Titel: Wege
Autor: Ilkiran


Prolog


Es ist kalt.
Eisige Schwärze in meinem Inneren.
Einsamkeit.
Verlassenheit.
Verzweiflung.

Ich rufe nach den anderen.
Wo sind sie alle geblieben?
Versuche, die Dunkelheit zu durchdringen.
Bewege mich im Kreis auf meiner Suche.

Niemand antwortet auf mein Schreien.

Eine lockende Stimme läßt mich aufhorchen.
Eine verheißungsvolle Präsenz ruft mich.
Bietet mir Ansehen und Macht an.
Spielt mit meinem Widerstand.

Nazgul, Nazgul, Nazgul

Aber ich suche Wärme.


~~~~~


Aufwachen

Wo bin Ich?
Schmerz macht sich breit.
Im Kopf, an der Stirn beginnend, ziehend, weiter über die Kopfhaut wandernd.
Kein Denken ist möglich, nur noch dumpfes Fühlen.
Wo ist das dunkle Loch, aus dem ich kam? Es wäre jetzt die Erlösung.
Umdrehen – Augen öffnen – aufstehen?
Ich will zurück in das dunkle Nichts, um nicht spüren zu müssen, wie mein Kopf hämmert, Gedanken und Vorstellungen sich anschleichen, zuerst schemenhaft, dann immer drängender, mich zu überfluten drohen. Bilder, die mich verfolgen, mich lähmen, denen ich ausweichen will, die nicht zu mir gehören sollen, denen ich entfliehen muß. Gefühle, vor denen es mich ekelt, die ich niemandem anvertrauen kann, selbst meinen einstigen Gefährten nicht.
Gerade denen nicht.
Niemals
Das bin nicht ich. Das kann ich nicht sein.
Schmerz. Übelkeit.
Meine Beine zittern. Krämpfe ziehen sich in Wellen durch meinen Körper, lassen ihn sich zusammenkrümmen. Eine endlose Zeit lang verharre ich und versuche, in die Schwärze zurückzufliehen, aus der mein Ich aufgetaucht ist.

Vergebens.
Ich bin hier.
Ich bin allein.
Ich will allein sein.
Niemand soll mich sehen.
Hier.
In diesem Zustand.
Das bin nicht ich!!!!

In meinem Kopf klingen Geräusche. Dumpfe Schritte auf einer knarrenden Treppe, unregelmäßig, schlurfend. Die alte Dienerin. Sie bewegen sich den Gang entlang, eine Tür wird geöffnet. Sofort wird es laut, unerträglich laut. Eine schrille Frauenstimme schimpft, eine Männerstimme antwortet, sie steigern sich in gegenseitiges Gebrüll hinein, keifend und bedrohlich. Weitere Schritte nähern sich, diesmal von schweren Stiefeln, Männerstiefeln, die hastig die Treppe hinaufeilen, in den angrenzenden Raum mit dem streitenden Paar eindringen.
Sofort ist es still.
Einen kleinen, fast friedlichen Moment lang.
Dann beginnt das laute, anklagende Gekreische der Frauenstimme von Neuem. Meine Ohren wollen sich dieser Lautstärke verschließen, es ist fast unerträglich, bringt mich meinem ersehnten schwarzen Nichts jedoch ein Stückchen näher.
Ich warte auf den Fall.
Ruhe, nichts mehr spüren müssen, ersehnte Fühllosigkeit.
Ein plötzliches Geklirr reißt mich aus meinem Sinken. Nebenan wird weiter gestritten, begleitet von zwei tieferen wütenden Stimmen und dem Scheppern von Tongeschirr auf dem Boden. Menschen rumpeln fluchend an meiner Tür vorbei.
Das Geräusch eines Körpers, der die Treppe hinabstürzt unter dem höhnischen Gelächter zweier Männer. „Wer hier säuft und hurt, aber nicht bezahlen will, der…“ zwingt mich, die Augen zu öffnen. Licht, das zuvor gedämpft aber denoch quälend durch meine Lider schien, explodiert in meinem Kopf und lässt mich nach hinten auf mein Lager fallen.
Ich höre mich stöhnen.
Das darf nicht sein.
Nicht schon wieder.
Langsam öffnen sich zum zweiten Mal meine Augen. Vorsichtig meine düsteren Gedanken in die dunklen Ecken meines verbliebenen Verstandes zurückdrängend, betrachte ich meine Umgebung. Auch wenn die Krämpfe nun schwächer werden, das Zittern etwas nachgelassen hat und der Blick genauer wird, fällt es mir schwer, zu glauben, wo ich mich befinde, wohin ich mich zurückgezogen habe. Obwohl dies seit langer, verschwimmend langer Zeit meine Behausung ist.
Ein Loch.
Ein ekliges, verdrecktes, feuchtes Loch.
Wände aus rohen Holzbalken, verschimmelt, behangen mit klebrigen Spinnennetzen.
Aufgesplitterte Dielen als Fußboden, die deutlich Spuren von verschmutztem Schuhwerk tragen, das tagtäglich achtlos darüber wegtritt. Ein halbzerbrochenes Fenster, das streifiges Licht hindurchlässt.
Die Sonne muß schon hochstehen.

Jetzt dringt auch das lärmige Durcheinander der Gasse zu mir herauf.
Und ein ungeduldiges Klopfen an der Türe, die sogleich aufgestoßen wird. Die alte Dienerin schiebt unbeholfen ihre in ein zerlumptes, ausgebleichtes Kleid gehüllte ausgezehrte Gestalt durch die Tür. Nachlässig setzt sie eine mit Wasser gefüllte Schüssel auf dem kleinen Tisch ab, ohne sich darum zu kümmern, dass das überschwappende Wasser eine Lache auf dem ohnehin schon verunreinigten Boden bildet. Aber dies ist mir gleichgültig.
Die Alte zeigt mir ihr scharf geschnittenes Gesicht, von Falten durchzogen, das durch ein Paar trübe Augen einen in sich gekehrten Eindruck macht.
Nicht von dieser Welt.
Sie schaut mich lange an. Eindringlich, als wolle sie mich ansprechen, sie, die doch immer vor sich hin murmelnd ihre Arbeit verrichtet, ohne auf die anderen zu achten. Aber ihre Stimme ist fest, nicht brüchig, wie es zu erwarten wäre: „Junger Elb, Ihr seid krank.“
„Ihr“ ???. Schon lange hat mich niemand mehr mit dieser Höflichkeit zeigenden Anrede benannt. Und „junger“ Elb??
„Ihr Elben seid mächtig mit den Waffen. Aber eurem Innern machtlos ausgeliefert. Hütet Euch vor dem Verkäufer, er betrügt Euch.“
Erstaunt betrachte ich die alte, verbrauchte Frau, die nun geheimnisvoll erscheint. Wie soll ich ihre Worte deuten? Will sie mir etwa Hoffnung geben? Das wird vergebens sein.
Brummelnd dreht sie sich um und verlässt wie gewohnt schlurfend den Raum.
Mühsam zwinge ich mich, mich zu erheben und mir etwas von dem abgestandenen Wasser ins Gesicht zu spritzen und mir den Mund auszuspülen. Es erfrischt nicht, sondern schmeckt schal. Das verfilzte Haar zurückstreichend, denke ich an den stolzen, beharrlichen Krieger von einst, auf den sich die Gefährten verlassen konnten.

Vergangenheit. Unwiederbringliche Vergangenheit.

Ich verlasse den verwahrlosten Raum, meine Behausung und trete widerwillig auf den Gang hinaus. Übler Geruch nach alten menschlichen Ausdünstungen und fauligem Essen schlägt mir entgegen und treibt mich, unsicher an der Wand Halt suchend, die Treppe hinunter.


Frühstück

Die Treppe endet in einem halbhohen Schankraum, der genau wie das übrige Haus einen schmierigen Eindruck macht. Hinter einem Schanktisch steht ein in alte Fetzen gekleideter Junge, der die Gäste bedient, wenn etwas verlangt wird. Es stehen Holzteller herum mit sauren Gurken, die in Scheiben geschnitten sind, mit schwärzlichem alten Brot und aufgeschnittenem gesalzenem Fisch, auf dem sich schwarze Fliegen sammeln. Es riecht sehr schlecht. In der ganzen Gasse roch es immer sehr schlecht.
So Abscheu erregend, daß sich trotz meiner abgestumpften Sinne wieder die Übelkeit meldet. Es wird Zeit. Zeit, dass der Verkäufer kommt. Allerdings lässt er jeden Tag länger auf sich warten. Und verlangt immer mehr, so daß meine Tage sich in einem nicht mehr zu durchbrechenden Kreis schließen.
Erniedrigend und endlos.

Ich betrete den Schankraum und werde von einem Mädchen begrüßt, das mir sogleich ein Glas Wasser hinstellt. „Du siehst mal wieder grauenvoll aus. So kommst du nie hier raus. Abgezehrt und dreckig… Wie willst Du damit was verdienen, mach’ es dir doch nicht so schwer und laß dir etwas helfen.“
Anisa ist nicht gerade hübsch, soweit ich noch auf das Äußere achte, aber sie scheint gesund und kräftig zu sein. Und blickte mit Gleichmut auf ihr Leben.
„… trink erst mal etwas, und versuch doch was zu essen, ich bring dir noch was von gesten. Schmeckt gar nicht so schlimm wie es aussieht, versuch mal. Einen Teller wirst du doch noch herunterbringen…“
Ich kann ihr nur mit halbem Ohr zuhören, die Schankstube und die Menschen in ihr werden immer unwichtiger. Ich warte.
Das Mädchen kommt mit einem Teller Suppe wieder, den ich langsam herunterwürge, von ihr unterstützt. Das verkürzt die Wartezeit.
Plötzlich springt die Eingangstür auf. Aber nicht die erhoffte Gestalt tritt ein, sondern einige Männer, von denen einer von meiner Zimmernachbarin gestützt wird. Er steckt in einem alten faltigen Mantel und in einem über und über von alten Flecken verschmutzten Hemd. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und Trunkenheit. Schmutzige Hände fassen die lachende Frau an der Schulter. Sie verlangt lautstark Branntwein, der auch sofort gebracht wird. Es wird lärmig.
Um von diesen Menschen nicht beachtet zu werden, drücke ich mich an die Bretterwand und zwinge mich in einen Dämmerzustand hinein, der die Außenwelt zum Teil ausschließt. Jetzt noch. Und warte.
Anisa steht auf, sieht mich abschätzend an und murmelt etwas von „Ich muß jetzt nach draußen, komm du auch gleich. Sonst zwingen dich deine Schulden wieder in die Nacht. Und dazu bist du nicht geboren, du Elb ohne Namen.“
Sie spricht die Wahrheit. Eine Frau, die ich früher nur bemitleidet hätte, gibt mir ihre Hilfe in dieser Menschenstadt.

Das Klappern der Tür reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Der Verkäufer!
Ein hochgewachsener, in leichter Lederrüstung steckender Mensch betritt gelassen um sich blickend, den niedrigen Raum. Eine Hand umfasst das Kurzschwert. Weitere Bewaffnung ist nicht zu erkennen, aber diese braucht er auch nicht, da er nie alleine ist.
Er mustert die betrunkene Schar, die von der Frau unterhalten wird, sieht mich im Halbdunkel meiner Ecke sitzen. Ein leichtes Grinsen überfliegt sein Gesicht und verschwindet sofort wieder. Er unterhält sich mit dem Jungen, der mit einem schmutzigen Lappen den Schanktisch säubern möchte. Gehört dieser auch schon zur Kundschaft?
Der Verkäufer lässt sich Zeit. Absichtlich. Ich erinnere mich an meinen krampfendes Inneres, die gewohnte Übelkeit steigt wieder einmal die Kehle hoch. Ich kann nicht mehr warten!
Mich selbst abwechselnd bemitleidend und verwünschend, schleppe ich mich neben ihn. Und erwarte die gewohnten spöttischen Reden: „Sieh an, ein Elb in diesen strahlenden Hallen. Was willst du denn von mir? Von mir niederem Menschen, auf die ihr mit eurem langen Leben immer hinabgeblickt habt? Brauchst du etwa meine Kräuter? Weiß denn dein Volk von dir und deinem Leben? Ja? Oder musst du dich verkriechen wie eine Ratte, weil du dich den Menschen angenähert hast, du edler Kämpfer aus dem Elbenland?“

Haß steigt auf. Und Verachtung, Selbstverachtung, die mich heiß überflutet. Ich bin wehrlos gegenüber diesen Reden. Es bleibt nichts außer Demütigung und hilflosem Selbsthaß.
Denn die Kraft mich selbst zu töten habe ich schon lange nicht mehr.

Auf einmal hält der Mann in seiner Rede inne. Schaut mich an. Von oben bis unten. Von unten bis oben. „Dreh dich um, Elb ohne Namen. Laß dich ansehen. Unter diesen Lumpen…“.
Was???. Ich weiche zurück, kralle mich an der Tischplatte fest.
„Was soll schon sein, Elb, du hast Schulden bei mir. Große Schulden. Und es wird immer mehr… Bezahle sie, oder dein Leben wird noch elender, als es jetzt schon ist!“
Herrisch und besitzergreifend werde ich gemustert. Eiskaltes Glitzern tritt in seine Augen. Er fordert mich als Bezahlung. Oder besser das, was von mir noch übrig ist. Und ich habe dem kaum mehr etwas entgegenzusetzen.
Nach einem endlos scheinenden Blick wirft er mir einen Beutel hin.
„Die halbe Menge, der doppelte Preis, du Elb. Und morgen komme ich wieder. Und ich erwarte die Bezahlung deiner Schulden. So oder so.“
Grinsend wendet er sich ab und lässt mich stehen.

Schulden.
Bei diesem menschenverachtenden Verbrecher.
Dann fällt mein Blick auf den Beutel mit den Kräutern und löst meine Erstarrung. Nichts ist jetzt mehr wichtig als das.
Der Junge hinter dem Tisch reicht mir mit einem verschwörerischen Blick eine Tasse und einen Krug mit Wasser.

Das Ritual beginnt. Ich fülle eine angemessene Menge der pulvrigen, dunkelgrünen Masse, die einen leicht säuerlichen Geruch verströmt, in die Tasse und verreibe sie. Durch das aufgegossene Wasser entsteht ein dicklicher Brei, an dessen Oberfläche weiße Schaumblasen treiben. Jetzt brauche ich nur noch zu trinken, und meine Gedanken verschwinden, eine dicke Matte umschließt meine Gefühle, nichts ist mehr bedeutsam. Jedenfalls nicht so wichtig, dass es mich berühren könnte.
Eine kurze Zeitspanne lang, in der meine Seele von Vergangenheit und Zukunft losgelöst bleibt.
Bis mich ein leichtes Ziehen in meinem Inneren daran erinnern wird, dass die Zeit für die nächste Tasse bald kommt. Unruhe wird mich erfassen, fahrige Bewegungen werden mich verraten, Bilder werden mir nach und nach die Kontrolle über meinen Geist rauben. Und dann, plötzlich, in einem Augenblick, wird die Welt auf mich einstürzen, mit grellen Farben und Geräuschen, jede Berührung wird schmerzen. Meine Erinnerungen werden mich verbrennen.
Nichts anderes mehr als die Kräuter wird mein Denken beherrschen.
Nichts anderes kann mich vor meiner Vergangenheit bewahren.
Gierig schlucke ich die Brühe hinunter, darauf bedacht, auch noch den letzten Tropfen aufzunehmen. Keine Gedanken mehr an die uns nachgesagte Würde verschwenden, keine Gedanken mehr über mein jetztiges Leben.
Nur noch ein Nebel, der mich einhüllt.
Zunächst.
Zurückgesunken in einen ruhigeren Winkel dämmere ich vor mich hin. Ich möchte nichts tun, nichts reden, nichts denken, nichts fühlen. Nur hier sitzen bleiben.
Zufriedenheit.

Anisa taucht wieder auf, bleibt mit in die Hüften gestemmten Armen vor mir stehen: „Du unter deinen Lumpen ach so hübscher Elb, nun komm schon. Ich warte auf dich. So benebelt, dass du die Zeit überhaupt nicht mehr beachtest?“
Ein lahmes „Anisa, bitte, laß mich noch hier sitzen, ich werde gleich nachkommen, ich versuch es wenigstens.“ schleicht sich über meine Lippen.
Aber damit kann ich ihre verärgerten Ungeduld natürlich nicht bremsen. Oder ist es Traurigkeit? Sie zieht mich an beiden Händen hoch und schiebt mich in Richtung Tür, immer weiter schimpfend: „Laß dich nicht so hängen, ich habe eben dein Gespräch mit dem Verkäufer mitgehört. Ganz ohne Absicht natürlich. Der Kerl ist ein Schwein. Und mit deinen Schulden wird er dich fertig machen. Und wie er das tun wird. Es wäre wirklich nicht das erste Mal, dass er Menschen ganz zugrunde richtet, von solchen Fremden wie dir ganz zu schweigen.“
Sie schaut mich an, rüttelt mich an der Schulter. Ziemlich kräftig. „Komm jetzt. Wenn du schon so viele Kräuter brauchst, sieh wenigstens zu, dass du das Geld dafür zusammenbekommst. Und zwar hier.“
Eindringlich sieht sie mich wieder an. Dunkelbraune Augen, die verschwimmen. Warum? „Elb ohne Namen, ich weiß nichts über dich, aber ich will dir nichts Böses. Und glaube mir, selbst dein Leben hier ist besser, als das was dich ansonsten erwartet.“
Sie unterbricht sich, redet weiter: „Arbeite am Tage, mit mir hier. In der Nacht kommen die Ratten. Und das überlebst du nicht. Auch wenn du wie ein Krieger aussiehst, unter deinen Lumpen und deinen verfilzten Haaren. Das wird die Nachtwesen nur noch mehr reizen.“. Grinsend gibt sie mir einen Stoß, der mich durch die Tür ins Freie bringt. „Sag bloß, die Erfahrung hast du noch nicht gemacht?. Bist ja schon lange genug hier. Und ein Kräutertrinker…“
Ein aufgesetztes Stolpern verbirgt meine Verwirrung und mein Erschrecken.
Wie kommt Anisa auf den Krieger? Als ein Krieger bin ich heute nicht mehr zu erkennen, ausgemergelt wie ich bin und mit meinem unsicheren Gang. Auch mein Wesen erinnert nicht mehr an einen Krieger, und schon gar nicht an einen elbischen. Da sind nur noch schwarze Trümmer, die auf meiner Seele liegen und Qualm verbreiten. Selbstzweifel, Erniedrigung und Wehrlosigkeit kann man mir ansehen, aber nichts kriegerisches mehr.

„Was ist eigentlich mit deinem Haar los? Das war auch schon mal netter zum Ansehen“
Anisa will doch etwa nicht andeuten, dass…
„Elb, du gehörst jetzt ganz zu uns, denn,“
Nicht gerade sanft reckt sie sich zu meinen Haaren herauf und zieht den Kopf herunter. Ihre Hände krabbeln auf meiner Kopfhaut entlang und kämmen notdürftig ein paar der verwirrten Strähnen zur Seite.
Ihr Grinsen wird breiter. „Elb ohne Namen, ich glaube, ich muß dir meinen Kamm leihen. Und dafür sorgen, dass du ihn auch immer benutzt. Denn meine hellsichtigen Augen sehen da etwas – eins – zwei – drei – oh, ein ganzes Nest voll. Ein Elb mit Läusen!!.“
Jetzt bin ich doch leicht geschockt. Trotz der Kräuter. Aber es stimmt, denn sogleich spüre ich das nervtötende Jucken, das mit diesem Ungeziefer verbunden ist. Zuerst die üblichen Flöhe in der Decke, die trippelnden Schritte der Ratten, die nachts nicht nur unter meinem Lager herumhuschen auf der vergeblichen Suche nach etwas Essbarem – jetzt auch noch Läuse!
Verlegen schaue ich sie an. „Anisa, so gleichgültig mir das alles ist“; will ich den Satz anfangen. Heraus bricht aber anderes: „Ich brauche die Kräuter, aber so kann ich nicht leben, nicht hier, ich will sie nicht bezahlen können, nicht mit diesem Geld! Aber ich kann nirgendwo mehr hin. Als Elb. Und Kräutertrinker. Mein Volk nimm mich nicht mehr auf, und hier bin ich Ware. Und da soll ich mir Sorgen um Läuse machen??“
Ich hole tief Luft.
Jetzt bin ich zu weit gegangen. Habe ich mich verraten? Und wird Anisa das ausnutzen? So hilfsbereit sie mir gegenüber ist, auch sie braucht Geld und ist käuflich. Wie alle hier.
Aber ein Blick auf ihr sorgloses Gesicht beruhigt mich. Wie kann ein Mensch hier leben und über dieses Leben noch Scherze machen? Und Läuse… Ein weiteres Zeichen für meinen trostlosen Zustand.
„Tu nicht so, ich seh doch, dass es dir was ausmacht. Und so findest du immer weniger Kundschaft. Paß besser auf dich auf, sonst fressen dich wirklich noch die Ratten.“
„Und das hat niemand verdient, und schon gar nicht du.“, fügt sie leiser hinzu.


Straße


Als wir auf die enge Gasse heraustreten, überfällt mich das Leben in diesem Viertel mit all seiner Schäbigkeit. Abgerissen gekleidete Menschen drängen aneinander vorbei, sich anrempelnd und laut rufend. Viele tragen Säcke oder Körbe mit Waren oder Lebensmitteln mit sich. Aber nichts davon ist mit Geld bezahlt worden. An jeder Ecke findet lautstarkes Handeln statt, das häufig in Streit und Handgemenge übergeht. Gezogene Messer sind hier üblich. Und niemand kümmert sich um die Verletzten, denen es dann nur noch darum geht, sich schnell wegzuschleppen. Ihre „Handelsware“ bleibt natürlich nicht lange im Straßendreck liegen. Wie könnten sie denn auch.
Vor den Hütten und an mehreren baufälligen, schnell zusammengesteckten Ständen, an denen zweifelhaft riechende Eintöpfe verkauft werden, stehen Grüppchen von Menschen zusammen. Meist Frauen unterschiedlichen Alters, aber auch einige junge Männer. Die Kleidung der Frauen läßt den Busen fast unbedeckt, überall zeigt sich schmutzige Haut. Ab und an zeigt einer der vorübergehenden Männer Interesse und verschwindet nach vorhergendem Gefeilsche um den Preis mit einer der Frauen oder Jungen im Haus. Es sind fast nur Menschen zu sehen, kaum einmal ein Elb oder ein Zwerg. Und wenn, dann nur sehr kurz und mit eindeutigen Absichten.

Anisa zieht mich neben den Hauseingang. Ich drücke mich an die Wand, versuche, den stinkenden Abfallhaufen auszuweichen, die überall auf dem Boden liegen und dicke fette Fliegen anlocken. Diese Fliegen setzen sich auf jeden Riß in der Haut, jede noch so kleine Abschürfung. Und sie versammeln sich in den Augenwinkeln, wenn sie nicht ständig verjagt werden. Da fallen die allgegenwärtigen Ratten schon weniger auf. Jedenfalls am Tage.
Meine Begleiterin geht sofort an ihre Arbeit. Mit lebhaften Gesten und einem aufforderndem Lächeln in ihrem nicht ganz sauberen Gesicht spricht sie so ziemlich jeden der Vorübergehenden, der Interesse zeigen könnte, an. Routiniert erkennt sie mögliche Kunden, denen sie Sätze zuwirft, wie: „Sei gegrüßt, starker Mann, willst du nicht mit mir kommen? Ich gebe dir alles, was du willst, wir können alles miteinander tun. Sei nicht dumm, ein besseres Angebot bekommst du nicht mehr hier. Vergnügen und Erlösung für nur vier Kupferlinge. Na gut, von mir aus auch nur drei, weil du’s bist. Dann beeil dich aber…“
Auf diese Art geht ihr die Kundschaft nie aus. Die Männer folgen ihr einer nach dem anderen in das Haus. Und kommen recht schnell wieder heraus, oft noch die letzten Bänder an ihren
zerschlissenen Hosen richtend.
Irgendwann bleibt sie vor mir stehen und runzelt die Augenbrauen. „Was ist mit dir? Hast du deine Schulden schon wieder vergessen, oder die Drohung des Verkäufers? So berauscht kannst du doch gar nicht sein!“. Ihr Ärger ist zu spüren. „Jetzt mach schon, schau die Leute gefälligst an, wenn du schon kein Wort herausbringst. Sonst stehst du heute abend noch ohne Geld da. Und morgen kriechst du auf dem Boden.“
Sie hat mal wieder recht. Aber sie lebte schon immer hier, kann mein Zögern wohl nicht verstehen.


Überwindung

Ich übergehe den letzten Rest Stolz in mir und schaue auf die Straße. Wobei mir das bekannte leichte Ziehen im Magen hilft, das mich an die nächste Tasse Tee erinnert. Es wird Zeit. Ich muß mich beeilen.
Als Elb falle ich hier selbst in meinem abgerissenen Zustand auf. Ich werde oft gemustert, abschätzig, aber auch interessiert.
Als ich aufblicke, spricht mich denn auch eine massige, halbbetrunkene Gestalt an: „ Elben sind hier selten zu sehen, so was wie du fehlt mir noch in meiner Sammlung. Komm her und laß dich anfassen!“
Mit Widerwillen drehe ich ihm mein Gesicht zu, dass er sogleich am Kinn fasst. Der Gestank von Branntwein und faulem Atem umweht mich, während ich prüfend gemustert werde.
„Der Körper eines Elben und die Augen eines Opfers“, murmelt er, „dein Preis kann nicht hoch sein. Und du versprichst Spaß.“
„Fünf Münzen, Herr.“, mischt sich Anisa von der Seite ein. „Der Elb ist wirklich gut, den kann ich nur empfehlen.“.
Der Handel läuft zwischen den beiden weiter, ich kann nur reglos ausharren. So ist es meistens.
Als sich beide auf vier Münzen und normalen Bedienung geeinigt haben, gehe ich vor dem Mann her in meinen Raum. Innerlich erstarrt.

Dort angelangt, schiebt er achtlos einige herumliegende Decken und Kleidungsstücke mit dem Fuß zur Seite und macht sich an seinen Hosenbändern zu schaffen. „Jetzt zieh dich endlich aus, ich will sehen, wofür ich bezahle. Aber auch nur, wenn du es wert bist. Gib dir also Mühe!“
Ich endledige mich langsam meiner Kleidung. Mit dem Rücken zu ihm. Zuerst die vergilbte Tunika, dann die leichten Schuhe.
„Na los, mach’s nicht so spannend, Elben wie du gibt es nicht allzu oft, also zeig dich. Oder bist du etwa noch schüchtern?“.
Ich drehe mich zu dem Mann um und winde mich aus der Hose. Noch langsamer.
Als könnte mein Zögern mich vor dem Folgenden retten.
Die schwitzende Gestalt nähert sich und umgibt mich mit ihrem üblen Geruch nach ungewaschenem Körper. Unvermutet starke Arme ziehen mich herrisch an seine Brust, Hände streichen besitzergreifend über meinen Rücken, hinunter zu meinem Gesäß.
Immer wieder.
Der stinkende Mund macht sich an meinem Hals zu schaffen, leckt und saugt. Ohren und Schulter sind naß vor Speichel. Aber noch kann ich mein Gesicht abwenden und schützen.
Die Hände berühren meine Hinterbacken. Fordernd. Und ziehen sie probeweise auseinander. Während seine gierigen Lippen sich immer näher zu meinem Mund hin bewegen, zischt er mir zu: „Elb, sei dein Geld wert, beweg dich, sei nicht so zimperlich…“.
Ich zwinge mich, einen Arm um seine Schultern zu legen.
Sofort werde ich an ihn gedrückt. Seine Erektion ist deutlich spürbar. Er reibt sich an meinem Bauch, presst mich immer stärker. Unsere Lippen treffen sich, und seine Zunge stößt gegen meine Zähne, erzwingt sich Einlaß, fordert meine Mundhöhle bis zur Übelkeit.
Davon so sehr in Anspruch genommen, merke ich zu spät, dass zur selben Zeit zwei Finger in meine Öffnung eindringen wollen. Finger mit zu langen, scharfen Nägeln. Unwillkürlich verkrampfe ich mich, presse meine Hinterbacken zusammen.
Das bringt mir ein ungeduldiges Fluchen meines Kunden ein: „Stell dich nicht so an Elb, jetzt gehörst du erst mal mir!“
Die Finger entfernen sich, ich werde rücklings auf mein Lager gestoßen. Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, ist er über mir, reibt sein Geschlecht mit starkem Druck an meinem Bauch. Die feuchten Lippen fahren wieder über mein Gesicht, bleiben an meinem Mund hängen. Rhytmische Bewegungen drücken mich auf meine Decken. Nach einiger Zeit hält der schwere Körper über mir inne. „Dreh dich um.“, höre ich ein Keuchen an meinem Ohr. „Bist du wirklich so eng, oder hast du eben nur gespielt? Na, das kann ich jetzt jedenfalls herausfinden. Nun mach schon!“.

Das Stöhnen wird erregter, als ich gehorche. Auf der Seite liegend, mit einem angewinkelten Bein biete ich mich an. Mit zusammengebissenen Zähnen erwarte ich den stechenden Schmerz, der unweigerlich kommen wird, wenn er in mich eindringt. Es ist so.
Ich bemühe mich, nicht zu verkrampfen, um nicht verletzt zu werden. Und der Tag fängt ja erst an.
Der Mensch arbeitet sich immer weiter in mich hinein, bewegt sich schneller, keucht und stöhnt. Mein Körper hält aus. Erst als sich seine Hände meinem Geschlecht nähern, daran reiben und kneten, mich ebenfalls erregen wollen, kann ich halbherzigen Widerstand leisten.
Das nun doch nicht!
Ich ziehe seine Hände zu meiner Brust, umschließe sie dort mit meinen Fingern. So fest, wie es mir noch möglich ist. Gleichzeitig bemühe ich mich, seinen stoßenden Bewegungen zu folgen, damit es bald ein Ende findet. Das immerhin habe ich von Anisa gelernt. Und so ist es auch.
Mit einem letzten Stöhnen entleert er sich in mich, beißt mir zum Abschluß hemmungslos in die Schulter.
Steht auf.
Zieht seine Hose hoch.
Schaut auf mich herab.
„Elb, da hätte ich aber mehr erwartet. Das nächste Mal machst du mit, damit du dein Geld auch wert bist! Das hier bekomme ich überall.“.
Drei Münzen rollen über den Boden vor meinem Lager. Das ist wenig.
Feste Schritte entfernen sich, gehen rasch die Treppe hinunter.
Und lassen mich ausgelaugt und entkräftet zurück.
Es dauert lange, bis ich meine Kleider überstreifen kann und mich wieder neben Anisa stelle.
Der Tag hat erst angefangen.
Und der Verkäufer wird seine Schulden einfordern. Auf welche Art auch immer.

Es geht mir immer schlechter. Ich schwitze. Bilder und Vorstellungen bedrängen mich. Aus meinem alten Leben. Dem Leben vor den Kräutern.

Ich sehe einen strahlenden Krieger. Beherrscht. Gleichmütig. Überlegen. Freundlich. Höflich. Inmitten seiner Gefährten. Mit einem gefährlichen Auftrag. In Schlachten kämpfend.
Gemocht.
Geachtet.
Zusammen mit seinem besten Freund. Seinem Geliebten?
Nicht lange.
Anderweitige Verpflichtungen. Ein anderer Weg. Vorherbestimmt. Und schon gebunden.
Der leuchtende Krieger geht.
An zweiter Stelle stehen? Niemals.
Sich der anderen wegen zurückstellen? Undenkbar.
Den Geliebten teilen? Mit seinen Aufgaben oder gar einer Frau? Unmöglich.
Dann schon lieber Weggehen. Um niemals zurückzukommen.
Es gibt andere Geliebte. Die erfüllen. Mit denen der Krieger sein Spiel um Vormacht und Unterlegenheit spielen kann.
Das Spiel um das Besitzenwollen.
Immer aufs Neue.
Bis sich die Wirklichkeit einmischt.
Wieder einmal.
Aber diesmal endgültig. Oder doch so gut wie.
Der Geliebte durch den eigenen Vater zerstört.
Die Verbannung
Davongejagt durch enttäuschte Hoffnung.

Das Selbstmitleid wird immer stärker, ich versinke darin. Bedauere mich und meine elende Lage. Ich habe doch Grund genug, mich den Kräutern zuzuwenden!!
Wieder einmal ist es Anisa, die mich aus meinem Grübeln herausreißt. Wie immer ziemlich unsanft. „So wirst du hier noch verrecken. Nur unzufriedene Kunden, hältst du dich immer noch für was Besseres?“. Sie stellt sich neben mich, legt mir sogar den Arm um die Schulter. Fast sorgsam hebt sie mein Gesicht, schaut mich lange an. Eine Warmherzigkeit spricht aus ihren Augen, die sie sonst gut zu verbergen weiß. „Ich weiß zwar nichts über deine Herkunft, aber… Versteh doch, du bist jetzt einer von uns. Egal wer du früher gewesen bist. Was du früher gewesen bist. In diesem Viertel nützt dir dein elbischer Stolz nichts. Vergiß ihn. Oder vergiß die Kräuter.“
Wenn ich denn noch könnte.
Weiter geht sie ihrer Beschäftigung nach. Wie immer sehr erfolgreich. Eigentlich könnte ich froh sein, dass sie sich meiner angenommen hat. Damit ich nicht auffalle. Damit ich wenigstens überleben kann, für was auch immer.

Der nächste Kunde des Tages bleibt vor mir stehen. Ich nehme mich zusammen, bringe sogar ein Lächeln zustande. Es muß einfach sein. Übliches Geschäft.
In meiner Kammer geht es sehr schnell.
Ausziehen.
Eilige Hände steichen erneut über meine Hüfte. Halten kurz an einer vernarbter Stelle inne.
Hinknieen.
Ekel unterdrücken.
Das mächtige Geschlecht des Mannes drängt sich in meinen Mund, stößt gegen den Gaumen, füllt den gesamten Raum aus. Es fällt mir schwer, ausreichend Luft zu bekommen. Ich höre mich keuchen. Der Mann legt dies wohl anders aus und bewegt sich schneller, gibt Laute und Wortfetzen von sich, vor denen ich meine Ohren verschließe. Die Spitze seines Schwanzes stößt tief in meinen Rachen. Er stöhnt lauter. Und kommt.
Ich versuche, ihn schnell aus meinem Mund herauszuschaffen, lasse mich nach hinten fallen. Spucke seine Flüssigkeit aus.
Ohne mich weiter anzusehen, bindet er seine Hose zu, bezahlt und verschwindet die Treppe hinunter.
Mich fängt es an zu würgen, es läßt sich nicht mehr unterdrücken. Mein Inneres schreit nach der nächsten Tasse Tee, um diesem überwältigenden Bedürfnis, alles nach draußen zu befördern, abzuhelfen. Aber dazu ist es noch zu früh.
Ich kotze.
Immer wieder, bis nur noch Schleim kommt und mir die Kehle brennt.
Auf meinem Lager zusammengerollt, versuche ich, die letzten Wellen dieses Würgens, die immer noch durch meinen Körper strömen, zu unterdrücken. Mit Mühe gelingt es mir schließlich. Aber der ganze Raum stinkt entsetzlich.
Schleppend mache ich mich an die Reinigung der Kammer. Bevor ich wieder einmal nach unten gehe.


Der Fremde

Wieder stelle ich mich neben den Abfallhaufen. Lehne mich gegen die Hauswand, an den dünnen Brettern Halt suchend. Das Treiben auf der Gasse ist noch stärker geworden. Lautes Durcheinander von Personen, die ungeordnet umherstömen, miteinander handeln, sich beschimpfen, gestikulieren. Mein Blick wandert abgestumpft über das Treiben. Ein großer Rabe flattert krächzend von einem Holzpfosten auf.
Alles wie gewohnt.
Bis jemand vor mir steht. Ohne dass er mir zuvor aufgefallen wäre.
Ein neuer Kunde, der bei mir seine kurze Befriedigung sucht? Es scheint so auszusehen. Obwohl die Gestalt auffällig ist. Sie passt nicht ins übliche Straßenbild. Kleidung aus weichem Leder in Braun- und Grüntönen. Kleidung, die an den Wald erinnert, an die Steppe. Die die Spuren der Wildnis trägt. Waldläuferkleidung. Bis auf einen Dolch mit altertümlichem Griff ist er anscheinend unbewaffnet.
Seltsam, dass mir das auffällt, schaue ich mir die Männer, die zu mir kommen, doch nie genauer an.
Hier ist es anders. Wir mustern uns.
Er betrachtet mich eindringlich, scheint sich für jede Kleinigkeit an meinem Äußern zu interessieren.
Kohlschwarze Augen in einem bräunlichen Gesicht. Sie versuchen vielleicht auch tiefer zu blicken, weshalb ich einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck annehmen. Abwartende Distanz. Das ist mir denn doch noch von früher her geläufig. Er dringt mit seinen Blicken weiter in mich ein. Es wird mir schließlich warm, unbehaglich richte ich meine Augen auf den Boden.
Keine Anisa, die für mich verhandeln könnte? Nein, niemand hilft mir.
Der Mann berührt mich. „Wo ist dein Zimmer, Elb? Ich möchte mit dir allein sein.“, fragt mich eine gedämpfte, melodische Stimme. Sie passt zu seinen Augen.
Er ist eindeutig kein Elb, aber für einen Menschen erscheint seine Gestalt zu harmonisch, zu geschmeidig, dabei durchaus kraftvoll. Obwohl er etwas kleiner ist als ich, füllt er den Schankraum aus. Mit fließenden Bewegungen geht er vor mir die Treppe hinauf, betritt zielstrebig meinen schummrigen Schlafraum.
Fange ich jetzt etwa schon an, diese Männer zu mögen?
„Was willst du von mir, Fremder?“, frage ich ihn leise und erwarte eine Verhandlung über Preise und Leistungen.
Jählings dreht er sich um. Wir stehen uns auf engem Raum gegenüber.
Schweigend.
Eine ziemliche Zeitspanne lang, in der meine Gedanken stillstehen. Es geschieht nichts. Außer dass ich angeschaut werde.
Ich frage nicht mehr, was dieser seltsame Mann von mir will. Ich warte.
„Ich bin Sirk’an.“
Seit wann stellt sich ein Kunde vor, nennt seinen Namen? Oder wurde er von dem Verkäufer hergeschickt?
„Ich will dich nicht kaufen“. Pause.
Was soll das jetzt? Warum sollte er mich sonst aufsuchen?
„Ich möchte dir einen Vorschlag unterbreiten.“
Also doch. Soll er endlich zum Grund seines Hierseins kommen.
Wieder eine längere Pause.
„Legolas,…“
Bei diesem Wort durchzuckt es mich brennend.
Ich merke kaum, wie ich einen Schritt zurückgehe, über Herumliegendes stolpere und auf meinem Bett zu sitzen komme. Das auch noch eindeutig beschmutzt ist.

„Prinz Legolas aus dem Düsterwald“.
Ich kann die Gestalt nur noch fassungslos von unten herauf anblicken. Woher kennt dieses Wesen meinen Namen? Wie hat er das herausgefunden?
„Was willst du von mir?“, frage ich noch einmal, ziemlich zittrig. „Ich kann dir nichts geben, ich besitze nichts mehr.“
„Außer dich selbst.“, kommt die Antwort.
Das ist das Ende.
Geächtet. Gefunden. Erkannt.
Erpresst.
Irgendwie bringe ich mich dazu, der dunklen Gestalt zu antworten. „Mich selbst willst du haben? Jeder kann mich haben! Du hast mich erkannt. Oder gefunden. Hier gibt es keinen Legolas mehr!“, immer weiter brechen die Wortfetzen aus mir heraus, „Und einen Prinzen schon gar nicht. Schau mich doch an! Du siehst doch was los ist. Nimm dir was du willst!
Mach schon, ich kann dich nicht hindern.“
Mein Hemd landet vor seinen Füßen.
„Fang an, hol dir deinen Prinzen. Niemand wird sich darum kümmern. Aber bezahlen wird dich auch niemand für dein Schweigen. Ich gehöre nicht mehr zu meinem Volk.“
Er nimmt meinen Ausbruch unberührt hin.
„Von mir gibt es nur noch wenige. Ich bin aus dem Alten Volk.Ich möchte dir meine Hilfe anbieten.“

Das Alte Volk. Nur noch bekannt aus Sagen und Geschichten. Fast wie die Drachen. Gab es von ihnen wirklich noch welche?, schießt mir durch den Kopf. Aber was sollte ich mit dem Mitleid eines dieser uralten Wesen?

„Wie soll ich dir glauben können? Dein Bedauern will ich nicht, laß mich hier in Ruhe, bis die Kräuter mich ganz zerstören. Und das kann nicht mehr lange dauern. Bestimmt nicht.“ „Oder,“, halte ich inne, „töte mich! Ich selbst kann es nicht mehr.“
Sirk’an schickt wieder seinen endlosen Blick über meinen ausgezehrten Körper, durchdringt meine Gedanken, mein Wollen. Bleibt ruhig, fast teilnahmslos.
Er glaubt meinem Todeswunsch nicht.
„Nein, dazu habe ich keinen Grund…, ich schlage dir lieber etwas vor. Überlege es dir gut, dein Weg wird lang und schwierig sein. Wenn du ihn überhaupt gehen willst. Komm zu uns, und lerne. Denn die Menschenstädte sind grausam.“.
„Aber da du anscheinend noch Zeit zum Überlegen brauchst, und so nicht lange reisen kannst,…“, fährt er fort, „Wann hast du eigentlich das letzte Mal auf einem Pferderücken gesessen, Prinz? Waldboden unter deinen Füßen gespürt?“, grinst er mich unvermittelt an, „überlasse ich dir etwas Geld. Für deine Schulden. Für ein Pferd, vielleicht?“
Ein Beutel landet auf dem Tisch.
„Und außerdem, denkst du nicht auch, dass wir uns schon mal begegnet sind, vor sehr langer Zeit?“ wirft er mir noch über die Schulter zu, bevor er ganz aus der Tür hinausgetreten ist.

Was? Der Retter aus dem Nichts?
Ein zweideutiges Angebot?
Und wenn nicht, will ich überhaubt das Mitleid eines der ganz Alten? Auch wenn er nicht so alt aussieht,…
Aber wieso sollte ich ihn kennen?
Möglicherweise ein Geliebter aus langer Vergangenheit? Von mir verlassen, wie die meisten? Das würde ich doch noch wissen…

Ein warmes Gefühl der Hoffnung steigt auf.
Der Beutel mit dem Geld. Keine Schulden mehr bei dem Verkäufer.
Keine schmierigen Männer mehr.
Eine kleine Befreiung. Für einige Tage.
Zum Überlegen.
Der Fremde – Sirk’an – sagt mir der Name nicht irgendetwas? - hat vielleicht doch Recht. Könnte ich es nicht schaffen?
Der stolze Krieger. Diesmal alleine.
Ohne mein Volk, das mich nicht unterstützt hat, als ich verbannt wurde – Thranduil.
Ohne die Gefährten.
Zumindest heute kann ich leben.
Wo ist Anisa? Die Einzige, die noch da ist.


Überlegungen

Ein Beutel voller Münzen. Kleine Münzen zwar, aber sie werden mir Zeit geben.
Im Schankraum suche ich nach Anisa, um ihr zu berichten. Und um sie um Rat zu fragen. Immerhin kennt sie sich mit diesen Menschen hier besser aus als ich. Und ihr fällt eigentlich immer etwas ein.
Sie ist jedoch nicht da. Unterwegs mit irgendjemandem. Seltsam, wie genügsam die Menschen sein können, ohne Bedauern oder Scham. Wie leicht sie bereit sind, sich mit ihrem elenden Leben abzufinden.
Wieder reicht mir der Junge hinter dem Schanktisch Tasse und Wasserkrug. Ich bereite mir die Kräuter zu.
Und trinke.

Was wollte der Fremde von mir? Ich sollte zu ihnen gehen? Aber wo würde ich sie finden? Das Alte Volk ist den Elben nur aus Erzählungen bekannt. Lange vor meiner Zeit gab es sie. Wesen, die mit den Zyklen des Wachstums lebten. Das Leben verehrten. Aber anders wie wir Elben. Sie formten nicht, sie gingen in ihrer Umgebung auf.
Nachdem Elben, Zwerge, Orks oder gar die Menschen häufiger wurden, Siedlungen und Städte entstanden, Wälder bewohnt, Berge ausgehöhlt und Flüsse schiffbar gemacht wurden, zog sich das Alte Volk zurück. Die Frauen bildeten keine Gemeinschaften mehr, die die Geheimnisse hüteten.
Und die Kriege begannen.
War das nicht in der Zeit, in der die ersten Ringe geschmiedet wurden?
Streben nach Macht.
Über die Natur. Über einzelne Menschen. Über ganze Reiche.
Es gibt heute noch Wesen aus diesen Zeiten. Vereinzelt. Und uns allen feind.
So heißt es jedenfalls.
Die Drachen, Bilbo hatte mit einem gekämpft.
Die rätselhaften Ents. Wo sind eigentlich deren Frauen hingewandert?
Oder der dunkle Schrecken in Moira. Und ich sollte mich diesem Grauen noch einmal stellen? Das hätte ich selbst damals nicht ein zweites Mal durchstehen können. Auch wenn ich dies niemals zugegeben hätte. Ich mußte doch den anderen Kraft geben.
Ihre Erwartungen erfüllen.
Und jetzt?!
Undenkbar.
Aber warum hätte ich dieses fremde, faszinierende Wesen kennen sollen? Tiefgründige Augen, dunkles Feuer in einem erdbraunen, gleichmäßigen Gesicht. Schwarze Haare, die sowohl umrahmen als auch verbergen können. Ein Körper, dessen Stärke unter seiner Geschmeidigkeit kaum zu erahnen ist.
Da könnte ich mich doch erinnern?! Auch noch nach 1000 Jahren! Wobei ich leise lächeln muß. Bedauernd, auch wenn ich hier der Unterlegene gewesen wäre. Dieser tiefen Beständigkeit hätte ich nichts entgegenzusetzen gehabt. Ich hätte mich fallen lassen müssen, und warten, ob ich wieder aufgefangen werde.
Kein Vergleich zu den Menschen, die meine Begleiter gewesen waren. Und ebenso kein Vergleich zu meinem Geliebten.
Den ich verraten habe.

Die Zeit ist mir jetzt gleichgültig. Vergangene Tage.

Ich bereite mir noch einen Tee. Er wird mich dem ersehnten schwerelosen Zustand näher bringen. Vergessen wer ich bin! Was ich hier tue in dieser Menschenstadt.
Ich nehme mehr Kräuter als üblich. Heute muß ich nicht sparen. Vielleicht überlege ich mir das Angebot des Fremden ja noch einmal, vielleicht sollte ich mich wirklich wieder auf den Weg machen.
Wandern.
Vielleicht.

Benommen sitze ich in meiner Ecke. Kommt da nicht Anisa an den Tisch und rüttelt mich? Verworrene Sätze dringen auf mich ein, als ich von rauen Händen nach oben geschleift werde.
„…Verträgt nichts,…, haltloser Kräutertrinker, maßloser Elb…“ kann ich noch durch das Rauschen verstehen.
Ich schlage auf meiner Liege auf, rolle mich in die Decke. Wie gut, dass ich vorhin daran gedacht habe, das Geld vor neugierigen Augen zu verstecken. Früher war mir solches Denken vollkommen fremd.
Danach fühle ich nichts mehr.

Es ist dunkel, finster.
Ich versuche zu schreien. Meine Zunge und meine verdorrten Lippen bemühen sich krampfhaft, Laute von sich zu geben. Aber kein Ton kommt aus den zusammengepressten Lungen, die bei jedem mühevollen Atemzug gemeinsam mit dem Herzen erbarmungslos aufzucken.
Ich fühle, dass ich auf etwas Hartem liege, meine Seiten werden ebenfalls von etwas Hartem zusammengepresst.
Bis jetzt habe ich es nicht gewagt, ein Glied zu rühren – nun aber werfe ich heftig die Arme nach oben, die bisher mit ineinander gekrampften Händen dagelegen haben. Ich stoße unvermittelt mit dem Kopf auf feste Holzmasse. Überall rund um mich herum ist Holz. Es ist mir kaum möglich mich zu bewegen, geschweige denn, mich zu erheben.
Der Raum um mich ist zu eng.
Zu eng zum Aufstehen, zu eng zum Umdrehen, zu eng zum Atmen.
Ich schnappe nach Luft, schlage um mich, verfalle in einen rasenden Angstzustand.
Ich will hier raus!
Überall einengendes Holz. In was bin ich eingesperrt? Eine Kiste?
Es fühlt sich so an. Eine sehr stabile Kiste, die nicht zerbricht.
Atemlos höre ich auf, um mich zu schlagen. Es hätte sowieso keinen Sinn.
Die Luft wird immer stickiger, brennt in den Lungen. Etwas Weiches fällt über mein Gesicht, bleibt dort liegen. Ich bekomme immer weniger Luft, es wird wärmer.
Mit meinem letzten Willen werfe ich mich gegen eine Seite dieser Kiste, das Holz knirscht, splittert endlich.
Ich falle. Und lande auf weiterem Holz.
Aber das Atmen gelingt mir wieder besser.
Tief hole ich Luft.
Erleichtert taste ich die Umgebung neben mir ab, fühle Stoff, Holz.
Ein zerbrochenes Tischbein?
Schwindelig vom Aufprall schließe ich die Augen.

Zuerst nichts.
Dann einige rote Pünktchen, die vor meinem Gesicht hin und her fliegen. Aber sind meine Augen denn nicht geschlossen?
Es brennt, Rauch überall.
Dunkler, stinkender Qualm, der den Atem raubt, sich schwer und beißend in die Lungen drängt. Jedes Sonnenlicht ausperrt.
Auf der weiten Ebene schwelen überall Feuer. Feuer, die tagelang in Gang gehalten werden.
Von abgerissenen, blutenden Männern in desolaten Rüstungen. Sie schleppen schwere Körper herbei, die sie auf der Ebene aufgesammelt hatten. Immer noch. Werfen zerfetzte Glieder auf die glusenden Haufen, die nie richtig brennen wollen.
Tote, verstümmelte Menschen in bizarren Haltungen. Und Orks. Massen von Orks.
Hört das denn nie auf?

Ich rolle mich tiefer in meine Decke ein. Dränge diese Bilder von mir weg.
So gut es geht.

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