Titel: Boromirs Tochter
Autor: FaramirsWife



Es war ein lauer Sommerabend. Boromir und Faramir waren mit ihren Soldaten von einem erfolgreichen Kriegszug gegen die Orcs in Ithilien zurückgekehrt. Sogar Denethor war an diesem Abend gutgelaunt und hatte sogar mal Worte des Lobes für Faramir übrig, den er sonst immer kritisierte.

Boromir spendierte eine Runde Bier nach der Anderen für die Soldaten. Sie saßen zusammen in der Soldatenschänke in einem der untersten Befestigungsringe von Minas Tirith. Man unterhielt sich, lachte, aß und trank.
Plötzlich ging die Tür auf und ein scheues junges Mädchen trat ein. Sie trug ein schlichtes, dunkelbraunes Reisekleid und hatte einen grauen Umhang mit Kapuze um die Schultern. Ihr fast hüftlanges Haar war rotblond und ihre Augen blau.
„Wer von euch ist der Heermeister des Weißen Turms?“, fragte sie schüchtern in die Runde. Die meisten Soldaten hörten sie nicht, weil der Lautstärkepegel in dem Raum so hoch war. Nur Faramir wurde ihr gewahr und er ging schnell zu seinem Bruder und informierte ihn.
„Da steht ein Mädchen, die dich sprechen will, Bruder“.
„Das ist bestimmt eine neue Verehrerin von mir“, grinste Boromir und drehte sich jetzt endlich nach der jungen Fremden um. Als er ihr Gesicht sah, erschrak er ein wenig.  Schnell trat er hin zu ihr.
„Wer bist du?“, fragte er mit klopfendem Herzen und musterte das Mädchen von oben bis unten. Sie mochte höchstens 15 oder 16 Jahre alt sein. Noch keine Frau, aber auch kein Kind mehr.
„Ich bin Atiniel, Nindé’s Tochter“, erklärte das Mädchen und sah Boromir mit großen, himmelblauen Augen an.
„Nindé’s Tochter“, flüsterte Boromir atemlos und schluckte. „Wo ist deine Mutter, Atiniel?“
„Meine Mutter ist tot“, sagte Atiniel leise und senkte den Blick.
„Aber wer kümmert sich jetzt um dich?“, fragte Boromir besorgt.
„Meine Mutter hat mir auf dem Sterbebett gesagt, wer mein Vater ist“, erwiderte Atiniel und sah Boromir fest in die Augen. „Sie hat gesagt, mein Vater würde sich um mich kümmern, wenn sie tot ist“.
„Ja, und wo steckt dieser Kerl, der sich nicht um sein Kind sorgt?“; fragte Boromir ärgerlich.
„Meine Mutter hat mir gesagt, dass mein Vater Boromir heißt und der Sohn des Truchseß von Gondor ist“, sagte Atiniel mit zitternder Stimme.
Boromir wurde kreidebleich und griff sich an die Kehle.
„Das kann unmöglich sein“, krächzte er. „Du willst mich zum Narren halten, Mädchen. Ich habe keine Tochter - das kann gar nicht sein“.
Atiniels Augen füllten sich mit Tränen und sie huschte schnell zur Tür hinaus.
Faramir hatte die ganze Szene beobachtet und trat jetzt zu Boromir hin.
„Was ist geschehen?“, fragte er teilnahmsvoll.
Boromir schilderte kurz, was ihm Atiniel erzählt hatte.
„Warum soll sie nicht deine Tochter sein?“, fragte Faramir erstaunt. „Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten und du warst lange in Nindé verliebt“.
„Nindé!“, wiederholte Boromir unglücklich. „Ich kann nicht glauben, dass sie tot sein soll“.
„Wo ist Atiniel jetzt hin?“, fragte Faramir besorgt. „Sie scheint ja niemand Anders als dich mehr auf dieser Welt als Angehörigen zu haben“.
Doch Boromir sagte nichts, sondern sank entmutigt auf einem Hocker.
Faramir beschloß, nach Atiniel zu sehen.
Atiniel lief derweil tränenüberströmt durch die Straßen der Weißen Stadt. Sie war noch nie in ihrem jungen Leben in so einer großen Stadt gewesen. Die vielen fremden Menschen flößten ihr Angst ein.
Plötzlich stieß sie mit einem betrunkenen Waldläufer zusammen.
„Oha“, machte der Waldläufer lallend. „Du kommst mir gerade recht, schöne Maid. Ich werde dich mit in meine Kammer nehmen und mir einen schönen Abend mit dir machen“.
Er packte sie derb am Handgelenk und wollte sie mit sich ziehen.
„Laßt mich in Ruhe, sonst schreie ich laut um Hilfe!“, rief Atiniel außer sich vor Wut.
Der Waldläufer lachte böse und zog sie derb an sich, um sie zu küssen. Atiniel schlug, kratzte und trat um sich.
„Du kleine Wildkatze!“,bellte der Waldläufer empört. „Ich werde dich schon noch zähmen“. Er holte aus, um Atiniel eine Ohrfeige zu verpassen.
In diesem Moment packte ihn Jemand von hinten und riß ihn von Atiniel weg.
„Oran, laß sie in Ruhe!“, rief Faramir wütend und schüttelte den Waldläufer. „Geh in dein Quartier und schlaf deinen Rausch aus!“
Oran grunzte und taumelte gegen eine Häuserwand. Dann erkannte er den jungen Heermeister.
„Oh verzeiht mir, Lord Faramir“, wimmerte er. „So etwas wird nie wieder vorkommen“.
Faramir sah ihm wütend hinterher. Dann wandte er sich an Atiniel, die wie ein verschrecktes Reh an der Mauer kauerte.
Er beugte sich zu ihr hinunter und lächelte sie aufmunternd an.
„Keine Angst, Mädchen, dir wird Niemand etwas in dieser Stadt tun - dafür werde ich sorgen“.
Atiniel fasste schnell Vertrauen zu Faramir.
„Ihr seid der Bruder von Boromir, nicht wahr?“
Faramir nickte und lächelte wieder.
„Ich denke, ich bin dein Onkel, Atiniel“.
„Wenigstens Ihr erkennt mich an“, seufzte Atiniel unglücklich. Sie wirkte müde und niedergeschlagen.
„Ich werde dir ein Quartier für die Nacht suchen“, schlug Faramir vor. „Der Morgen ist klüger als der Abend. Morgen werden wir weitersehen“.
Faramir führte sie mit sich in einen der oberen Festungsringe der Stadt. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden und das hektische Menschentreiben auf den Straßen und Gassen von Minas Tirith war fast zum Erliegen gekommen.
„Wo bist du aufgewachsen, Atiniel?“, fragte Faramir behutsam, der sofort spürte, dass sich das Mädchen in der großen, Weißen Stadt nicht wohlfühlte.
„Ich habe bisher in einem kleinen Dorf in Süd-Ithilien gelebt“, erklärte Atiniel. „Meine Mutter war nie verheiratet. Wir  haben in dem kleinen Häuschen meiner verstorbenen Großeltern gewohnt“.
„Und von was habt ihr gelebt?“; fragte Faramir fassungslos.
„Meine Mutter hat Reisenden Unterkunft gewährt und verkostet - für ein paar Goldstücke“, erzählte Atiniel. „Als sie dann krank wurde, habe ich an ihrer Stelle weitergearbeitet. Mutter war sehr besorgt um mich: sie wollte nicht, dass ich die Herberge alleine weiterführe. Sie regelte alles für einen Verkauf des Hauses nach ihrem Ableben.  Außerdem fragte sie im Dorf herum, ob mich eine Familie aufnehmen würde. Da ich aber ein uneheliches Kind ohne Vater bin, haben das alle Familien abgelehnt“.
„Das ist ja kaum zu glauben!“, murmelte Faramir kopfschüttelnd.
„Schließlich blieb meiner Mutter nichts anderes übrig, als mir den Namen meines Vaters zu nennen“, fuhr Atiniel gelassen fort. „Sie meinte, beim Sohn des Truchseß würde ich es guthaben. Sie hat mir auch einen Brief für Boromir mitgegeben“.
„Boromir hat von dir nichts gewusst“, erklärte Faramir bedrückt. „Wenn er eine Ahnung gehabt hätte, dass es dich gibt, dann hätte er sich bestimmt schon viel früher um dich gekümmert“.
„Meine Mutter hat nie von meinem Vater gesprochen“, sagte Atiniel leise. „Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte“.
Sie erreichten das Haus von Emeldir und Sirwen. Sirwen war eine entfernte Verwandte von Finduilas, der Mutter von Faramir und Boromir. Faramir wusste, dass er dem älteren Ehepaar das Mädchen ohne Bedenken anvertrauen konnte. Sie würden Denethor nichts verraten.
Emeldir öffnete mit verschlafenen Blick die Tür.
„Was veschafft mir die Ehre zu so später Stunde, Faramir?“, fragte er erstaunt.
„Könnt ihr dieses Mädchen bei euch heute nacht aufnehmen?“
Emeldir hob die Kerze, die er in der Hand hielt, um Atiniels Gesicht zu beleuchten.
„Wer ist sie?“
„Darf ich hereinkommen?“; drängte Faramir. „Hier draußen möchte ich nicht darüber reden“.
Emeldir bat die Beiden herein. Inzwischen war auch Sirwen wachgeworden. Sie legte sich schnell einen Umhang über und begrüßte Faramir herzlich. Dann gab sie auch dem Mädchen die Hand und betrachtete es nachdenklich.  
„ Ist das deine oder Boromirs Tochter?“, fragte sie sofort.
„Sirwen!“, machte Emeldir empört. „Wie kannst du es wagen, so etwas zum Heermeister von Gondor zu sagen!“
„Das ist schon in Ordnung“, sagte Faramir lächelnd. „Sirwen ist schließlich eine Base meiner Mutter. Sie darf so mit mir reden. Aber sie hat recht: Atiniel ist Boromirs Tochter“.
Sirwen schlug entsetzt die Hände vor dem Mund.
„Was wird Denethor dazu sagen?“
„Daran möchte ich jetzt lieber nicht denken“, seufzte Faramir. „Aber es wäre mir recht, wenn ihr Atiniel heute nacht bei euch schlafen lasst. Morgen werden wir weitersehen“.
„Natürlich, Faramir“, nickte Emeldir eifrig. „Deine Nichte ist uns willkommen“.
Sirwen legte liebevoll den Arm um Atiniel und bereitete ihr ein Nachtlager vor. Faramir war erleichtert, als er das sah.
„Ich danke euch - ihr seid wahre Freunde und Vertraute. Aber ich muß jetzt dringend zu Boromir zurück und mit ihm reden“.
„Tu das!“, meinte Emeldir stirnerunzelnd.
 
Boromir war der Letzte, der noch an den Tischen der Schänke saß und trank. Die anderen Soldaten waren längst schlafengegangen. Die Sache mit Ataniel ging ihm nicht aus dem Kopf. Warum hatte ihm Nindé nie etwas von seiner Tochter erzählt? Er erinnerte sich noch an den Streit, den sie damals gehabt hatten, bevor sie entgültig mit ihren Eltern nach Süd-Ithilien abreiste. Sie war ein stolzes, junges Mädchen gewesen, das seinen eigenen Kopf hatte.
Fast unbemerkt war Faramir wieder in die Schänke getreten.  
„Warum hast du Nindé damals ziehenlassen?“
Boromir fuhr erschrocken herum.
„Mann, musst du hier hereinhuschen wie ein Geist?“
„Du hast sie geschwängert, aber nicht geheiratet“, stellte Faramir ernst fest.
„Ich wusste nicht, dass sie schwanger war“, erklärte Boromir finster. „Sie hat mir nie was davon gesagt“.
Faramir verschränkte die Arme und sah ihn fest in die Augen.
„Aber du weißt doch, dass Frauen irgendwann schwanger werden, wenn man oft genug mit ihnen....“
„Jaja!“, unterbrach ihn Boromir gereizt. „Wir haben aufgepasst, aber anscheinend halt nicht gut genug“.
„Schon alleine die Tatsache, dass du oft bei ihr warst, wäre Anlaß genug gewesen, sie zu heiraten“, fuhr Faramir mit erhobener Stimme fort. „Ich dachte, du hättest ein wenig mehr Ehre im Leibe“.
„Du hast keine Ahnung, kleiner Bruder“, lächelte Boromir böse. „Du warst ja damals fast noch ein Kind. Vater hätte die Verbindung zwischen mir und Nindé nie geduldet. Er mochte ihre Familie nicht: fahrende Kaufleute aus Süd-Ithilien. Für den künftigen Truchseß von Gondor nicht gut genug“.
„Dann hast du Nindé eben nicht richtig geliebt“, stellte Faramir sachlich fest.
„Jetzt reicht’s aber!“, brüllte Boromir und haute mit der Faust auf den Schanktisch, so dass die leeren Pokale und Becher dort klirrten.
„Was weißt du denn schon über die Liebe, kleiner Bruder! Ich laß mir doch von dir Naseweis nichts erzählen!“
„Ich werde sicher irgendwann einmal eine Frau lieben“, erklärte Faramir ganz ruhig. „So ahnungslos wie du denkst, bin ich nun auch wieder nicht“.
Boromir lachte höhnisch auf.
„Bei den Valar! Du ahnst nicht, wie sehr ich Nindé geliebt habe. Aber dann rückten die Orks in Osgiliath ein und Vater brauchte mich an seiner Seite im Kampf. Ich hatte die Wahl: Gondor oder Nindé.  Ich konnte mein Land nicht im Stich lassen. Als ich aus der Schlacht von Osgiliath zurückkehrte, war Nindé spurlos verschwunden. Ich hatte keine Zeit, sie zu suchen, weil die Orks erneut zum Schlag gegen Gondor ausholten“.
„Ich weiß“, sagte Faramir bedrückt.
„Ach, gar nichts weißt du“, fuhr Boromir rüde fort. „Während ich in Osgiliath  gegen die Orks um mein Leben gekämpft habe, saßest du warm und gemütlich in der Bibliothek von Minas Tirith und hast dich von  Mithrandir Gandalf unterrichten lassen“.
„Ich war erst 14 Jahre, als das alles passierte“, wehrte sich Faramir aufgebracht.
Boromir gähnte plötzlich.
„Es ist spät, kleiner Bruder. Wir sollten uns schlafen legen. In wenigen Stunden ist die Nacht vorüber“.
Faramir packte Boromir unsanft an den Schultern.
„Willst du gar nicht wissen, wo deine Tochter abgeblieben ist?“
„Ich habe Kopfschmerzen“, stöhnte Boromir und befreite sich von Faramirs festem Griff.
„Laß mich bitte mit dieser Geschichte in Frieden bis morgen früh, ja?“
„Atiniel hat Niemanden auf der Welt außer dir“, sagte Faramir leise. „Du sollstest das nicht vergessen, großer Bruder“.
 
Boromir hatte keine Ahnung, wie er in sein Schlafgemach oben im Palast gekommen war. Auf jeden Fall erwachte er wie gerädert. Sein Kopf hämmerte wie eine Pauke und das grelle Sonnenlicht, das zum Fenster hereinschien, schmerzte in seinen Augen. Er zog schnell wieder die Decke über den Kopf und drehte sich auf die andere Seite. Doch schlafen konnte er jetzt nicht mehr. Er musste an Atiniel und Nindé denken. Er hatte keine Ahnung, wie er die Vaterschaft Denethor beibringen sollte. Der Truchseß würde außer sich sein: wahrscheinlich würde er Boromir hart bestrafen. Vielleicht würde er ihn sogar seines Amtes entheben. Boromir wälzte sich unruhig hin und her. Sein Kopf schmerzte immer mehr. Dieser verdammte Brandwein aus Anorien! Nein, Denethor würde ihn nicht seines Amtes entheben: ohne ihn an der Spitze des Heeres würde Gondor verloren sein. Faramir würde so eine Aufgabe nicht bewältigen können. Faramir war ein guter Soldat, aber er verabscheute den Krieg und das Töten - und das war schlecht für einen Heerführer.
Plötzlich klopfte es an der Tür. Es war ein Palastdiener.
„Der Truchseß wünscht Euch zu sehen, Lord Boromir“.
Boromir fluchte leise und erhob sich schließlich. Neben seinem Bett stand eine Schüssel mit frischem Wasser auf einem Holzschemel. Boromir spritzte sich ein paar Mal Wasser ins Gesicht. Jetzt fühlte er sich schon ein wenig besser. Dann zog er sich schnell an: Hemd, Hose und Tunika. Zum Schluß noch die Wildlederstiefel. Seufzend schlurfte er in den Thronsaal, wo Denethor wie ein Geier gebeugt auf dem Stuhl unterhalb des Thrones saß. Er musterte Boromir streng.
Boromir schlug das Herz bis zum Halse hinauf. Ob sein Vater schon etwas von Atiniel wusste?
„Du hast lange geschlafen“, bemerkte Denethor düster. „Es ziemt sich nicht für den künftigen Truchseß von Gondor, den halben Tag zu verschlafen“.
„Es war der Brandwein“, gestand Boromir verlegen. „Ich muß gestern nacht zuviel davon erwischt haben“.
Denethor lächelte plötzlich nachsichtig.
„Naja, auch ich war einmal jung, Boromir. Du solltest dir jedoch solche Gelage nicht zur Regel machen“.
„Ja, Mylord“, sagte Boromir sichtlich aufatmend.
„Wo steckt eigentlich dein missratener Bruder?“, fragte Denethor gehässig. „Ich erwarte ihn auch zur Unterredung, aber er leistet ja, wie fast immer, mir keinen Gehorsam. Mithrandir Gandalf - nur ihm gehorcht er. Ich wünschte, dieser verfluchte graue Pilger würde endlich Mittelerde verlassen“.
Normalerweise widersprach Boromir immer, wenn sein Vater schlecht von Faramir sprach, nur heute war ihm einfach nicht dannach. Er war heilfroh, dass sein Vater das mit Atiniel noch nicht gemerkt hatte.
„Ich gehe ihn suchen, Vater“, meinte Boromir schließlich.
 
Faramir war bereits am frühen Morgen zu Sirwen und Emeldir gegangen und hatte sich nach Atiniels Befinden erkundigt.
„Die Kleine schläft noch“, sagte Sirwen lächelnd. „Sie muß eine anstrengende Reise von Süd-Ithilien hierher gehabt haben“.
„Dann lasst sie schlafen“, meinte Faramir zufrieden.
„Wie soll das mit dem Mädchen weitergehen?“, fragte Emeldir etwas ungehalten. „Wir würden sie ja gerne hierbehalten. Du weißt , dass  uns eigene Kinder versagt geblieben sind und wir uns immer eine Tochter gewünscht haben. Aber wir können sie nicht auf Dauer vor Denethor verbergen. Er würde uns bestrafen, wenn irgendetwas herauskäme“.
„Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, Emeldir“, sagte Faramir gelassen. „Ich nehme alle Schuld auf mich, falls es soweit kommen sollte“.
Sirwen brach in Tränen aus, als sie das hörte.
„Du bist so ein guter Mensch, Faramir - und dein Vater ist so ungerecht zu dir. Es ist ein Glück, dass Finduilas das nicht mehr miterleben muß. Es würde ihr das Herz zerreißen, wenn sie dein Leid mitansehen müsste“.
Atiniel trat jetzt schüchtern in das Gemach.
„Guten Morgen“, sagte sie und strahlte die Drei an.
„Ich hoffe, du hast dich gut von den Strapazen der Reise erholt“, sagte Faramir lächelnd.
„Ich würde jetzt gerne meinen Vater sehen und ihm den Brief von meiner Mutter geben“, erwiderte sie.
„Iß erst mal was, mein Kind“, meinte Sirwen besorgt und holte Milch, Käse und Brot.
„Wir werden zusammen zu Boromir gehen“, sagte Faramir, während Atiniel aß. Das Mädchen war sehr hungrig: sie schien schon seit Tagen nichts mehr Vernünftiges gegessen zu haben.
 
Atiniel war ziemlich nervös, als sie zusammen mit Faramir Richtung Palast ging. Sie hatte Angst vor Boromir. Er sah zwar Faramir ziemlich ähnlich, schien aber vom Charakter her viel grimmiger zu sein als sein Bruder.
„Ich wünschte, du wärst mein Vater, Faramir“, sagte Atiniel plötzlich.
„Was?“ Faramir sah sie erstaunt an.
„Du kümmerst dich um mich und bist außerdem sehr nett“, erklärte Atiniel. „So habe ich mir immer einen Vater vorgestellt“.
„Nun ja, für so eine große Tochter bin ich wohl etwas zu jung“, meinte Faramir verlegen. „Aber du musst keine Angst vor Boromir haben. Er ist vielleicht etwas rau, aber auch herzlich. Und ich liebe ihn über alles“.
Als sie den letzten Festungsring erreichten, der die Burg und den Weißen Turm umgab, begegnete ihnen Boromir.
„Faramir, wo steckst du die ganze Zeit?“, fragte er aufgeregt. „Vater zürnt dir, weil du heute morgen nicht zur Besprechung erschienen bist“.
Sein Blick fiel jetzt auf Atiniel.
„Guten Morgen, Mädchen“, sagte er etwas verlegen.
„Guten Morgen, Vat....äh, Mylord“, stotterte Atiniel und wurde knallrot.
„Soll ich euch alleine lassen?“, fragte Faramir und konnte ein Schmunzeln kaum verbergen.
„Du solltest schleunigst zu Vater gehen“, meinte Boromir. „Ich denke, Atiniel und ich haben einiges zu besprechen“.
 
Faramir eilte in den Thronsaal. Denethor starrte ihn finster an.
„So, geruhst du endlich, zu mir zu kommen?“
„Es tut mir leid, Vater, ich wurde aufgehalten“, sagte Faramir hastig.
Denethor durchbohrte ihn fast mit seinem Blick. Faramir war es richtig unangenehm, so angestarrt zu werden. Er wusste, dass sein Vater manchmal die Fähigkeit hatte, in die Herzen der Menschen zu sehen. Auch er, Faramir, hatte diese Gabe geerbt. Doch jetzt verwünschte Faramir, dass es diese Fähigkeit in seiner Familie gab.
„Du verbirgst irgendetwas vor mir, Sohn“, sagte Denethor gereizt.
„Was sollte ich denn verbergen?“, fragte Faramir und tat etwas erstaunt.
„Du willst es mir also nicht sagen“, knurrte Denethor. „Wieder einmal enttäuscht du mich, weil du kein Vertrauen zu mir hast“.
„ICH habe nichts vor dir zu verbergen“, betonte Faramir gelassen.
„Sollte ich herausbekommen, dass du mich hintergehst, mögen die Valar dir gnädig sein, Sohn!“, drohte Denethor. „Und jetzt geh! Ich kann deinen Anblick nicht länger ertragen“.
Diese Worte trafen Faramir wie Pfeile ins Herz. Sichtlich geknickt verließ er den Thronsaal.
 
Boromir nahm Atiniel mit in seine Privatgemächer, die weit weg von denen Denethors im Palast lagen. Atiniel sah sich staunend in dem rießigen Kaminzimmer um, wo bequeme Sessel standen und ein rießiges Warg-Fell vor dem offenen Kamin lag.
„Magst du etwas trinken oder essen?“, fragte Boromir unsicher.
„Danke, ich habe gerade von Sirwen etwas bekommen“, lehnte Atiniel freundlich ab.
Boromirs Gesicht hellte sich auf.
„Ach, dort hat dich Faramir hingebracht: das war eine gute Idee von ihm. Sirwen ist eine Verwandte von unserer Mutter“.
Atiniel nahm schüchtern auf einem Sessel Platz.
„Ich habe ein Schreiben meiner Mutter für dich dabei“, sagte sie und zog eine kleine Pergamentrolle zitternd aus ihrem Umhang.
Boromir öffnete die Rolle und begann zu lesen. Während er las, traten ihm fast die Tränen in die Augen. Ja, Nindé hatte ihn bis zuletzt geliebt. Doch ihr beider  unbeugsamer Stolz hatte verhindert, dass aus dieser Jugendliebe von einst mehr geworden war.
Atiniel sah, wie gerührt Boromir war, und sie begann selbst zu schniefen.
„Komm her zu mir, mein Kind“, sagte Boromir zärtlich und schloß sie endlich in die Arme. Zusammen beweinten sie Nindés Tod.
 
Faramir lief in Gedanken versunken durch die Straßen von Minas Tirith. Die Bürger verbeugten sich vor ihm und grüßten ihn, doch heute achtete Faramir, der sonst immer ein freundliches Wesen hatte, nicht darauf. Die haßerfüllten Worte seines Vaters setzten ihm mehr zu, als er ertragen konnte. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum Denethor ihn für so wertlos erachtete. Dabei kämpfte er tagtäglich von Neuem um die Anerkennung seines Vaters. Faramir blieb seufzend stehen. Manchmal wünschte er sich im stillem, dass er tot wäre. Würde dann sein Vater ihn beweinen?
Wenige 100 Schritte hinter ihm verlor plötzlich ein Händler die Kontrolle über seinen Wagen mit einem Pferdegespann. Die Pferde rasten wie toll die steile Straße zum nächsten Festungsring hinab.
„Achtung, aus dem Weg!“ , brüllte der Händler verzweifelt und versuchte, die Rösser anzuhalten. Für Faramir kam jedoch diese Warnung zu spät. Als er sich umdrehte, wurde er bereits von der Eisenstange, die das Gespann zusammenhielt, zur Seite geschleudert. Faramir prallte unsanft mit dem Kopf und der rechten Schulter gegen eine Hausmauer und blieb liegen. Sofort eilten die Bewohner der Weißen Stadt herbei.
„Oh weh, es ist Faramir!“, rief Jemand entsetzt. „Bringt ihn in die Häuser der Heilung!“
Der Händler, der inzwischen sein Gespann wieder zur Ruhe gebracht hatte, raufte sich verzweifelt die Haare. Soldaten der Turmwache nahmen ihn gefangen und schleppten ihn hinauf zum Palast.
Denethor saß dumpf brütend auf seinem Thronsessel und war damit beschäftigt, ein gebratenes Huhn zu zerteilen, als er einen Tumult draußen in den Gängen hörte.
„Bitte tötet mich nicht!“, jammerte der Händler. „Es war ja keine Absicht von mir. Meine Pferde sind...“
„Schweig still!“, zischte Beregond, der Hauptmann der Turmwache erbost. „Der Truchseß soll über dich entscheiden“.
Denethor ahnte Schreckliches. Er schob das Essen von sich und erhob sich. Mit kreidebleichem Gesicht beobachtete er, wie die Soldaten den armen Händler hereinführten.
„Was ist geschehen?“, fragte der Truchseß mit brüchiger Stimme.
„Er hat Faramir mit seinem Pferdekarren überfahren“, berichtete Beregond knapp. Denethors Herz setzte einen Schlag aus. Er musste sich setzen.
„Ist Faramir, ist er tatsächlich...?“
„Nein, Mylord“, sagte Beregond schnell. „Er liegt in den Häusern der Heilung, aber es steht nicht gut um ihn“.
„Werft den Händler in den Kerker“, befahl Denethor mit zitternder Stimme. „Ich werde später über ihn entscheiden. Jetzt ist nicht die rechte Zeit dafür“.
„Bitte, Myiord“, flehte der Händler verzweifelt. „Ich habe Frau und 7 Kinder“.
Doch Denethor hörte nicht auf ihn, sondern verließ eilends den Thronsaal. Er brauchte jetzt Boromir. Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten suchte er Boromirs Gemächer auf. Ohne anzuklopfen, riß er die Tür zu den Privatgemächern seines ältesten Sohnes auf. Boromir aß gerade mit Atiniel zu Mittag, als Denethor ins Zimmer stürzte.
Boromir sprang erschrocken auf und Atiniel verschluckte sich vor Schreck, als sie den Truchseß in seinem pelzbesetzten Gewand sah. Doch Denethor achtete nicht so.
„Boromir, es ist etwas Schreckliches mit Faramir passiert - komm mit!“, sagte der Truchseß mit erstickter Stimme.
Boromir wusste, dass er jetzt stark bleiben  und seinem Vater eine Stütze sein musste. Als er zuletzt seinen Vater so aufgelöst gesehen hatte, war das beim Tode von Finduilas.
Denethor eilte voraus zu den Häusern der Heilung.
„Ich will mit !“, rief Atiniel mit heller Stimme.
„Nein, mein Kind“, sagte Boromir kopfschüttelnd. „Womöglich ist Faramir zu schrecklich zugerichtet. Du würdest einen Schock bekommen“.
„Ich will aber mit“, sagte Atiniel trotzig. „Ich habe schon viele Verwundete gesehen während der Kämpfe mit Mordor und auch schon selbst Welche gepflegt“.
„Du bist starrköpfig wie deine Mutter“, seufzte Boromir. „Also gut - komm mit!“
Er brachte sie zu den Häusern der Heilung, die in der Nähe des Palastes lagen. Man hatte Faramir in einen extra Raum gebracht. Dort lag er jetzt auf einem Bett und war bewusstlos. Um Kopf und Schulter hatte er einen Verband.
Denethor saß an seinem Bett und betrachtete ihn kummervoll. Boromir und Atiniel betraten die Kammer leise.
„Was ist passiert, Vater?“, fragte Boromir mit gedämpfter Stimme, den Blick auf Faramir gerichtet.
„Eine Karre mit wildgewordenen Pferden hat ihn angefahren“, erzählte der Truchseß, der plötzlich um Jahre gealtert wirkte. „Er hat viel Blut verloren. Leider ist Ioreth, die große Heilerin momentan in Ithilien unterwegs, um neue Kräuter zu sammeln. Ich habe bereits Eilboten losgeschickt, aber ich fürchte, sie werden es nicht rechtzeitig schaffen“.
„Gibt es sonst keine Heiler hier?“, fragte Atiniel verwundert.
Denethor sah sie entrüstet an.
„Nein“, sagte Boromir sanft zu ihr. „Der alte Melendil ist leider vor kurzem gestorben. Jetzt haben wir nur noch Ioreth. Die Anderen hier in den Häusern sind zu unerfahren“.
„Vielleicht kann ich helfen“, sagte Atiniel plötzlich. „Meine Großmutter hat mir einiges beigebracht. Wir hatten auch schon verwundete Soldaten bei uns im Haus zum Pflegen“.
„Wer ist sie?“, fragte Denethor Boromir ungehalten.
Doch Dieser schlug die Augen nieder.
„Ich kann Faramir helfen“, rief Atiniel dazwischen. „Bitte lasst mich!“
„Also nun gut, bei den Valar, dann hilf ihm!“, sagte Denethor schließlich verzweifelt, der sah, dass sich Faramirs Zustand fast minütlich verschlechterte.
Atiniel löste die Verbände um Faramirs Kopf und Schulter und zog eine Handvoll Kräuter aus ihrer Umhängetasche hervor, die sich auf die klaffenden Wunden legte.
„Was ist das?“, fragte Boromir interessiert.
„Das ist Athelas - Königskraut“, erzählte Atiniel. Geschickt legte sie die Verbände wieder um.
Denethor wich nicht von Faramirs Seite, während Atiniel und Boromir hinaus in den Garten gingen.
„Ich wusste gar nicht, dass du mit Heilkunst auskennst“, sagte Boromir erstaunt. „Ich bin richtig stolz auf dich, Tochter“.
Atiniel strahlte als er das sagte. Zum 1. Mal nannte er sie „Tochter“ .
Doch Boromir erwiderte ihr Lächeln nicht: zu groß waren seine Sorgen um Faramir.
„Er wird es schaffen“, versicherte Atiniel hoffnungsvoll. Boromir lächelte schwach.
Kurze Zeit später kehrten die Beiden wieder an Faramirs Lager zurück. Denethor war inzwischen verschwunden.
„Er wurde durch wichtige Amtsgeschäfte weggerufen“, erzählte eine von Ioreths Dienerinnen.
Atiniel versorgte Faramirs Wunden mit frischen Kräutern.
„Es sieht schon besser aus“, meinte sie fröhlich. „Er wird bald wieder zu sich kommen“.
„Das müssen ja die reinsten Wunderkräuter sein“, seufzte Boromir.
Plötzlich schlug Faramir tatsächlich die Augen auf.
„Was ist passiert?“,  fragte er mit schwacher Stimme. Boromir traten Freudentränen in die Augen.
„Es geht dir wieder besser, hurra!“, rief er.
Boromir erzählte ihm, dass Denethor sich ernstliche Sorgen um ihn machte.
„Ich kann das gar nicht glauben“, sagte Faramir und hustete. „Heute morgen war noch so gemein zu mir“.
„Vater liebt dich, auch wenn er es dir nicht zu zeigen vermag, das musst du mir glauben“, beteuerte Boromir. „Auch zu mir war er heute morgen ziemlich ungerecht. Du kennst doch seine Art, Faramir“.
Er fuhr Faramir lachend über den rotblonden Lockenschopf. Faramir lächelte schwach und schlief wieder ein.
Einige Tage später konnte Faramir - dank Atiniels Heilkräuter - bereits wieder die Häuser der Heilung verlassen. Denethor hatte sich nicht mehr blicken lassen, als er gehört hatte, dass es Faramir wieder besser ging. Boromir  holte selbst seinen Bruder ab.
Faramir trug noch den rechten Arm in der Schlinge und wirkte ein wenig blaß.
„Wir sollen Vater aufsuchen“, erzählte Boromir auf dem Weg in den Palast, wo Atiniel auf sie wartete. Sie trug jetzt ein schönes rotes Kleid, das einst Finduilas gehört hatte.
„Weiß Denethor schon von ihr?“, fragte Faramir leise.
„Er weiß noch nicht, dass ich ihr Vater bin“, erwiderte Boromir mit gedämpfter Stimme. „Er hat sich aber erkenntlich gezeigt, weil sie dir das Leben gerettet hat. Sie darf jetzt offiziell im Palast wohnen“.
Denethor erwartete die Drei bereits. Er saß auf seinem schwarzem Stuhl im Thronsaal und musterte sie nach der Reihe, als sie vor ihm standen. Atiniel erschauerte vor seinem Blick: sie hatte das Gefühl, als würde er ihr bis ins Herz sehen.
„Wer von euch Beiden ist ihr Vater?“, fragte Denethor schließlich streng. Boromir holte tief Luft, bevor er antwortete.
„Ich bin Atiniels Vater“.
Denethor wurde erst blaß, dann krebsrot im Gesicht. Er sah erst Boromir lange an, dann Atiniel, und zum Schluß Faramir.
„Du bereitestunserem Haus Schande, Boromir“, sagte Denethor schließlich mit finsterer Miene. „Wenn  das in Minas Tirith bekannt wird, verlieren wir unser Gesicht vor unserem Volk“.
Boromir senkte schuldbewußt den Kopf:
„Ich war damals jung und einfältig. Ich war mir der Folgen für mein Handeln nicht bewusst. Verzeiht mir, Mylord!“
Denethor wandte sich jetzt an Faramir:
„Und du hast die ganze Zeit davon gewusst und mich nicht davon in Kenntnis gesetzt. Zur Strafe werdet ihr beide nach Süd-Ithilien reiten und zusammen mit unseren Soldaten die Grenzen zu Mordor absichern. Ihr werdet mindestens ein halbes Jahr dort bleiben und euch dort im Kampf bewähren. Vorher will ich keinen von euch in Minas Tirith wieder sehen“.
„Und was wird aus meiner Tochter?“, fragte Boromir eingeschüchtert.
„Ich werde schon einen Platz für sie finden“, erwiderte Denethor kühl.
„Ich will, dass es ihr gut geht“, forderte Boromir etwas mutiger.
„Keine Bange, ich bin ja kein Unmensch“, sagte Denethor schief lächelnd.
Boromir und Faramir mussten noch am selben Tag Minas Tirith verlassen. Immerhin durfte sich Atiniel von ihnen verabschieden.
„Ich werde euch vermissen“, sagte sie schniefend. Boromir brach schier das Herz, seine Tochter nach so kurzer Zeit schon wieder verlassen zu müssen. Er kämpfte ebenfalls mit den Tränen.
„Du wirst sehen - ein halbes Jahr geht schnell herum“, sagte er und versuchte ein Lächeln.
Atiniel fiel ihm weinend in die Arme. Boromir begann jetzt auch leise zu schniefen. Auch Faramir standen die Tränen in den Augen, als er sich von seiner Nichte verabschiedete.
„Laß dich nicht unterkriegen, Mädchen“, sagte er tapfer lächelnd.
Atiniel sah den Beiden nach, wie sie langsam  davonritten. Eine Abteilung Soldaten folgte den Beiden.
Atiniel kehrte traurig wieder in den Palast zurück.
Denethor erwartete sie bereits.
„Du wirst die Stadt auch so schnell wie möglich verlassen“, erklärte er streng. „Wenn Boromir zurückkehrt, wirst du nur noch eine Erinnerung für ihn sein“.
„Aber warum denn? Er ist doch mein Vater!“, rief Atiniel verzweifelt.
„Boromir ist zu wichtig“, fuhr Denethor grimmig fort. „Er soll Gondor in eine bessere Zeit führen. Einst wird er der neue Truchseß werden. Ja, er hätte sogar das Zeug zum König. Ein tapferer und edler Krieger ist er. Aber seine Schwäche sind wohl die Frauen. Ich wünschte, Faramir wäre dein Vater - dann hätte ich Grund, euch beide zu verstoßen“.
„Faramir ist ein guter Mensch!“, rief Atiniel empört. „Warum redet Ihr so verächtlich über Eueren jüngeren Sohn?“
Denethor lächelte kalt:
„Er ist ein Schwächling. Ich hoffe, er bewährt sich jetzt in Süd-Ithilien.  Vielleicht wird aus ihm noch ein guter Heermeister, wenn ich ihn oft genug ins kalte Wasser schmeiße“.
„Darf ich jetzt in meine Gemächer gehen?“, fragte Atiniel wütend.
„Du gehst nirgendwo hin“, sagte Denethor böse. „Eine Abteilung Soldaten wird dich auf ein kleines Landgut in Anorien bringen. Dort lebt ein kinderloses, gut situiertes Ehepaar, das dich mit Freuden aufnehmen wird. Und merke dir eins: kehre nie wieder nach Minas Tirith zurück und laß weder Boromir noch Faramir wissen, wo du bist, denn sonst bin ich gezwungen, deinen Vater zu verstoßen, und Gondor wird untergehen. Von dir hängt die Zukunft der Menschheit ab, mein Kind“.
Über Atiniels Wangen rollten dicke Tränen, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie durfte ihrem Vater nicht im Weg stehen. Noch am selben Tag verließ sie mit den Soldaten Minas Tirith.
Atiniel sah weder Boromir noch Faramir jemals wieder.


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