Titel: Du wirst nach Bruchtal gehen
Autor: Naurdolien


“Du wirst nach Bruchtal gehen, Boromir. Du, mein Sohn, der mich nicht enttäuschen wird.”

Natürlich war das Anliegen seines Vaters dringend gewesen. Natürlich hatte es keinen Aufschub geduldet und Boromir nicht einmal die Siegesfeier um Osgiliath genießen lassen. Und natürlich hatte sich Boromir seinem Wort nicht widersetzt.

Er hatte sich also gewaschen und die Rüstung gegen bequeme Reisekleidung getauscht. Von außerhalb seines provisorischen Quartiers in Osgiliath hörte er den Lärm der feiernden Soldaten an sein Ohr dringen.

Die Reise ins Elbenreich war weit und gefährlich. Boromir packte einen warmen Umhang und eine wollene Decke gegen die Kühle der Nacht ein.

Unwillig verzog er sein Gesicht bei dem Gedanken daran, solange von Gondor fort zu sein. Sicher - eine wichtige Schlacht gegen den Feind hatten sie gewonnen, aber er wußte genau, daß Sauron seine Armeen neu formierte und seine Orks immer zahlreicher wurden. Der nächste Schlag des Feindes würde sie bei Weitem härter treffen und auch dieser Sieg war teuer genug erkauft worden.

“Er hätte genausogut dich schicken können,” murmelte er leise.

Faramir lachte bitter. Er saß auf dem Feldbett seines Bruders, um die letzten Stunden mit ihm zu verbringen.

“Er hält mich für nicht würdig, Gondor zu vertreten, das weißt du,” sagte er nicht ohne verletzten Stolz.

Boromir schüttelte ärgerlich den Kopf und wandte sich seinem Bruder zu. “Unsinn, Faramir! Vater liebt dich ebenso wie mich. Er weiß, daß du ein ausgezeichneter Heerführer bist und…”

Faramir unterbrach ihn mit einem milden Lächeln. “Ach Bruder! Wie lange willst du mich noch beschützen? Bis ans Ende seiner Tage?”

Die beiden sahen sich lange schweigend an.

Boromir wußte, daß sein Bruder recht hatte. Es war sein eigener Wunsch, daß sein Vater auch seinem jüngsten Sohn die Anerkennung zuteil lassen würde, die er verdiente, aber Denethor war anderer Meinung. Faramir bemühte sich um seine Gunst, aber was er auch tat, Denethor war nie zufrieden.

Boromir hatte mehr als einen Streit darüber mit seinem Vater gehabt und fast haßte er Denethor dafür, denn obwohl Faramir nie ein Wort der Klage verlor, sah Boromir doch oft den verletzten Stolz in den Augen seines Bruders. So wie auch wieder an diesem Tag.

Nicht zuletzt fühlte sich Boromir schuldig, daß er mit seinen Erfolgen seinen Bruder ein ums andere Mal in den Schatten stellte.

Boromir der Grosse, der Starke, der tapfere tollkühne Soldat - so war es schon immer gewesen, doch Faramir zeigte keine Spur von Neid, sondern empfand großen Stolz für ihn und trat zu seinen Gunsten noch einen weiteren Schritt zurück, wenn ihm die Massen zujubelten.

Aber Boromir wußte wohl um die Qualitäten seines Bruders.

Ein mildes Lächeln umspielte Boromirs Lippen, als er sich zu seinem Bruder aufs Bett setzte und ihm die Hand auf die Schulter legte.

“Nein, kleiner Bruder - nicht bis an sein Ende. Bis ans Ende meiner Tage und so die Valar es wollen, darüber hinaus. Ich werde dich immer beschützen.”

Schweigen erfüllte den Raum. Faramir mochte es nicht, wenn Boromir über den Tod sprach - besonders nicht über seinen eigenen und gewiß nicht in Zeiten wie diesen, in denen er hinter jeder Ecke zu lauern schien.

Er beschloß das Thema zu wechseln.

“Was ist eigentlich mit deiner Herzensdame? Weiß sie, daß du die Stadt verläßt?”

Boromir warf ihm einen fragenden Blick zu. “Welche…” dann begriff er. Er begann zu lachen. “Oh, die! Nun, ich denke, daß es sich herumsprechen wird, daß der Schwertarm des Weißen Turmes auf eine lange Reise gegangen ist und außerdem habe ich ihr schon vor unserem Aufbruch nach Osgiliath den Laufpaß gegeben.”

Faramir schüttelte den Kopf. Sein Bruder hatte mal wieder einer der feinen Damen, an deren Seite ihn sein Vater so gerne gesehen hätte das Herz gebrochen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, begann Boromir sich zu rechtfertigen.

“Sie langweilen mich eben, diese feinen Frauen, mit ihren gepflegten Händen und… sie langweilen mich, Faramir. Und außerdem habe ich keine Zeit für Liebesgeplänkel. Nicht so lange meine Stadt nicht sicher ist.” Boromir grinste ihn schelmisch an. “Obwohl sie wirklich ein sehr nettes Mädchen war.”

Faramir wußte, daß sein Bruder nur eine wahre Geliebte kannte - Gondor.

“Vielleicht erobert ja eine schöne Elbin dein Herz,” neckte er seinen Bruder, der das Gesicht verzog.

“Zu riskant,” winkte Boromir ab. Dann zwinkerte er seinem Bruder spitzbübisch zu. “Wenn Elben von unsterblicher Liebe sprechen…”

Beide Männer begannen laut zu lachen und für einen kurzen Moment waren ihre Sorgen ein Stück weiter entfernt.

Dafür liebte Faramir ihn - er brachte ihn immer zum Lachen, selbst wenn alles ausweglos und verloren erschien.

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Die Sonne stand schon niedrig am Himmel und sein Hengst war gesattelt worden. Mindestens ein Dutzend Ratgeber stand um ihn herum und wünschten ihm Glück für die Reise. Denethor war nicht anwesend, um seinen Sohn zu verabschieden - er verabschiedete sie nie.

Faramir beobachtete seinen Bruder, der stolz und kühn aussah und seinen Männern letzte Anweisungen gab. Nachdem er sie entlassen hatte, ritt Boromir zu seinem Bruder.

Er machte sich Sorgen um Faramir - nicht nur, weil viele Gefechte geschlagen werden würden, bevor er heimkehrte, sondern auch, weil er ihm keine Hilfe gegen die Grausamkeiten seines Vaters sein konnte.

Die gleichen Ängste fand er in Faramirs Blick, aber der Jüngere schenkte ihm ein Lächeln, um seine Bedenken zu zerstreuen.

“Merke dir diesen Tag, kleiner Bruder,” lächelte Boromir ihm zu, denn das war alles, was er seinem Bruder an Trost zukommen lassen konnte. Die Erinnerung an einen siegreichen, guten Tag.

Noch einen letzten langen Blick tauschten die Brüder, dann lenkte der Stolz Gondors sein Pferd in Richtung Stadttor, einem ungewissen Schicksal entgegenreitend.

Lange nachdem Boromir schon fort war, sah Faramir ihm nach, während das Banner ihrer geliebten Heimat über ihm flatterte.


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