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Titel:
Reise in die Vergangenheit Autor: Boromirs Bride
Wie still es hier ist. Nur das Rauschen des
Windes dringt an mein Ohr. Ich sehe die noch satten Gräser, die sich im starken
Wind des Herbstes wiegen. Es erscheint mir wie ein grünes Wellenmeer. Ich
schließe meine Augen und lasse mich treiben, den Duft der feuchten Luft in mich
aufsaugend. Wie lange habe ich diesen Geruch nicht mehr genossen. Es scheint mir
wie vor Ewigkeiten, dass ich – wann immer ich für mich sein wollte – die Stille
der Wiesen Gondors suchte. Immer führte mich mein Weg hierher. Hier konnte ich
nachsinnen über mein Leben, den Krieg, Vater... Vater! Wann immer ich an dich
denke, verspüre ich den Schmerz, den du hast erleiden müssen. Du wolltest das
Beste für uns alle, doch das Böse hat dich bezwungen, dich in den Wahnsinn
getrieben und schließlich in den Tod.
Meine Blicke schweifen umher – und
in der Ferne erspähe ich den Turm. Den Weißen Turm meiner stolzen Stadt.
Wieviele Tage und oft auch Nächte haben wir in seinen Räumen zugebracht,
wieviele Debatten führten wir dort über die besten Strategien. Nichts war gut
genug gegen das Böse, doch gereichte es zumindest, um lange genug standzuhalten,
bis die finale große Schlacht gefochten und Saurons Streitmacht endlich besiegt
wurde. Gern hätte ich mit Aragorn Seite an Seite gefochten. Gern hätte ich meine
Kraft eingesetzt, um vielleicht das Leben mancher tapferen Recken zu retten.
Doch war es mir nicht vergönnt.
Das alles liegt nun hinter dem grauen
Schleier der Zeit.
Langsam nähere ich mich den Mauern der Weißen Stadt,
die einst leuchtend und stark gegen Saurons Heer standhielten. Kraftvoll erhoben
sich die Zinnen in die Höhe und erlaubten über viele Zeitalter keiner noch so
starken Macht, diese Mauern zu durchbrechen. Nun liegt die Stadt ruhig wie in
einem Schlaf. Kein Laut ist zu vernehmen, keine Menschen sind zu erblicken. Was
ist nur geschehen? Zu lange war ich fort. Zu lange habe ich die Geschicke der
Menschen aus Gondor nicht begleitet. Zu stark war der Schmerz, der mich traf bei
jedem Blick auf meine geliebte Stadt. Ich durfte nicht mehr teilhaben an ihrem
Leben und verzehrte mich vor Trauer und Schmerz, nicht mehr dazu zu gehören.
Stattdessen zog es mich in die Gefilde der Dunkelheit, um mich selbst zu
bemitleiden. Und nun, da es zu spät ist, merke ich, dass es falsch war.
Ich fahre mit meiner Hand an der bröckeligen Mauer des äußeren Rings
entlang und spüre, wie das einstmals harte Gestein unter meinen Fingern zu Sand
zerfällt. Oh du einst so starke Stadt, was hast du getan? Warum ließest du die
Menschen gehen? Was geschah mit dir, als Aragorn schon lange tot war und Arwen
längst nicht mehr in Minas Tirith weilte? Was war passiert, nachdem man die
Söhne Elessars und des Abendsterns zur letzten Ruhe gebettet hatte?
Ich
wandele allein durch jede einzelne Gasse, betrachte voll Schmerz und Wehmut die
Überreste der Häuser und Straßen. Bald wirst du, geliebtes Minas Tirith, nur
noch ein Schatten deiner selbst, zu Staub zerfallen sein und der Mantel des
Vergessens wird über dich gelegt. Niemand wird sich deiner mehr erinnern, da
niemand mehr da ist, der über dich berichten kann. Doch halt! Die Bibliothek –
die Bücher! Jemand muss sie an sich genommen haben!
Ich eile durch die
Gassen und erklimme Ebene um Ebene, um schnell zum Weißen Turm zu gelangen. –
Weh mir! Ein kümmerlicher Steinhaufen an der Stelle, an welcher einst der
prächtige Palast gestanden, scheint mich voller Hohn anzugrinsen. Etwas
umklammert mein Herz, als sollte es zerdrückt werden. Es schmerzt mich, diesen
letzten Rest des zerstörten Palastes erblicken zu müssen. Doch der Turm hat die
Zeit überstanden. Stolz ragt er noch immer empor – doch auch hier muss ich große
Risse erblicken. Lange Risse, die den Turm zu umschlingen versuchen, ihn
niederzuschmettern drohen. Aber er hält stand, wie ganz Gondor einst gegen das
Böse standgehalten hatte. Er ist der letzte Stolz, der diese Stadt nicht in der
Bedeutungslosigkeit versinken lässt. Solange der Weiße Turm steht, bleibt Minas
Tirith bestehen. Und fällt der Turm dareinst, so wird er die Mauern der Stadt
mit sich in die Tiefen reißen.
Ich betrete den Turm durch eine große
zerfallene Öffnung, die einmal von schweren mit Gold beschlagenen Holztoren
verschlossen war. Stickige Luft dringt in meine Kehle. Ich erklimme die halb
zerfallene Steige, die mich immer weiter nach oben führt. – Ich bin zu weit nach
oben gegangen, stehe vor Vaters Kammer. Die Tür ist verschlossen und alles
scheint zu sein, wie es vor Zeiten gewesen, als ob dieser Abschnitt des Turmes
vom Zerfall vergessen wurde. Ich lege meine Hand auf die Türklinke und drücke
sie herunter. Knarrend schwingt die Tür in den Raum hinein. Voll Ehrfurcht stehe
ich da und blicke in das Zimmer, das im Dämmerlicht sein Dasein fristet. Hier
versuchte Vater, das Böse durch den Blick in den Palantîr zu ergründen und wurde
so nach und nach dem Wahnsinn zugeführt. Wie oft fühlte ich mich ungerecht
behandelt von ihm, ungerecht gescholten und ungerecht zurechtgewiesen. Doch
damals wusste ich nicht um diese verfluchte Kugel, die sich seiner mehr und mehr
bemächtigte, ohne dass er es je selbst bemerkte. Ich fühle mich schuldig, ihm
nicht geholfen zu haben. Bedrückend ist es hier. Der Staub der vielen Jahre – aufgewirbelt durch mein
Eindringen in diesen Raum – fällt schwebend zurück auf die wenigen Möbel, die
diesen Raum zieren. Ein rundes Tischlein, ganz unscheinbar, steht wie vergessen
in einer dunklen Ecke. Dies muss der Platz gewesen sein, an dem Vater die
unglückselige Kugel aufbewahrte. Hier wurden seine Sinne getrübt und seine Seele
nach und nach vergiftet durch die Trugbilder Saurons. Ich spüre noch immer den
Hauch des Unheils in diesen Wänden. Ich fühle mich unwohl an diesem Ort.
Ich steige die Stufen hinab bis zu dem Raum, in welchem seinerzeit die
alten Bücher aufbewahrt wurden. Ich öffne die Tür und stehe im Dunkeln und
erspähe einen kaum erkennbaren schmalen Lichtstrahl. Es wirkt wie die Klinge
eines Schwertes, die den Fensterverschlag durchstoßen hat. Ich gehe zu dem
kleinen Spalt und schon zerspringt das alte Holz der Fensterläden. Im selben
Augenblick höre ich ein Rieseln. Schnell schaue ich mich um und muss mitansehen,
wie die letzten Bücher zu Staub zerfallen. Nach unendlichen Jahren in Dunkelheit
war das plötzliche Erhellen des Raumes ein großer Fehler. Es zerreißt mich fast,
als ich das Schauspiel beobachte. Dann ist alles wieder still. Ich gehe hinüber
zu dem großen Tisch und fahre vorsichtig mit meinen Fingern durch das zerfallene
uralte Papier. Es können nicht mehr viele Bücher gewesen sein. Die alten Regale
an den Wänden sind leer. Also darf ich die Hoffnung hegen, dass jemandem genug
an der Geschichte Nûmenors und Gondors gelegen war und diese treue Seele die
Bücher vor dem Vergessen gerettet hatte und mit sich nahm. Ich bete, dass diese
Hoffnung nicht vergebens ist und Mittelerde noch nicht vergessen hat, wie einst
die Menschen gelitten und gekämpft hatten.
Meine Zeit ist nun um. Ich
werde zurückgerufen. Mein Herz ist voll des Dankes und zugleich voll der Trauer.
Ein letztes Mal durfte ich durch meine geliebte Stadt wandeln. Doch welch ein
Anblick bot sich mir? Ich verachte mich dafür, dass ich nicht viel früher den
Mut fassen konnte, hierher zurückzukehren, zu dem Ort meiner Kindheit, meiner
Jugend und meiner Zeit als stolzer Krieger. Ich kann nun nichts mehr tun als
trauern um diese stolze Stadt, die so gramgebeugt ihr Dasein fristet – dem
Verfall ausgeliefert und der Vergessenheit so nah.
Langsam entfernen
sich die alten weißen Mauern – doch je größer die Entfernung wird, desto stärker
scheint mein Minas Tirith. Die Risse und die vielen eingefallenen Gebäude
entschwinden aus meinem Blickfeld. Ich sehe nur die starken weißen Mauern. Ich
schließe meine Augen und ich höre das Treiben der Menschen und das Schlagen der
Pferdehufe und das Lachen der Kinder. Das Versprechen Aragorns, das ich vor
ewiger Zeit sterbend entgegennahm, ist wahrer, als er es wohl selber glaubte:
Minas Tirith wird niemals fallen.
Weit unter mir rauscht das grüne
Wellenmeer. Dann ist es still und ich bin zu Haus.
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