Titel: Wege
Autor: Ilkiran


Allein

Ein arbeitsreicher Tag ist zu neigt sich dem Ende zu. Wir haben uns die Regierungsgeschäfte geteilt. Jeder von uns erfüllt sehr erfolgreich seinen Aufgabenbereich.
Aragorn vermittelt zwischen den Stämmen und Völkern, ist er doch fast ein Diplomat geworden. Gimli kümmert sich mit Strenge um die Finanzen und hat dafür gesorgt, das Korruption und Ausbeutung in Mittelerde fast gänzlich abgenommen haben. Ich selbst koordiniere den Handel und die staatlichen Projekte, die der Bevölkerung Nutzen bringen sollen.

Wir sind erfolgreich in unseren Bestrebungen.

Unsere Arbeit tut dem Land gut. Selbst einige Elben aus den Elbenstädten zieht es jetzt zu den Menschen.
Wir werden geschätzt und geachtet.
Gimli hat eine Familie gegründet.
Mein Pflegesohn genießt eine gute Ausbildung, zeigt keine Neigung zu der nachgesagten Grausamkeit seines Volkes.
Aragorn liebt mich.

Wir treffen uns abends in unseren Privaträumen. Besprechen den Tag, bereiten uns auf die Aufgaben des nächsten Tages vor.
Gimli verlässt uns, zieht sich zu seiner Familie zurück.

Ich bleibe mit meinem geliebten König allein.
Wir lieben uns.
Zärtlich, ohne daß einer von uns die Überlegenheit über den anderen erlangen möchte.
Unsere Beziehung ist innig, herzlich, voll von gegenseitiger Wertschätzung.

Und unbefriedigend.

Ich bin einsam.

Neben mir liegt mein König. Schläft friedlich und träumt von seiner Aufgabe.
Ich betrachte ihn aufmerksam, auf die Ellbogen aufgestützt. Ziehe mit zarter Hand seine Gesichtskonturen nach, küsse ihn leicht.

Dann muß ich fort.
Wieder einmal treibt es mich weg.

Es.

Ich springe auf, werfe die lästige, beengende Decke weg. In immer kürzeren Abständen muß ich fliehen, drängt es mich nach draußen.
Rasch bin ich angekleidet, nicht in meine offiziellen Gewänder, die ich nun meistens trage, sondern in die unauffälligeren Straßenkleidung des einfachen Volkes. Als Mitglied der Regierung bin ich nun nicht mehr zu erkennen, stelle ich mit Erleichterung fest, als ich meine Erscheinung im Spiegel überprüfe. Nur der flackernde Blick in meinen Augen bereitet mir Sorgen. Er verrät mich.
Irgendwann wird mich Aragorn danach fragen, einer der Berater wird darauf aufmerksam werden.
Es ist mir gleichgültig.
In mir gibt es nur einen Wunsch.
Auf versteckten Wegen eile ich durch den Palast bis ich durch eine unbedeutende Seitentür ins Freie treten kann. Die Nacht ist kühl, sie erfrischt meinen erhitzten Geist, streichelt meine fiebernde Stirn. Wolken ziehen auf, wie ich mit einem flüchtigen Blick in den Himmel feststellen kann. Mein Weg führt mich ein Stück weit vom Palast weg, in eine der Straßen, in der die Kutschen stehen, mit der eilige Passagiere gegen Geld an erwünschte Orte gebracht werden. Auch des Nachts. Viele Leute nehmen nun dieses Transportmittel in Anspruch, denn die Straßen sind breit und gut ausgebaut. Die großen Straßen des Königssitzes jedenfalls.
Das Reich blüht.
Ich werfe mich in eines dieser Gefährte, gebe mit heiserer Stimme den Ort an, an den ich gefahren werden möchte. Der Kutscher sieht mich erstaunt an. „So weit fahre ich nicht, dort draußen sind die Wege zu schlecht, es ist zu weit, …“
Bevor der Mann meinen Auftrag ablehnen kann, biete ich ihm ein großes Geldstück an, erkläre ihm mit leiser, aber eindringlichen Stimme, daß er sich beeilen solle, es sei sehr wichtig.

Er fährt los, nachdem er zuerst mich, dann das Geld prüfend betrachtet hat.
Das Pferd ist stark und bewegt sich geschickt durch die Kurven der Straße, vom Mann auf dem Kutschbock angetrieben. Regentropfen schlagen auf das Dach des Wagens, prasseln immer stärker herunter, lassen die Sicht aus den Seitenfenstern streifig werden. Schemenhafte Gebäude huschen an mir vorbei. Fußgänger werden seltener.
Ich sehe auf die Straße, die hier noch gut befahrbar erscheint. „Schneller, beeilt Euch!“, treibe ich Mann und Pferd an. Ich muß in kurzer Zeit in dem Viertel sein, das ich niemals mehr aufsuchen wollte, alles, jede Faser meines Körpers treibt mich dorthin. Unversehens überkommt mich meine Gier, die sich nicht lange aufschieben läßt.
Wann hat mich diese unbeherrschbare Unruhe wieder eingeholt? Sind Gedanken und Vorstellungen gefolgt, von denen ich geglaubt habe, daß ich sie erfolgreich in den tiefsten Untergrund meines Geistes verbannt hätte? Wurde das Verlangen stärker, unbezwingbarer, der Hunger von Tag zu Tag quälender?
Und die Einsamkeit stärker.
Sicher, Aragorn besitzt mein Herz – nein, den kleineren, noch makellosen Teil meines Herzens. Ich gab ihn gerne, aus Liebe.

„Wirklich?“, höhnt diese wiedererwachte, heimtückische Stimme in meinem Ohr, „Aus Liebe? Weißt du eigentlich was das ist? Nennen sie dich nicht den Elb mit dem kalten Herzen?“

Hätte mir Sirk’an denn überhaupt helfen können? Der Mann aus dem Alten Volk beherrscht meine Gedanken, die krampfhaft nach einem Ausweg suchen.
Der Wagen schaukelt stärker, rumpelt laut über das jetzt schadhaft gewordene Pflaster. Ich nähere mich meinem Ziel.
Aber Aragorn kann mir nicht helfen, wie sollte er, er der sich ganz seiner Aufgabe aufopfert, sich seiner Bestimmung hingibt, auch verstehen können, was mich aus dem Regierungspalast wegtreibt. In diese verrufene Gegend hinzieht.
Das Wissen betäubt, den Kampf um meine Seele schon bald verloren zu haben.
An einer Ecke, die von halbverfallenem Mauerwerk begrenzt wird, hält der Kutscher kurz an, damit ich herausspringen kann. Ich nicke ihm dankend zu und husche in den Schatten des nächsten Dachvorsprungs. Mit tief heruntergezogener Kapuze, von einem schwarzen Umhang verhüllt, mustere ich die Umgebung.
Es hat sich nicht viel verändert.
Nur, daß ich heute mit Geld bezahlen kann.

Anisa bedient mich mit unwilliger Miene, wollte sie mich doch nie wieder in der Schenke sehen. In diesem Zustand.

Begierig tauche ich ein in die Welt des Kräutertees.
Finde das ersehnte Vergessen, die kurze Befreiung.
Wohl wissend, daß mein Scheitern in greifbare Nähe gerückt ist.

Nazgul, Nazgul, Nazgul

So tönt es durch den Schleier der Kräuter in meinen Verstand.


Beginn

Unendliche Dämmerung umschließt mich.
Sie ist in mir, sie fließt aus mir heraus.
Ich bin die Dunkelheit
Wo immer ich auch hingehe.

Ich habe die Elben verlassen, die Menschen wenden sich ab von mir.
Ich bin allein.
Fast allein.
Jedoch
Stark. Mächtig. Überlegen.

Niemand vermag mich mehr zu rufen.
Die Stimmen sind verstummt.
Ich kenne keine Zweifel mehr.
Kein Zögern lähmt meinen Geist.

Ein Mensch liegt zu meinen Füßen.
Ich stehe über ihm.
König. Aragorn. Freund?

Ich ziehe ihn zu mir hoch. Wie leicht er doch ist. Und wie warm.
Gewichtslos und biegsam liegt mein König in meinen Armen.
Fügsam.
Willenlos.
Ausgeliefert.
Sein Herz spürt meine wachsende Macht.
Wehrt sich nicht dagegen.

Keinerlei Unsicherheit lastet mehr auf meinem Geist.
Der unendliche Zwiespalt in mir hat sich geschlossen.

Ich danke dir, Aragorn.
König. Freund. Ewiger Geliebter.
Ich liebe dich.
Ich brauche dich.

Sanft fasse ich ich dich unter die Arme, hebe dich empor zu mir.
Dein Blick ist verhangen.
Ich beuge mich über deinen Hals, senke meine Zähne in dein Fleisch.
Nehme dein warmes, lebenspendendes Blut in mich auf.
Unsere Vereinigung ist vollkommen.
Nie wirst du mich verlassen.

Ich liebe dich.
Ich brauche dich.
Ich danke dir, Aragorn

Nazgul, Nazgul, Nazgul


~~~~~