Titel: Qualen der Seele
Autor: Lady of Gondor


Es hatte schon gedämmert und die Schwingen der Nacht nahmen das letzte Licht des Tages mit sich. Überall im letzten gastlichen Haus von Mittelerde waren Kerzen entzündet worden, damit die Dunkelheit wenigstens innerhalb des Hauses vom Licht vertrieben wurde. Warm flackernd warfen die Kerzen ihr Licht an die Wände. Doch in einem Raum brannte nicht eine einzige Kerze. Dunkelheit herrschte dort und umfing die einsame Gestalt, die dort reglos am Fenster stand und hinausblickte.

Seine Augen waren in die Ferne gerichtet und doch schienen sie unruhig umherzuirren. Ein leises Seufzen löste sich von seinen Lippen und nur an seinen zu Fäusten geballten Händen konnte man erkenne, dass er innerlich mit sich selbst kämpfte. Nicht einmal die Kinder des Himmels konnten diese Unruhe verhindern, auch wenn sie oftmals der Hoffnung Lichtschimmer waren.

Noch einmal versuchte er, dem Unausweichlichen zu entgehen, bevor er den Kampf aufgab. Erste Tränen liebkosten seine Wange und spiegelten das sanfte Mondlicht wieder. Ihnen folgten Weitere. Lautlos und ungesehen fielen sie in die Tiefe und obwohl er dachte, dass sie vielleicht seine Seele erleichtern würden, war dies nicht so. Mit jeder vergossenen Träne spürte er die Qual deutlicher als zuvor. Doch er wollte vergessen und so schlug er voller Wut gegen den kalten Stein der Wand. Flammend durchzuckten Blitze des Schmerzes seinen Körper in seine geballte Faust. Ein dünnes Rinnsal Blut floss dort, wo die Haut dem plötzlichen Aufprall nicht Stand halten konnte.
Und für einen Moment stillte es die Qual seiner Seele. Aber nur, um Sekunden später wieder daran zu erinnern.

Wo war seine Stärke geblieben, wenn er sich brauchte - wo war die Mauer, die seine Seele vor den Abgründen bewahrte? Nur ein einziger Moment hatte all dies zerstört und ihn der namenlosen Qual überlassen. Ohne Schutz oder der Möglichkeit, sich zu wehren.
Er war ein Krieger, präzise brachte er den Tod und konnte sich vielen Gefahren erwehren. Schlachten, die aussichtslos waren und Verluste, die sein Herz brachen. Narben, die für die Ewigkeit in seinem Herzen Bestand haben würden. Und über all diesem Leid war er nicht verzweifelt, sondern hatte gekämpft und das nicht nur für sein Leben. Niemals hatte er sich so sehr der Dunkelheit hingegeben und zu keiner Zeit wünschte er sich so sehr das Ende herbei, wie zu diesem Zeitpunkt.

Was war ein Leben in der Ewigkeit, wenn es von Einsamkeit begleitet war? Von einer Einsamkeit, die wie ein Fluch alles mit sich nahm, was ihm am Herzen lag. Gil-Galad starb in seinen Armen und nahm einen Teil seines Herzens mit sich. Ein Krieg, dessen Sieg er hoch bezahlen musste. Denn mit dem Hochkönig der Elben starb auch ein Teil seines Herzens. Celebrian war es, die den verbleibenden Teil seines Herzens in ihren Händen bettete und es mit Liebe zum Leben brachte. Doch auch dieses Glück war von kurzer Dauer und wurde ihm von Feindeshand entrissen. Er war hilflos dagegen und musste mit ansehen, wie sie nach der Rettung von Tag zu Tag schwächer wurde. Der größte Heiler Mittelerdes hatte versagt. Wieder musste er mit ansehen, wie ihm genommen wurde, was er liebte. Und obwohl er sie halten wollte, ließ er sie schließlich ziehen. Denn nichts wäre für ihn schlimmer gewesen, als seine Frau dem Leiden der ewigen Erinnerung zu überlassen.

Elrond schloss seine Augen und wollte diesen Erinnerungen entgehen, doch sie ließen seine schmerzende Seele nicht zur Ruhe kommen. Er sah die Augen seiner Frau, voller Leid und quälenden Erinnerungen. Eine stumme Bitte, ohne deren Gewährung sie niemals von seiner Seite gewichen wäre. Er jedoch war in diesem Moment stark - stark für Celebrian und seine Kinder. Es musste so sein und seine Entscheidung war nicht die Stimme des Heilers in ihm, sondern die eines liebenden Ehemannes. Erst in der Abgeschiedenheit seines Gemaches war er an diesem Tag zusammengebrochen und hatte sich seinen Gefühlen ergeben.

So hatte niemand den wahren Elrond gesehen, verletzt und gequält und an dieser Tatsache hatte sich bis heute nichts geändert. In den Augen seiner engsten Freunde war er stark, ebenso für seine Kinder. Nur manchmal sahen sie hinter seine Fassade, überwanden jedoch die hohe Mauer um seine Seele nicht.

Während Elrond in seinen Gemächern immer weiter in die Dunkelheit trieb, stand eine einsame Gestalt im Garten. Den Blick stumm auf das Fenster seines Freundes gerichtet, verharrte er dort. Und obwohl es dunkel war, konnte er die Tränen auf dem geliebten Gesicht sehen. Bittere Tränen, doch vor allem einsame Tränen. Wie sehr wünschte er sich, diesen Schmerz von Elronds Seele zu nehmen und ihm stattdessen etwas Wärme und Geborgenheit zu geben.
Schon lange wusste Erestor, mit welchem Schmerz sein Freund kämpfte. Nie hatte er ihn jedoch so dicht an sich herangelassen, dass die Einsamkeit etwas anderem weichen konnte.

Beinahe spürte er Elronds Leid in seinem eigenen Herzen und er beschloss, dass es nun genug sein. Zu lange schon hatte er zugelassen, dass sich der Herr über Imladris immer mehr zurückzog und sich hinter Arbeit versteckte. Seiner Meinung nach wäre es endlich an der Zeit, die dicken Mauern zu durchbrechen, die sein Freund im Laufe der Zeit um sich aufgebaut hatte. Vielleicht musste man Elrond einfach zu seinem Glück zwingen und seine Augen vom Schleier des Schmerzes befreien.

Denn es schien Erestor beinahe so, als hätte Elrond die Sicht für die schlichten Dinge verloren. Sonst hätte er nämlich die Blicke bemerkt, die seinen Bewegungen folgten oder Erestors trauriges Lächeln, wenn er wieder einmal die Einsamkeit einem Gespräch vorzog.
Ein leises Seufzen entwich Erestors Lippen und er wandte seinen Blick schließlich ab. In dem Wissen, dass keine Tränen schmerzvoller sind, als jene, die heimlich geweint werden, ging er langsam zurück ins Haus.

Seine Gedanken drehten sich darum, wie er Elrond helfen könnte und vor allem, wie er sich Zugang zu dessen verletzten Herzen verschaffen sollte. Noch mehr Schmerzen wollte Erestor seinem Freund auf keinem Fall zufügen. Aber was wäre, wenn Elrond ihn zurückstoßen würde? Nie hatte er ihn merken lassen, dass er mehr als nur Freundschaft für ihn fühlte. Denn er wusste, dass Elrond noch nicht bereit dafür war - das es sein Herz noch nicht war.

Unbewusst hatten ihn seine Schritte zu dem Gemach seines Freundes gebracht. Noch einmal atmete er tief durch, bevor er an das verzierte Holz von Elronds Tür klopfte. Doch es kam keine Antwort. Erestor vernahm weder ein Geräusch, noch die Aufforderung zum Eintreten. Er verharrte für einen Moment und gab dann der Stimme der Sorge nach. Langsam betrat er das Gemach des Herrn über Imladris und wurde beinahe von der Dunkelheit erdrückt. Doch er brauchte nicht lange zu suchen, denn Elrond hatte sich nicht vom Fenster fortbewegt.

Bewegungslos stand er immer noch dort, doch sein Körper erbebte unter den stummen Tränen. Es schmerzte Erestor, seinen Freund so zu sehen - gebrochen und schutzlos ausgeliefert, wie ein neugeborenes Kind. Für einen Moment zögerte der dunkelhaarige Berater, bevor er sich - langsam und auf jede Bewegung bedacht - Elrond näherte. Immer noch wies nichts darauf hin, dass dieser das Eintreten seines Beraters bemerkt hatte.

Direkt hinter Elrond hielt Erestor schließlich inne. Nun, da sich alles entscheiden würde, verließ ihn beinahe der Mut. Vielleicht lag es nicht in seinem Recht, einfach in Elronds Gemach einzudringen und dessen Herz von den Fesseln des Schmerzes befreien zu wollen. Aber vielleicht lag es auch nicht in seiner Macht, seinem Freund mit der Wärme von Freundschaft und Liebe helfen zu können. Aber Erestor konnte nur auf einem Weg herausfinden, ob sein Tun falsch war: er durfte jetzt nicht aufgeben.

Zaghaft streckte er seine Hand aus und berührte leicht Elronds Schulter. Sofort zuckte dessen Körper verräterisch zusammen und blitzschnell wandte er sich um. Doch was er sah, verwunderte ihn zutiefst. Dort stand kein Feind, das Schwert zum letzten Schlag erhoben, sondern Erestor. Sorgende Augen trafen auf die seinen, voller Schmerz und Qual. Er wollte sich abwenden und seinem Berater befehlen, den Raum zu verlassen - nicht als Freund, sondern als Herr über Imladris. Doch er brachte es nicht fertig. Irgendetwas sagte ihm, dass Erestor wie ein Stern am dunklen Himmel war, nämlich ein Lichtschimmer.

In diesem Augenblick hatte der dunkelhaarige Berater nach Elronds Hand gegriffen. Sanft, aber doch bestimmt wollte er ihn festhalten... die Gefahr einer Flucht bannen. Denn diesen Wunsch hatte er in den Augen seines Freundes gelesen. Er spürte das plötzliche Zurückzucken des Anderen und bemerkte erst jetzt, dass Elronds Hand blutete. Vorsichtig führte er sie zu seinen Lippen und stillte mit zarten Küssen den körperlichen Schmerz.
"Erestor..."
Elrond wollte sich diesen Berührungen entziehen, verursachten sie doch ein warmes Gefühl... ein Gefühl, dass nicht sein durfte.
"Schhhhtttt."
Ein Lächeln umspielte Erestors Lippen, als er die Hand seines Freundes über sein Herz legte.
"Spürst Du es? Es schlägt in einem ihm eigenen Rhythmus. Doch es schlägt auch für Dich, Elrond."

Mit diesen Worten nahm Erestor seinen ganzen Mut zusammen und eroberte Elronds Lippen. Heiß und salzig fühlten sie sich unter seinen an. Es war nur eine kurze Berührung... vergleichbar mit Schneeflocken, deren Weg auf der erhitzten Haut zweier Liebenden ein Ende fand. Und doch wirkte sie so intensiv, dass Elrond seine Bedenken vergaß. Trotzdem entzog er sich der Umarmung seines Freundes und blickte wieder hinaus in den sternenbedeckten Himmel. Er war zutiefst verwirrt. Dieser scheue Kuss seines Freundes und Beraters hatte ihm Gefühle offenbart, die längst vergessen geglaubt waren.
Sollte es tatsächlich so sein, dass sein Herz noch lieben konnte und jemand die Macht besaß, die Mauer zu durchdringen?

Er wusste die Antwort bereits, wollte sich dies aber nicht eingestehen. In diesem Moment spürte er zwei Arme, die sich um seine Taille legten. Vorsichtig wurde er gegen Erestors Körper gezogen, fühlte die Wärme, die von seinem Freund ausging. Doch war da auch Geborgenheit und ein Gefühl, dass langsam den Weg zu seinem Herzen fand.
"Siehst Du die Sterne Elrond? Sie sind immer dort am Himmel, spenden Licht und helfen Verirrten, den Weg wieder zu finden. Wenn Wolken sie verdecken, kämpfen sie darum, mit ihrem Licht die Nacht zu erhellen. Oftmals sind sie winzig und doch vermögen sie so viel."

Erestors Stimme war dicht an Elronds Ohr und obwohl er ihn kaum verstand, wusste er doch um die Bedeutung von dessen Worten. Egal, wie dunkel es war, es gäbe immer ein Licht und sei es noch so klein. Nur dürfte man nicht aufgeben, danach zu suchen oder gar die Augen davor zu verschließen. Und ihm wurde klar, dass er genau das getan hatte. Versunken in seinen Schmerz hatte er die Liebe und Freundschaft nicht bemerkt, die ihm entgegengebracht wurde.

Ein Lächeln umspielte Elronds Lippen und er schloss trotzdem seine Augen, wollte seinem Herzen das Sehen überlassen. Dabei wurde er von Erestors Stimme geführt, die von den Geschichten erzählte, die in besonderen Sternen wohnte... von Liebenden, die dort auf dem Himmelzelt in Form zweier Sterne jede Nacht aufeinander trafen. So standen sie noch lange am Fenster… der Elbenherrscher und sein Berater.


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