Titel: Aragorns Geständnis (2/?)
Autor: Boromirs Bride


Faramir verließ das Haus des Königs und die Veste und schlug den Weg zu den Grüften ein. Dorthin ging er bereits seit vielen Jahren, wenn er nachdenken wollte. Er passierte die Ställe und die Häuser der Heilung, bis er schließlich Fen Hollen, die Verschlossene Tür, durchquerte. Auf der Rath Dínen angelangt wandte er sich gleich zur Nordmauer, wo Aragorn ein Denkmal zu Ehren Boromirs erbauen ließ. Es hatte die doppelte Größe eines Menschen und war aus dem Gestein des Mindolluin errichtet worden. Gimli hatte dafür gesorgt, dass drei Zwerge - die besten ihres Faches - dieses kleine Kunstwerk fertigten. Die kunstvollen Verzierungen an den Kanten - Ranken mit Blättern des Weißen Baumes - waren mit einem solchen Geschick aus dem Stein herausgearbeitet worden, dass sie locker von oben herabzuhängen schienen. Auf der vorderen glatten Fläche waren das zerbrochene Horn von Gondor, das Boromirs Tod symbolisierte, und darunter Boromirs Schild mit seinem Schwert darauf zu sehen, ebenso kunstvoll aus dem Stein hervorgehoben. Faramir ging zum Denkmal, ließ sich auf dem Boden nieder und lehnte seinen Rücken gegen das Gestein. Er rief sich Aragorns Rede ins Gedächtnis zurück und langsam begriff er, dass er sich mit dem Gedanken abfinden musste, dass sein Bruder Männer bevorzugte. Und als Faramir genauer darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass sein Bruder nie von einer Frau erzählt hatte, die ihm gefallen würde. Er war stets mit Männern unterwegs. Aber das spielte nun keine Rolle mehr. Der junge Statthalter saß gedankenversunken am Denkmal, bis die Mittagssonne ihn schließlich blendete und er daraufhin den Rückweg zur Veste antrat.

Aragorn ging seit dem Morgen seinen Pflichten nach und vergrub sich in seiner Arbeit. Da waren Karten zu studieren und er überwachte die restlichen Raparaturen an noch beschädigten Gebäuden in Minas Tirith, was er gleichzeitig mit kleinen Plaudereien mit den Bürgern verband. Als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, machte er sich wieder auf den Weg zum Palast. Als er bald darauf das Tor vom fünften in den sechsten Mauerring passiert hatte und an der Ostseite der Häuser der Heilung vorbei gegangen war, kreuzte Faramir seinen Weg. Der König lächelte ihn an und sagte "Alae, Mellon. Ich habe euch gesucht; ich wollte euch auf meine kleine Inspektion durch den dritten und vierten Mauerring mitnehmen. Wo seid ihr gewesen?" Faramir - sichtlich erfreut über die recht gute Laune seines Königs - entgegnete: "Ich war bei den Grüften und habe mich die ganze Zeit an dem Denkmal aufgehalten. Dort kann ich am besten meinen Gedanken nachgehen. Es tat mir gut. Das hatte ich gebraucht. - Euch scheint es besser zu gehen, Aragorn." "Mir hilft es sehr, wenn ich durch die Stadt gehe und mit den Leuten rede. Und langsam sieht man nichts mehr von den Verwüstungen, die in dieser Stadt angerichtet wurden. Minas Tirith hat seinen Glanz wieder." Während sie sich über die Fortschritte in Gondor unterhielten, gingen sie gemeinsam zum Palast. Dort angekommen, schlugen sie den Weg zur Speisehalle ein und nahmen das Mittagsmahl zu sich. Hinterher begab sich der König in den Thronsaal, um einige Gespräche mit hochgestellten Persönlichkeiten Gondors und Rohans zu führen. Faramir kümmerte sich in der Zeit um die ihm zugedachten Aufgaben: er teilte Arbeiter ein, organisierte Baumaterialien und sorgte für Unterkünfte für die Menschen, die nach Minas Tirith kamen. Es kamen seit einiger Zeit viele Leute in die Stadt, um zu helfen. Sie kamen aus den Gebieten südlich des Weißen Gebirges, nachdem sie ihre Dörfer und Höfe wieder aufgebaut hatten.

Als sich der Tag dem Ende neigte, zog sich Aragorn in die Palast-Bibliothek zurück und studierte ein altes Buch. Nach einiger Zeit trat Faramir herein: "Verzeiht mir die Störung, mein König, darf ich näher kommen?" Aragon blickte auf und entgegnete höflich: "Natürlich. Kommt her und setzt euch. Was kann ich für euch tun?" "Zunächst einmal möchte ich mich entschuldigen, dass ich euch bisher keine große Hilfe gewesen bin. Ich habe bisher nicht einmal versucht, euch in irgendeiner Weise Trost zu spenden. Doch wisset, mein König, ihr seid nicht Schuld an Boromirs Tod. Ich war sehr erleichtert, als ich erfuhr, dass ihr in der Stunde seines Todes bei ihm gewesen seid." Aragorn sah Faramir freundlich an und sagte: "Dank euch, Faramir, was ihr sagt, hilft mir sehr. Doch ihr habt noch etwas anderes auf dem Herzen, nicht wahr?" "Nun, ja, ich möchte euch bitten, mir noch einige Fragen zu beantworten." "Ich habe erwartet, dass ihr diesen Wunsch äußern würdet." Aragorn legte das Buch zur Seite und fuhr fort: "Ich werde mich bemühen, eure Fragen so gut ich kann zu beantworten. Was möchtet ihr wissen?" Der blonde Mann überlegte einen Moment und begann: "Bitte erzählt mir von meinem Bruder. Ich möchte wissen - bitte, versteht mich nicht falsch, Herr - was ihn und euch dazu bewogen hat...." Ein unangenehmes Gefühl durchzog Faramir. Er beendete den Satz nicht - das tat Aragorn: "... miteinander intim zu werden?" Faramir blickte beschämt zu Boden und Aragorn sprach weiter: "Das ist eine gute Frage. Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, dass die Umstände viel dazu beigetragen haben. Wir trugen eine große Verantwortung - vielleicht sogar die größte, die es bisher von irgend jemandem zu tragen galt. Wir mussten den Ringträger beschützen und verteidigten ihn mit unserem Leben."

Aragorn machte eine kleine Pause und sein Blick schweifte in eine unsichtbare Ferne. Faramir ahnte, woran sein König nun dachte, und dieser fuhr kurz darauf fort: "Womöglich sehnten Boromir und ich uns in einem solchen Ausmaß nach Geborgenheit, dass wir all unsere Bedenken über Bord warfen und uns unseren innersten Gefühlen nicht mehr verschlossen." Der Dúnadan wandte sich wieder Faramir zu: "Unter normalen Umständen wären wir vielleicht lediglich sehr gute Kameraden geworden, doch unterschätzt den Stress nicht, unter dem wir standen. Der gegenseitige Respekt, den wir uns zollten und der nach und nach immer größer wurde, steigerte sich wohl soweit, bis die Voraussetzungen für - verzeiht - die ersten begehrenden Gedanken gegeben waren." Aragorn wartete ab, wie Faramir nun reagieren würde. Dieser hatte aufmerksam zugehört und erwiderte: "Mehr möchte ich für heute nicht wissen. Aber ich kann euch sagen, dass ich euch und meinen Bruder langsam verstehen lerne, Herr. Es ist nur alles noch so neu für mich - ich dachte, ich habe ihn sehr gut gekannt... doch wie es scheint... Ich werde mich nun zurückziehen in meine Räume und euch nicht weiter stören. Ich wünsche euch eine gute Nacht, mein König." Mit diesen Worten erhob er sich. Aragorn wünschte ihm auch eine gute Nacht und der Blonde verließ die Bibliothek. Der Dúnadan nahm sich das angefangene Buch nicht mehr vor, sondern saß in seinem Stuhl und dachte über Faramir nach. Er war froh, dass der junge Mann es so gut verarbeiten konnte. Aragorn wusste, dass die beiden Brüder sehr eng miteinander vertraut waren und dass es für Faramir ein ziemlicher Schlag gewesen sein musste, was er über seinen Bruder erfahren hat. Doch Aragorn fiel auch auf, dass er sich merkwürdig wohl fühlte, wenn er seinen Statthalter um sich hatte. Er tat diesen Gedanken jedoch ab mit der Begründung, dass die Ähnlichkeit mit Boromir daran Schuld wäre.

Inzwischen war Faramir noch zu einem kleinen Spaziergang über die Veste aufgebrochen und ging nun langsam auf den Brunnen zu. Er erspähte die Bank im Dunkeln und ließ sich auf ihr nieder. Dem Mann kam die gestrige Beichte seines Herrn wieder ins Gedächtnis und er dachte darüber nach, wieviel mut Aragorn wohl aufgebracht haben musste, um sich zu offenbaren. 'Aragorn hat dem Bruder seines Geliebten ihr Verhältnis gebeichtet. Das erfordert größten Mut oder tiefste Verzweiflung.' überdachte Faramir Aragorns Schritt. Und langsam verstand Faramir, was seinen Bruder an Aragorn so fasziniert haben musste. Der junge Mann musste sich selbst eingestehen, dass die Zuneigung zu seinem Herrn in den letzten paar Tagen stärker geworden war. Und in dem Moment, als ihm eben dieser Gedanke durch den Kopf ging, musste er sich fragen, warum er plötzlich so fasziniert war von seinem König. Die Antwort kam nach kurzem Überlegen: 'Er ist fast... menschlich... Aragorn ist verletzlich und so voller Gefühl, wie ich es ihm nicht zugetraut habe. Er - der König - der Erbe Isildurs - eine starke Seele in einem starken Körper - und doch so sanft und....' - "...liebevoll..." drang es flüsternd aus seinem Mund und er war erstaunt, dass dieses Wort über seine Lippen kam. Faramir war verwirrt und machte sich auf den Weg zu seinen Räumen, um schlafen zu gehen, denn am nächsten Tag wartete viel Arbeit auf ihn.

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Am nächsten Morgen frühstückte Faramir allein, denn der König hatte sich schon früh auf den Weg gemacht, um die nähere Umgebung zu erkunden und seine Soldaten vor Ort aufzusuchen. Der Blonde spürte Unbehagen und wenig Appetit, konnte es aber nicht deuten. Er beendete sein Mahl bald und machte sich an seine Arbeit. Er ging hinunter in den ersten Mauerring und begutachtete die beendeten Reparaturarbeiten an den Außenmauern. Er begann östlich des Alten Gästehauses und folgte der Mauer nach Osten. Als er nach einer Weile am Großen Tor angelangt war, legte Faramir eine kleine Pause ein und nutzte sie zu einer kleinen Unterhaltung mit der Torwache. Dabei blickte er ab und zu hinaus in das weite Gelände und schließlich erspähte er einen sich der Stadt nähernden Reiter. Bald erkannte er, dass es sich um Aragorn handelte. Der Statthalter spürte ein wohliges Kribbeln, das seinen Körper durchzog. 'Was ist nur mit mir?' dachte er irritiert. Als Aragorn endlich am Tor angelangt und von einem Pferd abgestiegen war,  kam er auf Faramir zu und begrüßte ihn herzlich: "Seid gegrüßt, Faramir! Schade, dass ihr nicht dabei gewesen seid. Es ist schön, mit eigenen Augen zu sehen, wie alles wieder zu alter Pracht erstrahlt. Die düsteren Zeiten der Zerstörung sind nun endgültig vorbei und das Grau der Ruinen ist dem strahlendem Weiß der neu errichteten Bauwerke gewichen." Vor lauter Freude über sein wiedererblühendes Land legte er seine Hände auf Faramirs Schultern. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment und beide durchströmte ein wohliger Schauer. Faramir sah verlegen zu den Wachleuten hinüber, die jedoch inzwischen mit einigen Passanten beschäftigt waren, die in die Stadt hinein wollten. Der Blonde wandte sich wieder seinem König zu, vermied es aber, ihm in die Augen zu schauen. Er senkte seinen Kopf und bemerkte nur: "Ich muss nun die Mauern weiter inspizieren. Bitte entschuldigt mich, mein König." Damit trat er einen Schritt zurück und befreite sich so von Aragorns Berührung. Der Blonde verharrte ein paar Sekunden, dann drehte er sich um und verschwand in Richtung nördlicher Mauer. Aragorn sah seinem Statthalter überrascht hinterher. Als ihm jedoch einen Moment später gewahr wurde, was gerade geschehen war, fuhr er mit seinen Händen durch sein Haar und verfluchte seine Dummheit. Er nahm die Zügel seines Pferdes und machte sich auf den Weg zu den Ställen. Währenddessen überlegte er, wie er seinen Fehler wiedergutmachen konnte. 'Warum habe ich vorher nicht nachgedacht? Es hätte mir klar sein müssen, dass er diese Geste falsch verstehen könnte.' Doch je intensiver der Dúnadan über Faramirs Verhalten nachdachte, desto mehr zog er in Erwägung, dass die Ursache der Reaktion des Menschen ebenso ein unerwartetes Gefallen an der Berührung gewesen sein könnte. Bei dem Gedanken machte sich ein Lächeln auf Aragorns Gesicht bemerkbar. Jetzt musste er sich außerdem eingestehen, dass er für Faramir wohl mehr empfand, als ihm vorher bewusst war.

Nachdem der König sein Pferd dem Stallknecht übergeben hatte, überkam ihn das Bedürfnis, zur Rath Dínen zu gehen und am Denkmal zu seinem toten Geliebten zu sprechen. Als er dort ankam, fand er zu seinem Erstaunen Faramir vor. Dieser kniete vor dem steinernen Mal und betete. Er schien Aragorn noch nicht bemerkt zu haben. Der König überlegte nicht lange und sank neben seinem Statthalter auf die Knie. Faramir schreckte auf und sah zu Aragorn hinüber. Dieser hatte seinen Kopf gesenkt und sagte: "Bitte verzeiht mir meine unbedachte... Berührung. - Ich hatte nicht die Absicht, euch in Verlegenheit zu bringen." Der Andere erwiderte nach einer kurzen Pause: "Nein, mein König, ich habe euch nichts zu verzeihen. Im Gegenteil. Ich war derjenige, der sich ungebührend verhielt. Ich habe euch unterstellt, dass eure Absichten..." Faramir verstummte. Aragorn sah ihn an und ergänzte den Satz: "...dass meine Absichten nicht ehrenhaft waren?" Der junge Mann sah beschämt zu Boden. "Verzeiht mir, Herr. Ich hatte unrecht." Aragorn entgegnete nichts, denn er wollte über seine Gefühle für Faramir noch nicht offenbaren - nicht hier an Boromirs Denkmal. Faramir erhob sich. "Ich werde mich in mein Ruhe-Zimmer zurückziehen, Aragorn. Solltet ihr mich brauchen, lasst nach mir rufen und ich werde kommen." Dann ging er fort. Der Dúnadan wandte seinen Blick auf das Mal und flüsterte: "Boromir, ich kann mich nicht länger dieser zerstörerischen Trauer hingeben. Ich will und muss weiterleben - für Gondor und für mich selbst. Faramir ahnt nicht, wie sehr ich ihn brauche. Er hilft mir, meine Trauer um dich zu bewältigen. Er ist kein Ersatz für dich, sondern das Leben, das ich gewählt habe." Er senkte den Kopf und sprach ein Gebet für Boromir. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg zum Weißen Turm.

Zur Mittagszeit ließ sich Faramir nicht in der Speisehalle blicken. Er blieb in seinem Zimmer, da er sich langsam bewusst geworden war, dass Aragorns Neigung eine gewisse Anziehungskraft auf ihn ausübte. Sei es aus Neugier oder... 'Schlummert in mir ein bisher unbekanntes Verlangen? Aber das kann nicht sein...' Je mehr er darüber nachdachte, desto größer wurde seine Befürchtung, dass er im Begriff war, Gefühle zu entwickeln, die bisher keinen Platz in seinem Leben hatten. Doch er tat diese Idee ab mit der Rechtfertigung, dass er sich wohl zu intensiv mit der Beziehung seines Bruders zu Aragorn beschäftigt hatte. Anders hingegen verhielt es sich mit Aragorn. Ihm war klar geworden, dass in ihm ein Verlangen nach Faramir heranwuchs. Durch die Gewissensbisse Boromir gegenüber hatte er diese Tatsache verleugnet; doch seit er noch vor kurzem zu Boromir sprach, fühlte er sich vom Gedanken des Betruges an ihn befreit.

Der Dúnadan verbrachte den Nachmittag im Thronsaal, wo er wieder einmal Gespräche mit Edelleuten führen musste. Als später der Abend über Mittelerde hereingebrochen war, ging er noch eine kurze Zeit auf der Veste spazieren, bevor er sich in den Palast begab. Er hatte sich fest vorgenommen, ein letztes klärendes Gespräch mit Faramir zu versuchen. Er wollte ihm nun Einzelheiten über Boromir und sich erzählen und abwarten, was passieren würde. Sollte sich Faramir von ihm abwenden, so würde Aragorn es akzeptieren und ihm nicht weiter zusetzen.


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