicht wahr?“
Balduin hielt seinen Kopf schief, ohne zu antworten, er wollte den
blonden freundlichen Mann nicht verärgern, stattdessen begann er unbeholfen den
Handschuh seiner rechten Hand auszuziehen.
Ein Diener brachte frisches
Königskraut und Eomer setzte sich neben Balduin, der ihm wie ein verletztes Tier
seine Hand entgegenhielt, in angemessenem Abstand.
„Ihr habt genug
gelitten...“ flüsterte Eomer und nahm das Basilikum, riss es klein und legte es
auf die versehrte Hand des Königs.
Und Balduin starrte ihn durch seine
silberne Maske an, mit einer Mischung aus Erstaunen, Entsetzen und
Ungläubigkeit.
Denn seine rechte Hand brannte wie pures Feuer.
„Was veranstaltet Ihr hier mit mir, Eomer?“ fragte Balduin, kaum noch seiner
Sprache mächtig, und Eomer hielt seinen Arm fest, hielt die Hand, die sich vor
ihren Augen veränderte.
Sie wurde rosenfarben, dann schlossen sich die
Wunden und nach einigen wenigen Momenten umgab neue, gesunde Haut die Hand, die
Nägel schienen perlmuttfarben, schöne wohlgeformte Finger lagen in Eomers Hand,
der sie lächelnd ansah und das überschüssige Königskraut abwischte.
„Könnt Ihr das fühlen?“ fragte Eomer und strich vorsichtig mit einem
Finger über den Handrücken, auf dem wenige feine blonde Härchen wuchsen.
„Ja...“ flüsterte der König und schloss seine Augen, um sie wieder zu
öffnen und der Täuschung nicht mehr anheimzufallen, doch auch jetzt war die Hand
geheilt und sauber und ohne jegliche Vernarbung.
„Das kann nicht
sein...“ sagte er dann und Eomer lächelte. „Doch, es kann, mein König. Und Ihr
hättet Euch viele Tage und Wochen Qual erspart, hättet Ihr Euch gleich
geoffenbart. Hätte ich um Eure Krankheit gewusst, hätte ich Euch längst
vergelten können, was Ihr an mir getan habt.“
In Balduins regem Geist
begann es zu arbeiten und er schloss das Unvermeidliche.
„Also seid auch
Ihr ein König, Eomer.“
Eomer nickte. „Ja, einst war ich ein König, in
dem Lande, für das ich kämpfte. Man nennt es Rohan, das Land der Pferdeherren.
Aber nun wurde ich zu Euch gesandt, durch eine Macht, die ich nicht verstehe,
und nun bin ich Euer Diener, und ich bin es gerne, König Balduin. Aber auch ich
bin ein König, das ist wahr. Und ich kann Euch heilen, endlich. Ihr werdet
gesund sein, durch meine Hände, wie ich durch Eure Hände genesen bin. Ich
schulde Euch mein Leben, nun bezahle ich mit dem schönsten Gegenpreis, den ich
Euch leisten kann, mit Eurem Leben. Ihr werdet leben.“
„Ja, durch Eure
Hände...“ murmelte Balduin und begann, die Bandage, die seinen rechten Arm
umgab, zu lösen.
„Dann tut es, König Eomer. Ich bitte Euch darum. Heilt
mich.“
Und Eomer legte zunächst dem einen,
dann dem anderen Arm das Königskraut auf und die Wunden schlossen sich, neue
Haut bedeckte die Gliedmaßen des Königs, dessen Herz aufgeregt schlug, und der
nicht aufhören konnte sich anzusehen.
Nie mehr Handschuhe, nie mehr
Bandagen...
Und Eomer sah ihn lächelnd an, als beide Arme und beide
Hände geheilt waren.
„Wo, mein König, tragt Ihr noch die Spuren dieser
Krankheit, außer an Euren Händen? Und Eurem Antlitz...?“
Balduin
zögerte, dann antwortete er leise: „An meinen Füßen und meinen Beinen. Der Rest
meines Körpers ist verschont geblieben, noch. Wollt Ihr...“
„Ja, ich
will, jetzt, und heute, alles, mein König. Wenn ich schon dabei bin, warum
solltet Ihr länger leiden als nötig.“
Balduin senkte den Kopf. „Weil es
hell ist. Weil ich mich schäme. Weil – weil es so furchtbar aussieht, versteht
Ihr?“
Eomer nickte. „Ja, aber wichtiger ist doch, dass Ihr heil werdet.
Lasst mich Eure Füße sehen, Eure Beine, wenn Ihr Euch noch nicht traut, mir Euer
Antlitz zu zeigen. Und ich bin sicher, es wird mich nicht abstoßen noch
erschrecken, vielmehr werde ich mich freuen, Euch zu sehen, wie Ihr sein werdet,
und ich bin mir sicher, wenn Euer Gesicht nur ein Teil der Schönheit Eures
Herzens widerspiegelt, dann seid Ihr ein wunderschöner Mann. Vertraut mir.“
„Lasst mich einen Vorschlag machen, Eomer. Die Beine und die Füße... nun
gut, jetzt, so soll es sein. Doch mein Gesicht in der Nacht, wenn keine Kerze
brennt und kein Feuer meine Schmach erleuchtet – wenn ich die Maske ablege,
wünsche ich nicht, dass Ihr mich seht. Oder verbindet Euch die Augen, wie Ihr
wünscht, aber seht mich nicht an in meinem Elend. Kommen wir überein?“
Eomer sah in das silberne Gesicht des Königs, aus dem die blauen
Saphiraugen strahlten. Welche Haarfarbe er wohl haben mochte... und wie seine
Lippen wohl aussähen...?
Nach einer kurzen Zeit des Bedenkens willigte
Eomer ein: „Wir kommen überein. Meine Augen sollen verbunden werden, doch lasst
uns endlich beginnen. Noch heute werdet Ihr ohne jegliche Maske und ohne
jeglichen Verband sein, und von heute an nie mehr so etwas brauchen. Eilt Euch,
legt die Verbände Eurer Beine und Knie ab, hoch mit dem Gewand!“
Balduin
lächelte – was Eomer wieder an den Augenwinkeln erkannte – und tat, wie es ihm
der König von Rohan geheißen hatte.
Und dann stand er auf.
Auf
eigenen, sicheren, fühlenden Füßen und Beinen.
Seine Hände glitten
herab, an sich selbst, spürten die kühle weiße Seide, die Textur des Stoffes,
die Muster, die sich abhoben, aufgestickt.
Er fasste sich an die
silberne Maske, ertastete die Konturen, konnte die Wärme fühlen, die das Metall
ausstrahlte, aufgeheizt von seinem Gesicht.
„Ich kann alles fühlen...“
flüsterte er und lächelte, noch unsichtbar für Eomer.
„Gut... nun
verbindet Euch die Augen. Denn ich möchte nicht, dass Ihr mich seht. Nicht so.
Behaltet die Maske in Erinnerung – und seid mit mir zusammen gespannt zu sehen,
wie mein Äußeres ist – möge es Eurem Auge angenehm sein.“
Eomer
verbeugte sich, ergriff ein Stück Stoff, das auf dem Tische lag und für die
Mahlzeiten als Serviette dienen sollte, und band es sich in einem breiten
Streifen um die Augen.
„Nun müsst Ihr mich geleiten, König. Ich bin
blind und unbeholfen, Ihr müsst mir das Königskraut in die Hände legen – und
meine Hände zu Eurem Gesicht führen.“
Balduin zögerte kurz, doch dann zerkleinerte er das Königskraut und legte es
Eomer in die offenen Hände.
Der würzige Geruch war fast betäubend und
nun sollte es sein. Der Moment, von den Balduin nicht einmal in seinen kühnsten
Träumen je zu ersehnen gehofft hatte. Er würde gesund werden. Sein Gesicht –
würde wieder sein. Keine Maske mehr. Nie mehr.
Er nahm die Maske ab.
Seine Hände waren warm und er sah die Innenseite der Maske an, berührte
sie.
Nie mehr, dachte er, und dann wickelte er die Bandagen ab, die
teilweise sein Gesicht bedeckten.
Dabei berührte er sich und er erschrak
bei dem, was er spürte.
Das Ausmaß seiner Krankheit war schlimmer als er
dachte.
Hoffentlich merkte Eomer nichts davon.
Balduin nahm
Eomers Hände in die seinen, streichelte sie sanft, und dann legte er sich in den
Stuhl, das Gesicht nach hinten, damit die Kräuter auflegen konnten, und führte
Eomers Hände auf sich.
Berühr mich nicht, dachte er, doch Eomers Finger
hatten schon längst begonnen, sein zerstörtes Gesicht zu streicheln und Balduin
spürte, wie Tränen seine Wangen herabliefen –
Und in diesem Moment
wusste er, dass Eomer es geschafft hatte.
Die Taubheit war weg und
Balduin griff nach Eomers Händen, streifte sie ab von sich, und ertastete sein
Gesicht.
Keine Spur mehr von all dem, was er vorhin gespürt hatte.
Glatte, weiche Haut, ohne einen Anflug von Bart noch – oh, er würde sich
rasieren müssen, endlich! – und seine Nase – sein Mund -----
„Ihr dürft
Eure Augenbinde abnehmen....“ flüsterte Balduin und bedeckte sein Gesicht
vorsichtig mit seinen Händen.
Und Eomer nahm die Stoffbinde ab, um
Balduin anzusehen, der langsam seine Hände fortzog.
Er sah einen jungen
Mann mit heilem und ebenmäßigem Gesicht, dessen Nase hervorsprang, gerade und
schön, mit vollen und sinnlichen Lippen, einer hohen und klaren Stirn,
schulterlangen, gewellten, hellbraunen Haaren mit einem Ton von rotem Golde und
den blauesten Augen, die er jemals an einem Menschen gesehen hatte.
„Wie....?“ fragte Balduin vorsichtig und Eomer lächelte.
„Wunderschön. Schöner als Eure Maske, mein König, noch schöner, als ich
es mir vorstellte.“
‚Du erinnerst mich an – Liebe....’ dachte Eomer, und
sein Herz zog sich zusammen, denn nun wusste er, an wen ihn die blauen Augen
erinnert hatten. Nun noch mehr, denn Balduin sah IHM ähnlich, wenngleich die
Haare dunkler waren.
Ob er IHN jemals wieder sehen würde....? Er wusste
ja nicht einmal, wie er HIERHER gekommen war, geschweige denn, wie er wieder
zurück – falls man das so sagen konnte – kommen könnte. Vielleicht würde er hier
bleiben müssen, oder bleiben wollen. An der Seite dieses.... dieses....
Balduin lächelte und die Sonne ging in Eomers Herzen auf.
Er
konnte sich Schlimmeres vorstellen als an der Seite dieses wundervollen Königs
zu bleiben.
„Es wird Zeit, dass Ihr Euch betrachtet, Balduin. Soll ich einen Spiegel kommen
lassen?“
„Nein, wartet – ich möchte – ich möchte – ein kleiner Scherz,
Eomer, seht es mir nach, aber ich möchte unerkannt durch Jerusalem gehen, ich
war seit Jahren nicht mehr unterwegs. Begleitet mich. Wir gehen durch die
Straßen, setzen uns in eine Schenke, sprechen miteinander und mit den Menschen,
und keiner wird ahnen, wer wir sind. Ich möchte mich umkleiden. Raus aus diesen
Gewändern, rein in irgendetwas Unauffälliges. Und die Gelegenheit, mich zu
sehen, werde ich haben. Ich werde mich in den Gesichtern der Menschen spiegeln,
Eomer. In ihren Blicken, die mich nicht entsetzt oder gar erschrocken oder
mitleidig ansehen. Ich werde gar nicht auffallen, Eomer! Sie werden mich nicht
bemerken.“
‚Wer könnte DICH NICHT bemerken...’ dachte Eomer, als er in
das wache und klare Gesicht Balduins sah. ‚Wer könnte von deiner Schönheit
ungerührt bleiben... aber gut, denke nur, keiner wird dich bemerken, du wirst
schon sehen.... es soll so sein, wie du es willst.’
„Gerne begleite ich
Euch auf diesem Ausfluge. Und ich kann mir gut vorstellen, dass es Euch gut tun
wird, dass es eine Genugtuung sein wird für all die Jahre, die Ihr verborgen
lebtet. Ich freue mich so für Euch, Balduin, König.“
Balduin lächelte
spitzbübisch und Eomer wurde zum ersten Male bewusst, wie jung der König war.
Dann beugte sich Balduin vor und bevor Eomer überhaupt wusste, wie ihm
geschah, hatte ihm der junge Mann einen Kuss auf die Stirn gehaucht.
„Ich verdanke dir so viel, Eomer...“ sagte Balduin leise, dann wandte er
sich mit einer Energie und einer Kraft um, die Eomer noch nie an dem König
gesehen hatte, und zog den verblüfften Rohirrim hinter sich in eine
Kleiderkammer, die Eomer noch nie betreten hatte.
„Berate mich, Eomer,
was ich tragen soll. So unauffällig wie möglich, so schlicht wie passend.“
Er war wie ein kleiner Junge und so
unauffällig, als trüge er eine scharlachrote Tunika mit der Aufschrift „Nicht
von dieser Welt“. Eomer lächelte heimlich, als Balduin staunend und mit offenem
Munde auf den Straßen und Gassen Jerusalems – seiner Stadt! – umherging und an
jedem Stand stehen blieb, alle Dinge eingehend ansah und untersuchte, anfasste
und streichelte. Kein Pferd blieb von ihm verschont, kein Ziegenköpfchen, das er
nicht kraulte, kein Hund, vor dem er sich nicht herabbeugte und Bekanntschaft
mit dem Tier schloss. Und immer wieder suchte er Eomers Nähe, griff nach seinem
Arm, seiner Hand, lachte und zog den König von Rohan weiter, noch tiefer herein
in die Stadt, begleitet von Hunderten von Blicken, die die beiden ungleichen
Männer streiften, länger auf ihnen weilten, sie verfolgten.
Niemand
hätte gedacht, dass der junge Mann in der grünen Tunika und den schwarzen
Beinlingen, dessen hellbraune Haare sich sanft in der Wüstenbrise bewegten und
dessen blaue Augen so lebendig leuchteten, der König selbst war, Balduin IV, bis
jetzt bekannt als „der Aussätzige“, der einzige lebende Mensch, der sich jemals
Salah-ad-Din, dem Sultan der Sarazenen, erfolgreich widersetzt hatte. Und nun
konnte man ahnen, wie es ihm gelungen war, damals – die unbändige Energie
strömte aus jeder seiner Poren, Balduin war die Inkarnation von Lebensfreude und
Kraft, und Eomer staunte über diese Verwandlung des gestern noch siechen und
leidenden Königs mit der silbernen Maske, der nicht in der Lage war selbst zu
gehen in manchen Stunden, dessen Hände und Füße so geschädigt waren von der
Krankheit, dass sie ihm den Dienst versagten.
Jerusalem würde nun
aufblühen, dachte Eomer, und er war gespannt, was Balduins engster Freund,
Raymond, zu dieser Verwandlung sagen würde, und Sybilla, seine Schwester, die er
bislang nur kurz erblickte, denn auch sie hatte begonnen, sich zurückzuziehen in
letzter Zeit.
Balduin hatte einen Geschäftsstand mit kandierten Früchten
entdeckt und der Händler ließ ihn von jeder Spezialität kosten, was den jungen
König sichtlich entzückte.
„Was muss ich tun, um von Euch einen großen
Beutel dieser getrockneten Aprikosen zu bekommen?“ fragte Balduin und der Mann
lachte. Eomer verfolgte die Szene im Hintergrund, bereit, seine Münzen zu
lassen, denn Balduin hatte in der Eile und in seiner Unerfahrenheit natürlich
Geld vergessen – Münzen, die er selbst hatte prägen lassen, die seinen Namen
trugen.
„Mir fiele durchaus etwas ein, was du tun könntest, um einen
großen Beutel zu bekommen!“ sagte der Mann hinter dem Stand und sein Grinsen
wurde anzüglich. Eomer klangen die Ohren, er wusste, auf was der Verkäufer
anspielte, und es war ihm mehr als klar, dass dies am heutigen Tage früher oder
später kommen musste. Der junge König sah zu frisch aus, zu unverdorben, zu
knabenhaft. Eomer hielt sich wachsam im Hintergrund, wollte noch nicht
eingreifen, wollte Balduin selbst eine Erfahrung machen lassen.
„Oh, und
was, wenn ich Euch fragen darf?“ entgegnete Balduin, leicht amüsiert durch die
Tatsache, dass der Mann ihn duzte.
Der Mann beugte sich vor. Er war ungefähr 15 Jahre älter als der König und
offenbar aus Griechenland, seinem Akzent und seiner Kleidung nach. Ein
Levantiner, möglicherweise auch aus Konstantinopel. „Ein hübscher Knabe wie du,
der hat immer etwas dabei, was einen Kaufmann wie mich dazu bewegt, ihm die Ware
auch ohne klingende Münze zu überlassen. Du könntest mich auf meiner
Mittagspause begleiten und mich – erleichtern, wenn du weißt, was ich meine.
Deine Hand oder dein Mund wird gute Dienste leisten,“ –
Der Mann kam
nicht dazu, weitere Vorschläge zu machen, denn nun griff Eomer ein, er hatte
genug gehört. Vollkommen überrascht sah Balduin, wie Eomer den Mann am Kragen
packte und schüttelte.
„Du wirst nun einen SEHR großen Beutel Aprikosen
einpacken und die Feigen noch dazu! Eile dich, bevor mir mein Schwert gute
Dienste leisten wird!“
„Aber Eomer!“ lachte Balduin, einige Meter
weiter, auf einer weichen Aprikose kauend, „Du kannst aber harsch sein. Und ich
verstehe nicht einmal, weshalb du so gehandelt hast, es wäre doch sicherlich
interessant gewesen zu erfahren, welche weiteren Handelsübereinkommen mir dieser
Mensch vorgeschlagen hätte!“
Eomer sah den jungen König mit einer
Mischung aus Überraschung und Entsetzen an. „Aber, König, wisst Ihr denn nicht,
was er meinte? Ich denke – so unschuldig könnt Ihr nicht sein, dass Ihr dies
nicht wisst. Und bedenket, er ist einer Eurer Untertanen, er hat sich
erdreistet!“
Balduin schluckte und leckte sich genüsslich über die
Lippen. „Zunächst, Eomer, König, wisse, dass ich dir gewähre, dass du mich mit
‚du’ ansprichst. Du hast mich geheilt, gerettet, du hast mich so beschenkt wie
mich einst nur meine Eltern beschenken konnten, mit meinem Leben, mit einem
gesunden Leben. Ich verdanke dir – alles. Ich danke dir. Dafür gibt es keine
Worte. Es ist jenseits des Sagbaren. Zum zweiten, wisse, dass ich vielleicht
unschuldiger bin als du vermutest. Die Krankheit hat mich bereits im Kindesalter
geschlagen und ich wurde mit 13 zum König, bereits leprakrank. Was erwartest du,
Eomer? Ich weiß einige Dinge nur aus zweiter oder gar dritter Hand. Niemand hat
es für nötig erfunden mir einige Tatsachen des Lebens zu erklären. Ich habe
einiges selbst heraus gefunden, durch das Lesen der Heiligen Schrift, die fast
für alle Lebenslagen einen weisen Spruch oder eine weise Geschichte hat, aber
manch anderes ist mir noch nicht ganz klar. So hab Erbarmen mit mir, ich beginne
gerade erst zu leben. Und gönne mir das Vergnügen, unerkannt zu sein und wie
einer aus dem Volke, dies war mein Wunsch für jetzt und nie wieder wird es so
sein. Doch sage mir, was genau meinte der Händler mit ‚erleichtern’ und meinen
Händen, meinem Mund?“
Eomer spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss
und er öffnete seine Lippen, um sie sofort wieder zu schließen. DAS konnte er
hier und jetzt, auf der Straße, zwischen den Verkaufsbuden, einem genüsslich
getrocknete Früchte kauenden König Balduin von Jerusalem schlecht erklären.
Aber Balduin insistierte und Eomer blieb nichts anderes übrig als einen
Erklärungsversuch zu starten und so beugte er sich vor und flüsterte dem jungen
König ins Ohr, was dieser zu erfahren begehrte, und Balduin verschluckte sich
derartig an einem Bissen, dass Eomer ihm auf den Rücken klopfen musste, um ihn
vor dem Ersticken zu bewahren.
Puterrot und immer noch außer Atem
antwortete Balduin dann: „Du scherzt, Eomer, du scherzt. Du kannst mir alles
erzählen – aber DAS doch nicht, das ist ein guter Scherz, und beinahe hätte ich
es geglaubt!“
Der Rohirrim schüttelte den Kopf, während er schmunzelte.
Der König war wirklich unschuldigst.
„Nein, Balduin, ich scherze nicht,
das ist die Wahrheit, die du wissen wolltest. Es ist wirklich so, wie ich es dir
schilderte, glaub es mir.“
Balduin holte Luft. „Aber – das geht doch
nicht, das kann man doch nicht tun! Ich meine – das ist – das ist unschicklich.
Das geht nicht. Oder – oder hast du es schon einmal getan? Ich meine – du
brauchst es mir nicht zu sagen, aber du und Raymond, also,...“ ein weiterer
Hustenfall krümmte den jungen König und er steuerte auf einen Stand zu, der
Getränke feilbot.
Eomer erwarb zwei Becher roten Weines und Balduin
trank hastig, um seiner Aufregung und seines Hustens Herr zu werden.
„Also, es ist so, du sprichst wahr?“ fragte er danach und Eomer nickte.
„Aber, was Raymond angeht und mich, so ist es nicht der Fall, Balduin, was
denkst du denn. Aber ich weiß um diese Dinge, und um der Wahrheit die Ehre zu
geben, sie sind mir auch nicht fremd.“
„Nun gut...“ murmelte Balduin,
der merkte, wie ihm Schamesröte ins Gesicht stieg. „Wollen wir dieses Thema
nicht weiter vertiefen, es ist mir peinlich, weißt du.“
Eomer nickte
wieder und seine Gedanken schweiften ab, zu einem Wesen mit himmelblauen Augen
und goldenen langen Haaren, dem solche Dinge nicht peinlich waren. Doch würde er
IHN jemals wieder sehen?
Er konnte nicht damit rechnen, so musste er mit
dieser seiner Lage so gut wie möglich klar kommen. Und Balduin war, das erkannte
er, nicht mehr als ein Knabe, was diese Dinge anging.
Und er hatte nicht
mit einem anderen Hindernis gerechnet, so groß, wie es größer nicht sein konnte.
Denn am gleichen Abend sah er Balduin in seinem Gemach – sie hatten sich
heimlich hereingeschlichen, niemand hatte den König bislang gesehen -, und
Balduin blätterte in einem sehr dicken alten Buche.
Mit nachdenklich gekräuselter Stirne las der König vor:
4Aber ehe sie
sich legten, kamen die Männer der Stadt Sodom und umgaben das Haus, jung und
alt, das ganze Volk aus allen Enden, 5aund riefen Lot und sprachen zu ihm: Wo
sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns,
daß wir uns mit ihnen vergnügen. 6Lot ging heraus zu ihnen vor die Tür und
schloß die Tür hinter sich zu 7und sprach: Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel!
8Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich
herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern
tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen. 9Sie
aber sprachen: Weg mit dir! Und sprachen auch: Du bist der einzige Fremdling
hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich noch übler plagen als jene.
Und sie bdrangen hart ein auf den Mann Lot. Doch als sie hinzuliefen und die Tür
aufbrechen wollten, 10griffen die Männer hinaus und zogen Lot herein zu sich ins
Haus und schlossen die Tür zu. 11Und csie schlugen die Leute vor der Tür des
Hauses, klein und groß, mit Blindheit, so daß sie es aufgaben, die Tür zu
finden. 12Und die Männer sprachen zu Lot: Hast du hier noch einen Schwiegersohn
und Söhne und Töchter und wer dir sonst angehört in der Stadt, den führe weg von
dieser Stätte. 13Denn wir werden diese Stätte verderben, weil adas Geschrei über
sie groß ist vor dem HERRN; der hat uns gesandt, sie zu verderben. 14Da ging Lot
hinaus und redete mit den Männern, die seine Töchter heiraten sollten: Macht
euch auf und bgeht aus diesem Ort, denn der HERR wird diese Stadt verderben.
Aber es war ihnen lächerlich. 15Als nun die Morgenröte aufging, drängten die
Engel Lot zur Eile und sprachen: Mach dich auf, nimm deine Frau und deine beiden
Töchter, die hier sind, damit du nicht auch umkommst in der Missetat dieser
Stadt. 16Als er aber zögerte, ergriffen die Männer ihn und seine Frau und seine
beiden Töchter bei der Hand, weil der HERR ihn verschonen wollte, und führten
ihn hinaus und ließen ihn erst draußen vor der Stadt wieder los. 17Und als sie
ihn hinausgebracht hatten, sprach der eine: Rette dein Leben und sieh nicht
hinter dich, bleib auch nicht stehen in dieser ganzen Gegend. aAuf das Gebirge
rette dich, damit du nicht umkommst! 18Aber Lot sprach zu ihnen: Ach nein, Herr!
19Siehe, dein Knecht hat Gnade gefunden vor deinen Augen, und du hast deine
Barmherzigkeit groß gemacht, die du an mir getan hast, als du mich am Leben
erhieltest. Ich kann mich nicht auf das Gebirge retten; es könnte mich sonst das
Unheil ereilen, so daß ich stürbe. 20Siehe, da ist eine Stadt nahe, in die ich
fliehen kann, und sie ist klein; dahin will ich mich retten - ist sie doch klein
-, damit ich am Leben bleibe. 21Da sprach er zu ihm: Siehe, ich habe auch darin
dich angesehen, daß ich die Stadt nicht zerstöre, von der du geredet hast.
22Eile und rette dich dahin; denn ich kann nichts tun, bis du hineinkommst.
Daher ist diese Stadt Zoar genannt. 23Und die Sonne war aufgegangen auf Erden,
als Lot nach Zoar kam. 24Da ließ der HERR Schwefel und Feuer regnen vom
Himmel herab auf Sodom und Gomorra a 25und vernichtete die Städte und die ganze
Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.
„Eomer“, fragte er danach, „Eomer, sag mir. Wenn Gott der Herr Sodom
und Gomorrha vernichtet hat wegen der Sünde der Männer, die sich mit anderen
vergnügen, so wie du es mir heute beschrieben hast, wird auch Jerusalem
vernichtet werden, mit Schwefel und Feuer beregnet, wenn in meiner Stadt solche
Dinge geschehen?“
Eomer starrte den König fassungslos an. „Wie bitte?“
fragte er nach einer Pause des Entsetzens, denn noch nie hatte er von solchen
Ungeheuerlichkeiten gehört.
Balduin zeigte auf das offene Buch. „Der Herr vernichtet Sodom und Gomorrha, das
sind Städte, nicht weit von hier. Und der Grund steht hier: Weil sich Männer mit
Engeln vergnügen wollten, also solche Dinge machen, wie du sie mir vorhin auf
dem Marktplatz geschildert hast. Ich wusste doch, dass ich davon schon gehört
hatte, nur war mir nicht bewusst, wie schlimm das wirklich ist, oder was die
Männer da nun genau tun. Liegt das nun daran, dass es Engel waren, die die
Männer haben wollten, oder dass es Männer waren, die Männer begehrt haben? Auf
jeden Fall will ich nicht, dass Jerusalem brennt. Oder dass Salah-ad-Din kommt,
womöglich, von Gott geschickt, um uns für unsere Sünden zu strafen.“
„Was sind Engel, Balduin, und was ist eine Sünde? Und von welchem Herren
sprichst du andauernd, bist nicht du der Herr Jerusalems?“
Nun war es
Eomer, der der Aufklärung bedurfte, und so entsetzt wie ungläubig hörte er sich
an, was Balduin erzählte. Nein, das war nicht seine Welt, ein Vater, der den
Sohn tötete, damit die gerettet werden, die Böses taten, und auch die
Begrifflichkeit des Bösen an sich blieb ihm verwehrt, denn wenn es als böse
galt, wenn ein Mann einen Mann liebte, dann schwammen ihm sämtliche Felle davon,
dann war gut böse und böse gut? Was war schlecht daran, zu lieben? Und die
Engel, von denen Balduin sprach, das mussten Elben sein, anders konnte es sich
nicht verhalten. Und er konnte die Männer von Sodom und Gomorrha ja so gut
verstehen, denn Elben musste man einfach lieben, in jeder Hinsicht, es war
nichts schöner und besser, als einen Elben zu lieben, mit Seele, Geist und
Körper!
Wieder dachte er an den, den er zurückgelassen hatte und den er
aufrichtig liebte. Und vor ihm saß jemand, den er ebenso liebte, nur durfte er
es ihm nie zeigen, weil er der irrigen Meinung aufsaß, irgendein seltsamer
strafender Herr würde Jerusalem in Schutt und Asche legen, wenn sie –
‚So ein Unsinn!’ dachte Eomer und behielt aus Respekt vor Balduin diese
Worte bei sich, denn Balduin war sehr ernst, als er das Buch schloss.
„Das war ein sehr sündhafter Mann heute auf dem Markt...“ sagte der
junge König und stand auf. Eomer widerstand dem Impuls, Balduin an der Schulter
zu packen und ihn in seine Arme zu reißen, die vollen Lippen zu küssen, bis sie
rot und geschwollen waren, die schlichte grüne Tunika zu zerreißen und die
schwarzen Beinlinge, und noch andere Dinge zu tun, die er sich sogar in Balduins
Gegenwart nun verbat zu denken, doch sie waren in ihm, all diese Sehnsüchte und
Begierden, und als Balduin die Tür hinter sich schloss, hinterließ er einen fast
verzweifelten, hungrigen Eomer, der sein Gesicht in seine Hände schloss und laut
aufstöhnte.
„Was hast du dir erhofft?“ hörte er die leise, tiefe Stimme, als er auftauchte
aus seiner schmerzenden Gegenwart, die nichts anderes bedeuten würde als
Einsamkeit bis in den Tod.
„Ich weiß es nicht...“ antwortete Eomer nicht
ganz wahrheitsgemäß, um in Raymonds dunkle, unergründliche Augen zu sehen.
„Dann werde ich es dir sagen, und widersprich mir, wenn es nicht der
Wahrheit entspricht. Du hofftest dem König näher zu kommen. Näher, als es
gewöhnlich ist. Näher, als es bei Hofe offenbar werden dürfte. Der König hat
dich verzaubert, seine Jugend, seine Schönheit, nicht nur die seiner Seele. Ich
weiß, was geschehen ist, ich habe euch beobachtet. Ich habe niemals aufgehört,
meine Augen auf dich und auf ihn zu legen, und so wurde ich heimlicher Zeuge
eines Wunders. Ja, ich habe gesehen, was passiert ist und wie du ihn geheilt
hast. Und ja, er IST schön, er ist wunderschön. Wer könnte dir übel nehmen, was
du fühlst? Ich habe dich beobachtet, Eomer, und ich weiß, was du begehrst, nach
was du dich sehnst. Nur, wisse, der König ist ein Kind, was diese Dinge angeht,
und er ist ein gottesfürchtiges Kind. Ein frommes Kind. Er glaubt an all dies,
was in den Büchern steht, die das Christentum hoch hält, und er ist so jung,
dass er über keinerlei andere Erfahrungen verfügt. Wie sollte er auch? Er wurde
krank, als er diese Erfahrungen hätte machen können. Er hat niemals einen
Menschen berührt, und nie hat ein Mensch gewagt, ihn zu berühren, denn Lepra ist
ansteckend und er hatte Lepra. Balduin fängt jetzt erst an zu leben – und er
wird es auf andere Weise tun als du es dir ersehnst. Er ist ein König, und er
braucht eine Königin, die ihm Kinder schenken wird, auf dass der Thron
Jerusalems nicht verwaisen wird. Du solltest dies wissen, Eomer. Du bist ein
König, wie er. Doch du teilst nicht seinen Glauben. Er wird dir nicht geben, was
du dir erhoffst. Er ist ein Kind. Er ist unschuldig. Er ist – makellos. Und du
hast ihn dazu gemacht, Eomer – indem du den äußeren Makel von ihm genommen hast.
Du hast einen Heiligen erschaffen, eine Ikone, die du nicht zerstören kannst und
nicht zerstören willst. Bewahre ihn, Eomer, vor dem, vor was er sich fürchtet.
Bewahre ihn. Er ist nicht dafür geschaffen.“
Eomer hatte den Worten des
Fürsten von Tiberias aufmerksam zugehört und dabei unentwegt in dessen Augen
gesehen. Weisheit und Erfahrung spiegelten sich darin – und Leben. Und etwas,
das er schon gespürt hatte, als Balduin noch hinter einer Maske verborgen war.
Etwas, das ihn schon vor Tagen zu diesem Mann hingezogen hatte, doch wollte er
sich dies nicht eingestehen. Und war nicht Balduin immer aufgetaucht, kaum dass
er und Raymond kurz alleine waren...? Warum aber verwehrte sich Balduin nun so
heftig?
„Er nicht....“ entgegnete Eomer und stand auf, um Raymond auf
gleicher Höhe in die Augen zu sehen. „Er ist dafür nicht geschaffen. Aber du,
nicht wahr? Du kennst das Leben... du fürchtest dich nicht.“
Raymond sah
Eomer ernst an. „Nein, ich fürchte mich nicht.“
Sie trennten
sich erst tief in der Nacht, als sie sich sicher sein konnten, dass Balduin
schlief und sie nicht mehr suchen würde. Keiner hatte Fragen gestellt und keiner
hatte Antworten verlangt. Es war ein stillschweigendes Übereinkommen gewesen und
es war so heftig wie innig gewesen. Zwei einsame Männer, vereint in der
hoffnungslosen Liebe zu einem Kindkönig. Denn auch Raymond war nicht unberührt
geblieben von Balduin, er hatte ihn gekannt, bevor er durch seine Krankheit so
entstellt worden war, dass er eine silberne Maske brauchte, und nie hatte
Raymond Balduins Gesicht vergessen. Doch nun war alles anders und beide Männer
bedurften des Trostes.
Es war gut so, das spürten sie beide. Es gab
keinerlei Bitterkeit danach, keinerlei Bedauern, keinerlei schlechten
Nachgeschmack. Es war gut so.
Eomer raffte seine Kleidung zusammen und
strich Raymond noch einmal über seine dunklen Haare, in die sich bereits Silber
mischte. „Ich danke dir...“ flüsterte er, dann schloss er die Tür hinter sich,
um in seinem Bett unendliche Einsamkeit zu spüren. Denn was auch immer er eben
mit Raymond erlebt hatte – es ersetzte nicht, nach was er sich sehnte, und der,
nach dem sein Herz schrie, hatte blaue Augen wie der Herbst und goldene Haare
wie der Sommerweizen.
„Ich habe um einen vollkommenen Ritter gebetet, und er wurde mir geschenkt!“
Balduin lächelte, als er Eomer den Kelch mit weißem Wein reichte.
Eomer verneigte sich ein wenig, als er den Kelch entgegennahm, dabei
berührten seine Finger die Hand Balduins und er hielt sie fest.
„Ja,
Balduin, es wurde dir geschenkt, dein Gebet wurde erhört.“
Eomer
streichelte Balduins Hand und nahm ihm dann den Kelch ab, nahm die heile,
wohlgeformte Hand in seine beiden und küsste sie.
Balduin räusperte sich
und zog seine Hand zurück, dabei überzog sich sein Gesicht mit einer feinen
Röte.
Eomer dachte wieder an Raymonds Worte. Ja, der Graf hatte Recht,
Balduin war unschuldig und ein Kind, und er würde ihn vor allem bewahren, was
seiner Seele Schaden tun würde – und das war in erster Linie er selbst und seine
für den König und seine Welt unangemessenen Begierden. Denn dies war nicht
Balduins Art und nicht sein Leben, dies war ihm nun klar.
„Du bist der
vollkommene Ritter, Eomer“, sprach Balduin weiter und hielt seinen Kopf schief,
wie er es schon vor seiner Heilung getan hatte. Diese typische Geste rührte
Eomer. Sie war so grazil wie anmutig. „Du bist mutig, heldenhaft, voller Liebe
und Feingefühl. Du bist treu und hingegeben an deine Ziele, hilfst, wo du
kannst, wo dich Gott hinstellte, sprichst immer die Wahrheit, und bist dankbar
für alles, was man dir gibt. Ja, du bist der vollkommene Ritter.“
Eomer
lächelte, zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Balduin, mein
König, es ist so, wie du sagtest. Dein Gebet um den vollkommenen Ritter wurde
erhört. Doch nicht ich bin es, der es ist, sondern ich bin der, der ihm helfen
durfte, auch äußerlich zu dem zu werden, was er ist. Der, zu dem du gebetet
hast, hat mich geschickt, um den vollkommenen Ritter vollkommen zu machen. Ich
sollte dein Äußeres deinem Inneren angleichen, und es ist geschehen. DU bist der
vollkommene Ritter, mein König, so wie du der vollkommene König bist. Ich bin
unzulänglich, doch frage mich nicht weiter, sonst müsste ich dir Dinge sagen,
die dein Herz verdunkeln. Ich bitte dich nur um eines, mein König – lass mich
wieder gehen. Du allein weißt, wie es geht – und ich bitte dich darum, mich
wieder gehen zu lassen. Ich werde dich nie vergessen, mein – mein vollkommener
Ritter. Aber ich bin nicht vollkommen und ich gestehe dir, ich möchte es auch
nicht sein. Es gibt – Dinge – die gehören zu mir und ich sehe sie nicht als
ehrenrührig an, aber die Welt, in der du lebst, die verurteilt dies. Bitte lass
mich wieder gehen, Balduin, mein wunderschöner König. Lass mich zurück in meine
Welt gehen. Schick mich zurück. Sende deine Gebete zu deinem Gott und lass mich
ziehen, ich bitte dich.“
Balduin war traurig geworden bei Eomers Worten,
doch er hielt seine Tränen zurück, denn er wusste, es war wahr, was der König
der Rohirrim sprach. Er musste ihn gehen lassen. Und er ahnte auch, auf was
Eomer anspielte. Irgendetwas musste es geben, das ihm unbekannt war, das ihm
Angst einjagte, aber das er vielleicht ersehnen könnte, wenn Eomer noch länger
in seiner Gegenwart bliebe. Besser, er tat, was Eomer von ihm erbat, auch wenn
dies bedeutete, dass Eomer nicht mehr bei ihm wäre.
So nickte Balduin
nur und sagte leise: „Dann soll es so sein.“
In dieser Nacht kam der
König von Jerusalem an das Nachtlager Eomers, der bereits in seinem Bette lag,
und beugte sich über ihn.
Eomer sah ihn lange an und Balduins blaue
Augen füllten sich nun endlich doch mit Tränen, dann fiel die erste und traf
Eomers Lippen und das salzige Nass drang nicht nur in Eomers Mund, sondern tief
in seine Seele ein. Er hob die Arme und umarmte den schmalen König, der sich
nicht wehrte, als Eomer ihn auf seine Stirn, sein Kinn, seine beiden Augen
küsste. Es war das Zeichen seines Glaubens, das Eomer mit seinen Lippen
beschrieb, und das Herz beider Welten vereinte sich, als sich ihre Lippen
trafen, zum ersten und letzten Male, und so süß dieser erste und letzte Kuss
war, so tief schmerzte er beide, als Balduin Eomers Zimmer verließ und sich in
seine Kapelle zurückzog, um die Rückkehr Eomers in seine Welt zu erbitten.
Eomer erwachte langsam und mühevoll, schlug erst ein, dann das zweite Auge auf.
Direkt über ihm wachte ein blaues Paar Augen, aufmerksam und die
Augenwinkel zwinkerten ein wenig – das bedeutete, dass er lächelte, dachte Eomer
und schloss noch einmal kurz seine Augen, um dann „Balduin....“ zu murmeln.
Leises Lachen weckte Eomer wieder, und rosige Lippen formten Worte.
„Baldrian? Jaja, mein König, Baldrian, genau das war es, und ich schwöre
dir, ich werde nie mehr, und ich betone, NIE mehr, Baldrian in Alkohol ansetzen,
um die Wirkstoffe zu extrahieren! Nie mehr. Öl oder Wasser, aber kein Alkohol
mehr, vor dir ist keine Flasche sicher, du König aller Pferdeherren, in denen
sich Alkohol befindet. Oder denkst du im Ernst, ich unterstütze die Trunksucht
der Menschenmänner? Ich wäre kein Elb, wenn ich mich da irgendwelchen Illusionen
bezüglich eures Trinkverhaltens hingeben würde,...“
Eomer starrte auf
die sich bewegenden Lippen des äußerst verführerischen Wesens über ihm, das
seine Hände zur Linken und Rechten seines Kopfes gestützt hatte und unentwegt
plauderte, sprach, maßregelte, Weisheiten zum Besten gab, sich amüsierte und
spottete.
Längst hatte Eomer aufgehört zuzuhören und der Mund sprang ihm
in die Augen, in einer Art und Weise, die sich durch seinen ganzen Körper
fortpflanzte und nachdem Glorfindel eine Pause eingelegt hatte in seinem
Monolog, fasste Eomer in die blonden Locken und fragte seinen Elben: „Was ist,
mein Liebling, möchtest du dir vielleicht einen Beutel getrockneter Aprikosen
verdienen?“
~~~~~
|