Titel: Nähe
Autor:
Lady Guinevere


Langsam streift mein Blick durch die nähere Umgebung. Die vielen in der Luft herumwirbelnden Schneeflocken erschweren die Sicht und würden Spuren beinahe sofort verwischen. Dennoch bleibe ich aufmerksam, denn es ist ruhig – beinahe zu ruhig. Selbst die Tiere des Waldes scheinen den Atem anzuhalten und auf etwas zu warten. Doch will ich gar nicht wissen, was das ist.

Mit einem leisen Seufzen blicke ich zum Himmel. Im matten Licht des Mondes sehe ich meinen Falken hoch über mir kreisen. Auch er ist wachsam. Dies beunruhigt mich beinahe noch mehr, als die Stille des Waldes, denn ihm entgeht nie etwas.

Oft schon hatte er mir mit seinen feinen Sinnen oder seinem empfindlichen Gehör das Leben gerettet und so hat er mein bedingungsloses Vertrauen. In all der Zeit, die ich schon in diesem fremden Land verbringe, ist er zu einem treuen Freund geworden.
Natürlich sehe ich auch meine Gefährten als solche, würde ihnen jederzeit mein Leben anvertrauen. Doch ist es Lirion, der mich in den einsamen Stunden der Auskundschaftung begleitet. Während meine Freunde über Sieg, Waffen und Frauen sprechen, schweige ich mit der Wildnis.

Manchmal glaube ich, selbst ein Teil von ihr zu sein. Ein lautloser Jäger und Beobachter, geübt darin, mit der Umgebung zu verschmelzen und präzise darin, einen Feind zu töten. Meist bemerken sie meine Gegenwart nicht einmal, bevor sie ihren letzten Atemzug tun. Doch auch im Kampf von Angesicht zu Angesicht, bei dem ich auf die wertvolle Gabe, beinahe unsichtbar zu sein, verzichten muss, bin ich ebenso gefürchtet wie auch gejagt.

Dies sind wir jedoch alle. Allerlei Dinge werden über die Ritter aus Sarmatien erzählt. Wahrheit, aber auch Lügen. Doch eines ist wahrhaftig in jeder Erzählung richtig, nämlich das wir einsame Männer sind, die ihrer Heimat beraubt wurden. Einer Heimat, die nun für uns nur noch eine Illusion ist. Begraben unter all den verhängnisvollen Schicksalen, die ein jeder von uns besiegelt hat oder selbst auf den Schultern trägt.

Langsam löse ich mich aus dem Schatten eines Baumes und atme tief ein. Die Luft ist erfüllt von Reinheit und würde meine Seele nicht schon soviel Schreckliches gesehen haben, würde ich mich davon täuschen lassen. Doch ich weiß um die trügerische Stille, die meist vor einem Sturm entsteht. Ob er schon in dieser Nacht oder der nächsten über uns hereinbrechen würde? Eine Frage, die über viele Menschenleben entscheiden wird. Denn die vielen Menschen, die Arthur gegen Lancelots und meinen Rat retten will, benötigen in dieser Nacht Ruhe. Sie sind die zehrenden Märsche nicht gewohnt und stehen somit zwischen uns und unserer Freiheit.

Eine Freiheit, die einem jeden von uns in die Wiege gelegt wurde. Doch man hat sie uns genommen und ebenso das Ende dieser "Gefangenschaft" verweigert. Was ist schon das Wort eines Geistlichen, wenn dieser das Leben eines Jungen über das Leben von Männern stellt, die in ihrem Leben mehr Leid gesehen haben, als Freude? Auch er ist nur ein Mensch und selbst Gott konnte ihn nicht vor der Gier nach Macht oder Reichtum bewahren.

Ein leises Seufzen verlässt meine Lippen, weiß ich doch um die Gefahr, der er uns ohne mit der Wimper zu zucken, ausgesetzt hat. Denn unsere Flucht wird in einem Kampf enden. Ein Kampf, an dessen Ende der Tod wartet und nicht die Freiheit. Dies spüre ich tief verborgen in meinem Herzen. Aber ist dies nicht das Schicksal aller sarmatischen Ritter? Ein ehrenhafter Tod auf dem Schlachtfeld?

Diese Tatsache ängstigt mich jedoch nicht. Zu oft schon bin ich dem Tod näher gestanden, als dem Leben. Davon erzählen all die Narben meines Körpers. Manche von ihnen sind nur noch verblassende Erinnerungen, andere aber ein letzter Überrest, der von dem Kampf mit dem Tod zeugt. Doch sind Narben eines Kriegers Gewand, die ihn kleiden bis hin zu seinem letzten Atemzug.

Ein leises Rascheln zieht meine Aufmerksamkeit auf sich und nur Sekunden später spanne ich meinen Bogen. Bevor ich aber den Pfeil auf die Reise schicken kann, taucht ein mir bekanntes Gesicht aus dem Schatten der Bäume auf. Sofort nehme ich meinen Bogen runter und entspanne mich.
"Dir entgeht auch nichts."
Ich muss bei diesem Ausspruch lächeln – eine seltene Gefühlsregung in meinem Gesicht.
"Bin ich nicht deshalb ein Späher?"
"Vielleicht hat Arthur dich auch ausgewählt, weil du die Einsamkeit nicht fürchtest."
In diesem Moment kommt Lirion auf uns zugeflogen und ich strecke meinen Arm aus, damit er sich darauf niederlassen kann.
"Er hat mich aber nicht bemerkt, wie mir scheint."
"Oh doch, dass hat er. Ein Feind hätte schon längst den letzten Atemzug getan, nicht aber ein Freund."

Diesmal ist es mein Gegenüber, dessen Lippen ein leises Lachen entweicht. Zweifelnd ziehe ich eine Augenbraue hoch, während ich Lirion über das Gefieder streichle.
"Du zweifelst an meiner Schnelligkeit?"
Er kommt gar nicht dazu, eine Antwort zu geben, denn noch während ich zu ihm spreche, ziehe ich einen kleinen Dolch. Diese Waffe ruht nun an einer sehr delikaten Stelle. Meine Augen blitzen gefährlich auf, als meine Lippen sich seinem Ohr nähern.
"Überzeugt?"
Ich spüre, wie er beinahe zitternd die Luft anhält und koste diesen Moment noch ein wenig aus.
"Wen würde dieses Argument nicht überzeugen, Tristan?"

Da hat er allerdings Recht und so lasse ich von meinem Gefährten ab. Doch während ich den Dolch wieder an seinen ursprünglichen Platz wandern lasse, ruhen meine Augen prüfend auf ihm. Er wirkt erschöpft und trotzdem ist sein Blick weder matt noch müde.
"Du solltest ein wenig ruhen, Gawain."
"Und wertvolle Zeit verlieren?"
"Zeit? Arthur wird vor dem Morgengrauen nicht aufbrechen. Die Dorfbewohner benötigen eine Pause, ebenso die Pferde."
"Ich sprach von der Zeit mit dir."

Bei diesen Worten verdunkeln sich seine Augen und ich weiß, dass auch er den nahenden Tod erahnt. Doch weiß er ebenso wie auch ich nicht, wer in diesem Kampf fallen wird. Und obwohl mein Weg die Einsamkeit ist, kann ich ihn nicht fortschicken. Zu sehr verstören mich seine Worte und die daraus resultierenden Gedanken, dass einer von uns dem Feind zum Opfer fallen könnte.

Ich blicke den dunkelblonden Mann nachdenklich an, während mir meine Gedanken einen Streich spielen. Sie zeigen ihn mir, wie er vor dem blutüberströmten und zerstörten Körper seines Gefährten kniet – selbst am Ende seiner Kräfte.
Jeder von uns hat im Kampf jemanden verloren, doch nur er hat den Schmerz verspürt, wenn ein Herz durch diesen Verlust bricht.
Und ich ahne, dass genau diese Erinnerungen seinen Geist verdunkeln. Denn obwohl schon viel Zeit vergangen ist, liebt ein Teil seines Herzens immer noch das verblassende Bild seines Geliebten. Niemals könnte ich diesen Platz ausfüllen, doch er legte mir den verbliebenen Teil seines Herzens in die Hände.

"Die Nacht ist ruhig und ich bin mir sicher, dass Lirions Sinne wachsam sein werden."
Wie zur Bestätigung erhebt sich der majestätische Vogel in die Lüfte und lässt uns zurück.
Nur Sekunden später ziehe ich Gawain in meine Arme. Sein Atem geht heftig, doch nicht von der plötzlichen Nähe zu mir. Und ich halte ihn einfach fest, bis ihn seine Erinnerungen frei geben für die Realität und damit auch für mich.

Es ist selten, dass meine nächtlichen Ausflüge nicht im Einklang der Einsamkeit stattfinden und nie habe ich jemanden an meiner Seite geduldet. Auch er musste oftmals Niederlagen erdulden. Doch in der heutigen Nacht kann ich ihn nicht fortschicken. Denn nur mir zeigt er sein wahres Gesicht. Nicht den todbringenden Ritter, sondern einen Mann, der in seinem Leben mehr verloren hatte, als er jemals besaß.

Er will sich von mir lösen, doch halte ich ihn in einer festen Umarmung. Schneeflocken tanzen um uns herum und beflecken uns mit unschuldig weißen Eiskristallen. Sanft streiche ich Gawain eine Haarsträhne aus dem Gesicht und erkenne die Tränen, die in seinen Augen funkeln. Und mir wird bewusst, was mein Gefährte in diesem Moment braucht.
Es ist weder die stürmische Leidenschaft zweier hungriger Körper, noch tröstende Worte. Es ist einzig und alleine Nähe, nach der er sich sehnt. Nähe und Geborgenheit. Ich respektiere diesen Wunsch, denn dies sind Dinge, die ich ihm selbst in der Stille der Einsamkeit geben kann.

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, ziehe ich ihn in den Schutz einiger Bäume. Hier haben die Äste ein Dach über einem Fleckchen Waldboden gebaut. Nur vereinzelt verirren sich Schneeflocken hierher und obwohl wir von Mutter Natur geschützt werden, muss ich die nähere Umgebung nicht aus den Augen lassen. Für einen Moment zögert Gawain und gibt sich schließlich seinen Sehnsüchten hin. Ein quälendes Stöhnen entweicht seinen Lippen, als ich ihn mit mir auf den Boden ziehe. Er lässt aber zu, dass ich ihn in einer schützenden Umarmung beherberge. Sie ist ihm nicht nur ein wirksamer Schutz gegen die Kälte des Winters, sondern vor allem gegen die Qualen der Erinnerung.

So sitzen wir nun da – unter uralten Bäumen, die mehr Leid und Freude gesehen hatten, als wir selbst. Und während Gawain in der Geborgenheit meiner Umarmung eingeschlafen ist, wache ich über ihn und unser Umfeld. Ich gewähre ihm außerdem einen ruhigen Schlaf. Denn einst vertraute er mir an, dass ihn nur meine Nähe von den Alpträumen erlöst, die ihn sonst jede Nacht heimsuchen.

Und wenn ich ihm damit helfen kann, so werde ich es tun. Vielleicht halte ich ihn ein letztes Mal in meinen Armen, vielleicht hat das Schicksal aber auch ein Einsehen mit uns. Doch dies weiß nur das Schicksal selbst.

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