Titel: Kleine Helden: Alpträume
Autor: Lady of Gondor



Mit großen Augen saß ein kleiner Junge an einem Tisch in der großen Bibliothek von Imladris und starrte auf ein Buch vor sich. Immer wieder blickte er auf das Bild und versuchte die Worte auf der gegenüberliegenden Seite zu entziffern. Aber egal, wieviel Mühe sich der Junge gab, er konnte es nicht lesen, war er doch der elbischen Schrift noch nicht mächtig. Verzweifelt versuchte er sich an die Lektionen zu erinnern, die ihm Erestor schon beigebracht hatte, was jedoch auch nicht viel Wirkung zeigte.

Schließlich gab es der kleine Junge auf und begnügte sich damit, auf das kunstvoll gezeichnete Bild zu starren. Er war so sehr fasziniert davon, dass er den hochgewachsenen Elb nicht bemerkte, der ungewöhnlich geräuschvoll hinter ihn trat.
Estel....." Ein erschrockener Aufschrei unterbrach Glorfindel und der Menschenjunge drehte sich abrupt um. Etwas tolpatschig zog er sein kleines Holzschwert und hielt mitten in der Bewegung inne, als er den vermeintlichen "Feind" erkannte. Freudig sprang Estel vom Stuhl und umarmte den überraschten Glorfindel. Dieser lächelte nur und streichelte dem Jungen durch die dunklen Haare. "Was treibt denn einen so mutigen und tapferen Krieger in die Bibliothek?" Diese Frage konnte Estel natürlich sofort beantworten. Mit strahlenden Augen nahm er das Buch vom Tisch und hielt es Glorfindel hin. "Da guck...."

Dieser besah sich die Seite und musste schmunzeln, war dort doch Smaug der Drache abgebildet. "Weißt Du wer das ist Estel?" Der junge Mensch schüttelte den Kopf und senkte traurig seinen Kopf. "Ich kann das nicht lesen." Verständnisvoll nickte Glorfindel, setzte sich nun selbst auf den Stuhl und hob Estel auf seinen Schoß. "Na dann lass uns mal zusammen versuchen, diese schwierige Schrift zu entziffern." Dies ermutige Estel schon wieder ein wenig, denn wenn Glorfindel als Krieger und Balrogschlächter lesen konnte, dann würde auch er selbst es schaffen.

Geduldig las Glorfindel aus dem Buch vor und erzählte dem kleinen Jungen von der wahren Geschichte des Drachens. Denn natürlich war nicht alles in diesem Buch festgehalten, was sich wirklich ereignet hatte. Dabei erklärte er Estel auch hier und da die Bedeutung eines Schriftzeichens, hielt sich damit aber zurück. Zum ersten wollte er Erestor nicht das Vergnügen des Unterrichtens nehmen und zum zweiten war der junge Mensch viel mehr von der Geschichte fasziniert.

"Aber warum war der Drachen denn böse Glorfy? Hätte ich einen Drachen, dann würde ich mit ihm hoch über Imladris fliegen und all Orks anbrennen oder verjagen."
Bei diesen Worten fuchtelte Estel mit seinem blauen Plüschesel, Blaufell, herum. Er demonstrierte damit wohl einen Bruchlandung, denn wenig später fiel Blaufell auf den Boden.

Glorfindel konnte ein Lachen nicht unterdrücken und ob das Plüschtier auf, während er nach einer Antwort für diese Frage suchte. Er wusste, dass er sich geradewegs in ein von Estels gefürchtetes Frage-Antwort-Spiel begab.
Weißt Du Estel...alle Drachen sind böse."
Und warum?"
Weil sie schon böse auf die Welt kommen."
Für einen Moment herrschte Stille, doch dann schien Estel eine neue Frage zu haben.
Aber sie waren doch auch mal kleine Babydrachen und bestimmt total süß. Und Babys sind nie böse."
Schon wollte Glorfindel ihm erklären, dass weder die Zwillinge noch er im Babyalter die Unschuld von Imladris waren, aber das würde mehr Fragen aufwerfen. Und so entschloss er sich zur Flucht nach vorne.

* ~ *

"Drachen sind nicht süß und deshalb hat sie auch keiner lieb. Und Geschöpfe, die nicht liebt gehabt werden, die werden nun mal böse."

Verständnislos sah Estel ihn an.
Aber ich finde Drachen süß. Und andere bestimmt auch, aber dann erzählst Du ihnen, dass Drachen böse sind. Deshalb werden sie bestimmt auch als böse gehalten.“
Niemand mag Drachen...."
Langsam wurde Glorfindel ungeduldig und fragte sich, warum er immer das Ziel dieser Fragen war und nicht etwa Elrond oder Erestor.
Ja weil Du sagst, dass sie böse sind."
Das sage aber nicht nur ich. Dein Ada mag Drachen auch nicht und Erestor bestimmt auch nicht."
Genervt verdrehte Glorfindel seine Augen, als der junge Mensch schon zu einem Gegenargument ansetzen wollte. Doch er schloss seinen Mund wieder und dachte für einen Moment nach.
Wenn ich mal größer bin, dann such ich ein Drachenei und packe es ganz warm in mein Bettchen ein. Und den Drachen habe ich dann ganz lieb... dann wird er bestimmt nicht böse."

Glorfindel musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszulachen. Denn er konnte sich vorstellen, wie Elrond reagieren würde, fände er eines Morgens einen Drachen in dem Bett seines Sohnes. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, hört er die vorsichtige und auch ängstliche Stimme Estels.
Glorfy... werde ich auch böse?"
Der Noldo setzte den kleinen Jungen nun auf den Tisch und sah ihn an. Tränchen hatten sich in seinen Augen gesammelt und all die Freude über die Geschichte schien verschwunden.
Warum solltest Du böse werden, mein kleiner Krieger?"
Weil Nana und Ada mich nicht gerne hatten. Sie haben mich einfach alleine gelassen... sind einfach weg gegangen und nicht mehr wieder gekommen."

Erschrocken blickte Glorfindel den jungen Menschen vor sich an, dem inzwischen ungehindert die Tränen über die Wangen flossen. Er wollte vom Tisch klettern und weglaufen, aber das verhinderte der Elb. Vorsichtig hob er den zitternden Estel auf seinen Schoß und strich im die Tränen weg.
Das stimmt nicht Estel, sie haben Dich sogar sehr lieb gehabt. Aber sie konnten nicht bei Dir bleiben, dabei wäre dies wohl ihr größter Wunsch gewesen."
Aber..." Der kleine Junge sniefte und sah Glorfindel aus großen, traurigen Augen an.
Nichts aber... sie wollten Dich aufwachsen sehen und Dein Glück teilen. Doch dies war nicht der Wille der Valar und deshalb bist Du nun hier. Und auch wenn Du glaubst, sie seien weg... sie sind immer bei Dir mein Junge."
Er lächelte den Menschen an und trocknete dessen Wangen mit einem Teil seiner Tunika.

"Glaubst Du das Glorfy?
Ich glaube es nicht, ich weiß es Estel."
Nun lächelte auch Estel wieder ein wenig und kuschelte sich an den blonden Elb. Dieser verstand die Geste und hielt den Menschenjungen einfach nur fest. Ganz langsam verebbte auch das Zittern seines Körpers und es dauerte nicht lange, da war Estel eingeschlafen. Seinen rechten Daumen hatte er dabei im Mund, während der kleine Plüschesel ganz fest an ihn gepresst war.
Dieses Bild schenkte dem Balrogtöter ein Lächeln, denn in diesem Moment sah der kleine Estel friedlich aus. Wenn man ihn so sah, dann glaubte man gar nicht, wieviel Streiche durch seinen kleinen Kopf umherirrten.

~ * ~

Ganz vorsichtig stand der blonde Elb auf und trug den schlafenden Menschen in sein Gemach. Er murmelte im Schlaf unverständliche Silben, wachte aber nicht auf. Behutsam legte Glorfindel ihn auf das große Bett und deckte den Jungen zu. Auch jetzt erwachte er nicht, sondern drehte sich auf die Seite und kuschelte sich an die ganzen Plüschtiere, die sein Bett bevölkerten. Einen Moment lang verweilte Glorfindel noch bei dem Schützling seines Freundes und verließ dann leise das Zimmer. Er sah schon nicht mehr, wie der Körper des kleinen Jungen anfing zu zittern.

Eine Blumenwiese wurde von der Sonne in wärmendes Licht getaucht und vereinzelt waren noch die feinen Tautropfen auf den Blüten zu sehen. Ein kleiner Junge rannte fröhlich lachend durch das Gras und jagte nach farbenfrohen Schmetterlingen. Doch sie waren alle zu flink für ihn und so ließ er sich bald an einem kleinen Bach nieder. Mit einem hellen Lachen plantschte er in dem kühlen Wasser, als sich plötzlich die Sonne verfinsterte. Ein großer Schatten fiel auch auf ihn und der Junge sah fasziniert an den Himmel, denn dort flog ein majestätischer Drache. Selbst als dieser wenige Schritte von ihm entfernt landete, blieb Estel mit offenem Mund stehen und starrte das Wesen an.
Bist Du ein Drachen?"
Ohne Scheu und doch mit ein wenig Angst, tapste der Junge auf das Wesen zu und hielt ihm ein Blümchen hin. Doch der Drache spie seinen feurigen Atem auf die Blume, die sofort in Estels Händen zerfiel. Sekunden später ertönte eine grollende Stimme, die selbst den Boden zum erzittern brachte.
Drachen sind böse Menschenkind... niemand liebt sie. Auch Dich wird niemand lieben... Ausgestoßener. Aber ich hab Dich zum Fressen gern." Mit diesen Worten riß der Drache sein Maul auf und.....


Mit einem Schrei fuhr Estel aus dem Schlaf hoch. Sein ganzer Körper zitterte und die Erinnerung an den Traum trieb ihm die Tränen in die Augen. Schutzsuchend presste er Blaufell an sich und sah sich in seinem Zimmer um. Der Mond zeichnete unheimliche Schatten auf seine Wände, während der Wind den Bildern in seinem Kopf Geräusche verlieh. Estel spürte Kälte um sich herum und tastete schüchtern nach seinem Holzschwert. Doch bevor er es erreichen konnte, heulte der Wind auf und ließ die Äste vor Estels Fenster unheimlich tanzen.

Nun bekam Estel wirklich Panik, denn er wollte nicht von einem Drachen gefressen werden. Schließlich zog er seine Kuscheldecke fest um seine Schultern und hielt Schwert und Plüschesel fest im Arm, als er vom Bett kletterte. Ein Geräusch unter seinem Bett ließ ihn schreiend aus seinem Zimmer laufen. Dort unten lauerte bestimmt ein Drachen auf ihn und wollte ihn fressen.

Mit Tränen in den Augen rannte er geradewegs zum Zimmer Elronds. Ohne auch einmal anzuklopfen, betrat er die Gemächer des Elbenlords. In der Dunkelheit des Raumes fiel er jedoch über ein am Boden liegendes Kleidungsstück und verlor das Gleichgewicht. Doch schnell hatte sich der junge Mensch wieder aufgerappelt und stürmte weinend in das Schlafzimmer seines Adas. Was er aber sah, das verwirrte ihn zutiefst. Denn nicht nur Elrond lag im Bett, sondern auch Glorfindel.

~ * ~

Natürlich waren die beiden Elben längst aus dem Schlaf erwacht und während Elrond eine Kerze entzündete, zog Glorfindel die Decke höher.
Mit großen Augen blickte Estel schließlich seinen Ada an, der sich eine Robe überzog und den kleinen Menschen auf den Arm nahm.
Was ist denn los mein kleiner Held?
Sanft wischte Elrond ihm die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn fragend an. Doch anstatt eine Antwort zu geben, wollte Estel erst seine Neugierde befriedigt haben.
Hat Onkel Glorfy einen Alptraum gehabt?"
Elrond musste ein Grinsen unterdrücken, während der blonde Elb nur nickte.
Ja, Glorfindel hat von dem Balrog geträumt und da hat er Angst alleine gehabt. Aber verrate das bitte niemandem, schließlich ist er ja ein Krieger."
Bei diesen Worten wollte Glorfindel empört Einwand erheben, aber der Blick seines Freundes ließ ihn inne halten.

Währenddessen nickte Estel verständnisvoll.
Ich habe auch einen Alptraum gehabt. Ein Drache wollte mich fressen, weil mich niemand lieb hat."
Wieder tauchten Tränchen in Estels Augen auf und er zuckte zusammen, als ein Windstoß die Vorhänge aufbauschte. Auch Glorfindel hatte sich nun seine Schlafrobe angezogen und trat zu den beiden.
Da hatte der Drache aber unrecht, schließlich haben wir Dich lieb. Auch Elladan, Elrohir und Arwen mögen Dich und natürlich auch unser Bücherwürmchen."

Ein Knuff in seine Rippen zeigte dem Balrogtöter, dass dieser Name für Erestor wohl nicht so angebracht war. Aber er brachte damit zumindest Estel zum Lächeln.
Aber der Drache ist unter meinem Bett."
Da ist kein Drache, wir können morgen früh aber gerne nachsehen."
Elronds Vorschlag schien nicht wirklich auf Begeisterung zu stoßen, denn Estel schüttelte den Kopf.
Will aber da nicht schlafen, habe Angst vor dem Drachen."
Bittend sah er seinen Ada an, der skeptische Blicke mit Glorfindel austauschte.
Glorfy darf doch auch bei Dir schlafen Ada...."
Auf diesen Einwand hatte Elrond gewartet, denn nun konnte er seinem Sohn diese Bitte natürlich nicht verweigern. Wie sollte er auch erklären, warum Glorfindel den Schutz seines Bettes aufsuchen durfte und Estel nicht?

Und so tauschte der Lord von Imladris einen weiteren Blick mit Glorfindel aus, doch dieser nickte nur. Denn wer konnte schon einem kleinen Jungen widerstehen, der mit seinen großen, traurigen Augen und wie ein Häufchen Elend des Nachts in ein Zimmer stürmte?
Nun gut Estel, aber nur für diese Nacht."
Elronds Stimme war bei diesen Worten streng und er wurde mit einem feuchten Schmatz auf die Wange belohnt, denn Estel war nun erleichtert. Hier in einem Bett mit seinem Ada und dem mutigsten Krieger aus Mittelerde, konnte ihm nichts passieren.

Wenige Sekunden später krabbelte er zwischen die beiden Elben und kuschelte sich in seine Decke. Er presste Blaufell fest an sich und war schneller eingeschlafen, als er gute Nacht sagen konnte.

Elrond und Glorfindel tauschten noch einmal Blicke aus, hauchten dem kleinen Jungen jeweils einen Kuss auf die Stirn, bevor sich ihre Lippen zu einem "Gute-Nacht-Kuss" trafen und auch sie dem Schlaf übergaben.


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