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Titel: Faramir
und das Einhorn Autor: FaramirsWife
Der dreizehnjährige Junge mit den rotblonden Locken saß gelangweilt im
Studierzimmer und hörte nur mit halbem Ohr seinem Lehrer zu, Herrn Feanor, der
gerade einen Vortrag über Númenor hielt. Faramir wusste längst alles über
Númenor: seit seinem vierten Lebensjahr konnte er lesen und er hatte schon die
meisten Bücher aus der Bibliothek von Minas Tirith verschlungen. Aber das durfte
sein Lehrer nicht wissen, und sein Vater erst recht nicht. Während Feanor
weiterredete, blickte Faramir aus dem Fenster und sah den weißen Wolkengebilden
zu, die über den blauen Himmel zogen. Immer wieder schienen neue Figuren aus den
Wolken zu entstehen: Drachen, Riesen, Trolle, Elben, Zwerge und zuletzt ein
Einhorn. Faramir hielt den Atem an, als er dieses Wolken-Einhorn erblickte. Es
sah so echt aus. Schon seit er ein kleiner Junge war, hatte er sich gewünscht,
einmal ein echtes Einhorn zu sehen. Er würde es sich dann fangen und zähmen. Es
gab niemanden in Gondor, der ein Einhorn besaß. „Faramir!“ sagte Feanor
mahnend und räusperte sich. „Kannst du mir bitte etwas über die letzte Königin
von Númenor erzählen, die ertrank, als die Insel im Meer versank? Ich möchte
wissen, ob du gut aufgepasst hast.“ „Aber natürlich“, erwiderte der Junge
lächelnd und erzählte dem Lehrer alles, was er wissen wollte. Erstaunt
blickte Feanor Faramir an. Er hatte eigentlich stets den Eindruck, dass der
Junge nicht bei der Sache war, wenn er etwas vorlas. Doch stets wusste er die
richtige Antwort, wenn er etwas fragte. „Gut“, meinte Feanor zufrieden, „
dann können wir den Unterricht für heute beenden.“ Er klappte sein Buch ein
und räumte die Schreibfeder weg. Auch Faramir packte seine Schiefertafel unter
den Arm. „Eine Frage hätte ich noch an Euch, Herr Feanor“, meinte er
verlegen, bevor sie das Studierzimmer verließen. „Und die wäre?“ „Gibt
es in Mittelerde eigentlich Einhörner?“ fragte Faramir leise. Feanor
runzelte die Stirn und schob sich die eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Nun, mein Junge, in Gondor wurde seit über tausend Jahren kein Einhorn mehr
gesehen. Man sagt sich, dass sich die Einhörner in den Norden hinauf verzogen
haben. Dorthin, wo keine Menschen leben. Sie sind sehr scheu, musst du wissen.
Aber ich frage mich, warum du auf diese Frage kommst.“ „Mir war gerade
dannach“, meinte Faramir achselzuckend und verabschiedete sich.
Der Junge lief zu seinen Gemächern, die im Haus der Truchsessen lagen.
Das Haus lag unterhalb der Zitadelle. In seinem Arbeitszimmer stand ein kleiner
Imbiß, der als Mittagsmahl dienen sollte. Nur abends aß die Truchsessfamilie
zusammen. Da gab es dann immer ein reichhaltiges Menü. Faramir legte sich
auf sein Bett und biß herzhaft in einen Apfel. Die Einhörner gingen ihm einfach
nicht aus dem Sinn. Heute Nachmittag hatte er frei, weil sich der
Schwertkampf-Lehrer verletzt hatte. Eine gute Gelegenheit, durch die Wälder zu
streifen und vielleicht nach Einhörnern zu suchen. Gesagt, getan: Faramir
ging zu den Ställen und sattelte sich sein graues Pony Celeb. Als er Celeb aus
dem Stall führte, begegnet ihm Boromir. „Was hast du denn vor, Kleiner?“
fragte der Achtzehnjährige neugierig und stemmte die Hände in die Hüften.
„Ich will ein wenig in den Wald reiten“, sagte Faramir ausweichend und wagte
seinen Bruder kaum anzusehen. „Dann pass nur auf, dass du keinem Ork
begegnest“, warnte Boromir den Jungen. „Ich habe meinen Bogen dabei für den
Fall des Falles“, erwiderte Faramir stolz. „Komm nicht zu spät zurück, sonst
macht Vater Ärger“, rief ihm Boromir noch hinterher.
Faramir hatte es eilig, aus der Stadt herauszukommen. Er wollte so schnell wie
möglich die Wälder Ithiliens erreichen. Die Sonne stand bereits im Südwesten,
als er den Wald erreichte. Er ließ sein Pony in leichten Trab fallen auf dem
breiten Waldweg. Eigentlich war es ein Hirngespinst, hier einem Einhorn begegnen
zu wollen. In Ithilien gab es höchstens Orks, aber keine solch edlen Kreaturen.
Faramir beschloß, zu seinem Lieblingsplatz zu reiten, dem Grünen Tümpel. Am Ufer
des kleinen Waldsees stieg er vom Pony und setzte sich an einem Baum. Er ließ
einige Kieselsteine ins Wasser plumpsen. Bald würde er wieder aufbrechen und
nach Hause reiten müssen, sonst würde es Ärger mit seinem Vater geben. Seufzend
erhob sich Faramir wieder und dann sah er es: auf der anderen Seite des Tümpels
trat ein edles, weißes Pferd mit einem mächtigen Horn auf der Stirn zwischen den
Bäumen hervor. Ehrfürchtig blieb Faramir stehen und wagte kaum zu atmen. So
ein schönes Wesen hatte er noch nie gesehen. Das Einhorn hatte einen viel
anmutigeren Körper als normale Pferde. Sein Kopf war kleiner und sein Hals wurde
von einer sehr dichten silbernen Mähne bedeckt. Das Einhorn gab nun ein helles
Wiehern von sich und verschwand wieder. Sogleich lief Faramir zu seinem Pony
zurück. „Celeb, wir müssen das Einhorn fangen!“ rief der Junge seinem Pony
begeistert zu. Rasch galoppierte er auf die andere Seite des Tümpels, wo er
das Einhorn zuletzt gesehen hatte. Doch jetzt schien es spurlos verschwunden
zu sein. Faramir suchte noch ein wenig die Gegend ab, aber er konnte keine
Hufspuren, außer die seines eigenen Ponys, sehen. Enttäuscht ritt er nach Hause.
Er kam gerade noch rechtzeitig zum Nachtmahl zurück. Als ihn sein Vater beim
Essen fragte, was er heute gemacht habe, platzte der Junge mit der großen
Neuigkeit heraus. „Vater, ich habe heute in den Wäldern Ithiliens ein
Einhorn gesehen.“ Boromir lachte schallend, als er das hörte, doch der Vater
blieb ernst. „Du bist ein Träumer, Faramir!“ sagte er streng. „Du bist schon
soweit, dass du die Wirklichkeit nicht mehr von einem Traum unterscheiden
kannst. Du wirst solange nicht mehr in die Wälder reiten, bis du wieder normal
geworden bist.“ Faramir sah ihn entsetzt an. Dabei hatte er am nächsten Tag
wieder in den Wald reiten wollen, um das Einhorn erneut zu sehen.
Statt Ausreiten waren nun jeden Nachmittag Schwertkampfübungen für
Faramir angesagt. Denethor hatte sich rasch um einen Ersatz-Lehrer gekümmert. Es
war Madril, ein erfahrener Waldläufer. Eines Nachmittags fragte Faramir den
Waldläufer, als sie Pause machten, ob er schon einmal ein Einhorn in Ithilien
gesehen hatte. „Nein, noch nie, junger Herr“, gestand Madril erstaunt.
„Soviel ich weiß, gibt es in Mittelerde keine Einhörner mehr.“ „Vor einigen
Tagen habe ich aber eines gesehen“, sagte Faramir zögernd. „Es war am Grünen
Tümpel.“ „Ich würde an Euerer Stelle nicht mehr zum Grünen Tümpel gehen,
junger Herr“, warnte Madril. „Man sagt, es sei ein verwunschener Ort und eine
Waldhexe wohne dort.“ Faramir erschauderte ein wenig, als er das hörte, und
er nahm sich fest vor, nicht mehr zum Grünen Tümpel zu reiten. Er
absolvierte gehorsam jeden Nachmittag seine Schwertkampfübungen und nach einigen
Wochen zeigte sich Denethor endlich gnädig und erlaubte Faramir wieder
auszureiten. „Aber ich will keine unsinnigen Geschichten von dir mehr hören,
mein Sohn“, mahnte der Truchseß seinen Jüngsten. „Ich verspreche es Euch,
mein Vater“, gelobte Faramir feierlich.
Am gleichen Nachmittag ritt Faramir auf Celeb aus. Er ließ das Pony einfach
traben. Erstaunt stellte er fest, dass Celeb in die Wälder laufen wollte.
„Was willst du denn dort, Celeb?“ frage der Junge sein Pony erstaunt.
Celeb schnaubte kurz auf und schlug den Weg Richtung Grüner Tümpel ein.
„Ich habe Angst, Celeb, weißt du das?“ flüsterte Faramir ihm zu. Das
Pony trottete jedoch nicht zu Faramirs Lieblingsplatz, sondern umrundete den
Grünen Tümpel, bis es zu dem Ort kam, wo Faramir vor wenigen Wochen das Einhorn
gesichtet hatte. Celeb wieherte kurz auf und dann teilten sich die Büsche:
das Einhorn trat hervor. Faramir wäre um ein Haar vom Pony gefallen, so
erschrocken war er. Aus der Nähe sah das Einhorn noch edler aus. Es blickte
Faramir freundlich aus grünlich schimmernden Augen an. Der Junge verspürte den
Wunsch, das Tier zu streicheln. Er stieg vorsichtig vom Pony und ging langsam
auf das Einhorn zu. „Darf ich dich streicheln, Schönheit?“ fragte er
ehrfürchtig. In diesem Moment kam eine menschliche Gestalt aus den Büschen.
Faramir wusste nicht, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Das
Wesen war von überirdischer Schönheit und hatte langes, silberweißes Haar, ganz
ähnlich wie das Einhorn. Es war in weiße, schimmernde Gewänder gekleidet, und
eine helle Aura schien es zu umgeben. Faramir blieb wie angewurzelt stehen.
Er hielt das Wesen für einen Elb. Noch nie hatte er einen Elb aus der Nähe
gesehen. „Ich grüße Euch, Herr Elb“, sagte er verlegen auf Sindarin.
„Ich bin kein Elb, Faramir von Gondor“, sagte das Wesen mit einer
glockenhellen Stimme. „Ich bin ein Valar und heiße Onoldar.“ Faramir fing an
zu zittern und wich langsam zurück. „Ich wollte nur mein Einhorn
zurückholen“, erzählte der Valar freundlich. „Es ist mir entlaufen.“ „Und
ich dachte, in Mittelerde gibt es vielleicht noch Einhörner“, sagte Faramir
etwas bedrückt. Onoldar lachte leise, als er das hörte. „Die Einhörner
leben schon lange in Valinor. Sie wurden in den vergangenen Zeiten von Menschen,
Zwergen und Orks gejagt. Ihre Hörner enthalten gewaltige Zauberkräfte“, erzählte
er sodann. „Es wurden so viele von ihnen getötet, dass der Agametor, der König
der Einhörner, beschloß, mit seinem Volk nach Valinor zu gehen. Und dort leben
sie für alle Zeiten in Frieden.“ „Das ist schön zu hören“, sagte Faramir
etwas erfreuter. „Ich wusste nicht, dass man die Einhörner jagte, um sie zu
töten.“ „Du bist ein guter Mensch“, meinte Onoldar lächelnd und legte sein
Hand auf Faramirs Schulter. „Du wirst einst eine hohe Stellung in Gondor
einnehmen, wenn der König zurückkehrt.“ Der Junge wurde ganz blaß, als er
das hörte. Er konnte das kaum glauben: das Geschlecht der Könige war doch
angeblich ausgestorben und eine hohe Stellung in Gondor würde er nicht einnehmen
können, da ja sein Bruder der Erbe des Truchsessen war. „Ich glaube, ich muß
jetzt nach Hause“, stammelte Faramir ganz verwirrt. Der Valar verabschiedete
sich von dem Jungen und setzte sich auf das Einhorn. Dann galoppierte er so
schnell wie der Wind davon.
Während Faramir nach Hause ritt,
vergaß er auf wundersame Weise das, was der Valar ihm prophezeit hatte, doch die
Begegnung mit dem Einhorn blieb für immer in Faramirs Gedächtnis haften. Und
immer, wenn es ihm in späteren Zeiten schlechtging, dachte er an das
wunderschöne Tier und seine Stimmung hob sich augenblicklich.
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