Titel: Annaluva - Teil 1
Autor: Naurdolien


Prolog

Angst ergriff von Arwen Undomiel Besitz, als sie den immer länger werdenden Schatten Mordors spürte. Sein dunkler Atem, der sich nun schon so weit über das Land erstreckte und allen lebenden Wesen die Luft zu rauben begann, ließ sie erschaudern. Es gab keine Hoffnung mehr für die Welt, wenn die Elben verschwunden waren. Ihr Vater hatte Recht gehabt.

Aragorn legte ihr den Arm um die schmalen Schultern. „Was hast du, Geliebte?“ fragte er und sie mußte die Tränen zurückhalten, die sich den Weg zu ihren Augen bahnten. Seine Aufgabe war klar gestellt. Es würde der Tag kommen, an dem er sich dem Bösen entgegenstellen mußte. Doch was war, wenn er es nicht überlebte? Was, wenn er in seinem Kampf gegen den dunklen Herrscher sein Leben verlor? Starb. Was, wenn niemand dem Bösen Einhalt gebieten könnte?

Sie dachte an ihre Mutter, die von Orks so grausam verstümmelt worden war, an ihre Brüder, die der Raserei verfallen waren, um ihren Schmerz über den Verlust der geliebten Mutter zu verkraften. Waren sie mit diesem Haß auf alle Orks ihnen nicht schon furchtbar ähnlich?

Sie liebte Aragorn über alles in der Welt, aber sie könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren oder zu sehen, wie die Welt im Schatten der Finsternis versank.

Die goldenen Blätter Lothloriens sanken auf sie hernieder und die Elbin seufzte schwer. Sie nestelte an dem Verschluß ihrer Halskette und legte das Kleinod in seine wettergegerbte Hand. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ab. Sie war nicht stark genug, um sein Leben zu teilen. „Ich verlasse diese Welt, Aragorn,“ wisperte sie traurig.

Sein Herz zersprang in tausend Stücke, aber Liebe hielt seine Zunge zurück. Sie konnte nicht anders und er würde sie nicht noch mehr quälen, indem er sie bat zu bleiben, denn sie würde in dieser Welt nie Frieden finden.

Sie entschwand seinen Blicken und Aragorn fühlte sich hilflos.

Mit einem Keuchen erwachte er aus seinem unruhigen Schlaf. So lange Jahre war es jetzt her, daß sie nach Valinor gefahren war und doch war der Schmerz über ihren Verlust so stark wie am ersten Tag. Rastlosigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, denn er suchte sie in den Weiten Mittelerdes, obwohl er sie nie wiederfinden würde. Sie war für immer für ihn verloren. Lange war er dieses Mal unterwegs gewesen und nun befand er sich auf dem Heimweg in das letzte heimelige Haus der Elben - Bruchtal. Er sehnte sich jetzt nach Ruhe.

****

„Laietha. Komm wieder her!“ Die junge Frau lief hinter ihrer kleinen Tochter her, die fröhlich durch den Wald hüpfte und versuchte, einen kleinen Hasen zu fangen. Sie quietschte vor Vergnügen, als ihre Mutter sie in ihre Arme hob und sie herumwirbelte. „Du sollst doch schön dicht bei Vater und mir bleiben. Weißt du nicht mehr, was wir dir immer sagen?“ Das Kind kicherte. „Ich soll nicht so weit weglaufen, weil mich sonst der schwarze Mann holt.“ Der Vater des Mädchens nahm sie in den Arm. „Genau. Und dann sperrt er dich in einen Käfig und du mußt den ganzen Tag Gemüse essen.“ Das kleine Mädchen gluckste fröhlich. „Und nun paß hier auf deine Mutter auf, während ich uns etwas zu essen hole, ja?“

Es dauerte nicht lange und der Mann kam zurück. Seine kleine Tochter war inzwischen eingeschlafen und seine Frau saß an dem winzigen Feuer, das sie für die Nacht angezündet hatten. Ihr Mann sah besorgt aus. „Was gibt es, Bregon? Hast du etwas entdeckt?“ Er sah seine Frau ernst an. „Orkspuren, überall. Sie sind noch nicht alt. Vielleicht einen Tag.“ Entsetzt sah sie ihn an. „Wir sollten heute Nacht sehr vorsichtig sein. Schlaf du, ich werde Wache halten.“

Bregon war ein ausgezeichneter Kämpfer, das wußte seine Frau Liran. Trotz allem war sie mehr als besorgt. Sie waren nun schon fast am Ziel. Noch eine Tagesreise trennte sie von Bruchtal. Sie wollten den Elben von den vielen Überfällen der Orks berichten, die in der letzten Zeit stattgefunden hatten. Viele Familien waren verschwunden. Man hatte die Eltern getötet gefunden und die Jungen waren geraubt worden. Sie wollten die Elben um Schutz und Hilfe bitten.

Liran hielt ihre kleine Tochter fest im Arm und strich ihr sanft die Haare aus der Stirn. Das Mädchen atmete regelmäßig und kuschelte sich dichter an ihre Mutter an. Langsam glitt Liran in einen Dämmerschlaf hinüber. Kurze Zeit später erwachte sie, als ihr Mann sie an der Schulter rüttelte.

„Wach auf, Liran. Orks. Sie sind ganz nahe.“ Die Frau sprang erschrocken auf die Beine. „Mama, was ist denn los?“ fragte das kleine Mädchen verschlafen. Liran legte ihr den Finger auf die Lippen. „Sch...nichts. Du mußt jetzt ganz leise sein, ja?“ Laietha nickte zögerlich. Ihr Vater hatte nach seinem Schwert gegriffen und suchte die Umgebung ab. Auf einmal hörten sie ein Heulen und wußten, daß sie entdeckt worden waren. Laietha wollte zu ihrem Vater laufen, aber schnell zog Liran sie in ihre Arme. Bregon drehte sich zu ihnen um. „Lauf! Ich werde sie aufhalten!“ Die Frau zögerte eine Sekunde. Ihr Mann würde diesen Angriff nicht überleben. „Lauf, verdammt!“ brüllte er sie an. Und Liran begann zu rennen. Hinter sich hörte sie schon die Schreie der Orks und das Geräusch aufeinandertreffender Klingen. Tränen der Verzweiflung strömten über ihre Wangen. „Mama, wo ist denn Papa?“ Laietha versuchte über die Schulter ihrer Mutter einen Blick auf ihren Vater zu erhaschen. „Laß mich runter, ich werde ihm helfen.“

Liran stieß einen Schrei aus, als eine der häßlichen Kreaturen vor ihr aus dem Gebüsch sprang. Sie drehte sich um und lief wieder zurück in Richtung ihres Mannes. Sie waren umzingelt. Verzweiflung kroch in ihr hoch und sie wurde von hinten an den Haaren gerissen. Mit einem Schmerzensschrei ging sie zu Boden und ließ Laietha fallen. Das Kind rappelte sich auf. Sie sah, wie sich ein Ork über ihre Mutter beugte und ihr die Kehle durchschnitt. Ohne zu begreifen, was geschehen war, lief sie zu dem Ork und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Rücken ein. Das Monster packte sie und zog ihr ohne Worte das Hemd aus. Dann nahm er einen Stab mit langen Messern und drückte ihn dem Kind auf die Schulter, wo es eine sternförmige Wunde hinterließ. Der Schnitt ging tief und die Kleine schrie vor Schmerz. Ungerührt von dem Wehklagen des Mädchens, schleppte der Ork sie zu dem Mann, der mit einem Pfeil in der Brust am Boden kniete. Als Bregon seine Tochter sah, sprang er mit einem letzten verzweifelten Schrei auf und rammte dem Ork sein Schwert in die Brust. Sofort war ein anderer auf den Mann gesprungen und brach ihm das Genick. Laietha wimmerte vor Schmerzen und starrte fassungslos auf ihren Vater. Wie konnte er jetzt einfach einschlafen? „Wach auf, Papa! Du mußt Mama helfen!“ Einer der Orks brachte sie mit einem Schlag ins Gesicht zum Schweigen. Sie biß sich auf die Unterlippe und hielt die Tränen zurück.

„Was ist das, Snaga? Das ist kein Junge! Ein Mädchen! Was sollen wir mit einem Mädchen? Töte sie.“ Damit drehte er sich um und die Kreatur, die Laietha bis eben festgehalten hatte, zog sein Schwert und hieb es ihr quer über den Rücken. Das Mädchen ging zu Boden und rührte sich nicht mehr. Damit marschierten die Orks von dannen. Die Nacht war noch lang und vielleicht würden sie doch noch zu ihrer Beute kommen.

****

Der Traum über Arwen hatte die alten Wunden wieder aufgerissen. Aragorn würde jetzt keinen Schlaf finden. Er machte sich auf den Weg nach Bruchtal. Es war tiefe Nacht und plötzlich hörte er in weiter Ferne ein Geräusch. Seine Nackenhärchen stellten sich auf und er begann zu laufen.

Aragorn blieb stehen und hielt den Atem an. Auf einer Lichtung mitten im Wald sah er mehrere leblose Körper liegen. Er sprintete los. Zahlreiche Leichen von Orks lagen zuerst in seinem Weg und dann kam er neben dem Körper eines Mannes zum stehen. Schnell beugte er sich hinunter, aber der Mann war tot. Ein wenig weiter entfernt sah er die Leiche einer Frau. Er stieß einen wütenden Schrei aus. Vielleicht hätte er ihnen helfen können, wenn er schneller dort eingetroffen wäre. Auf einmal hörte er ein ganz leises Wimmern, das aus der Nähe kam. Ihm jagte ein Schauer über den Rücken. Was war das?

Fast geräuschlos pirschte er sich in die Richtung vor, aus der das Geräusch gekommen war. Ihm gefror das Blut in den Adern, als er den winzigen Körper sah, blutüberströmt und zitternd. Schnell beugte er sich zu dem Kind hinunter. Sie lebte, verlor viel Blut und stöhnte vor Schmerzen. Er drehte sie vorsichtig um, ihren Körper vom Boden hebend. Sein Blick traf zwei grüne Augen, die so voller Schmerz waren, daß es ihm fast das Herz brach. Sie machte einen schwachen Versuch, sich ihm zu entziehen, Angst im Gesicht. Beruhigend flüsterte er: „Hab keine Angst. Ich will dir helfen.“ Geschwind zog er sein Hemd aus und begann, die riesige Wunde am Rücken zu verbinden. Dann nahm er sie in den Arm und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen. Er mußte sie zu seinem Vater nach Bruchtal bringen, vielleicht konnte er das Kind retten.

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Seine Kräfte drohten ihn zu verlassen, aber in der Ferne sah er Elronds Haus liegen. Das Mädchen hatte das Bewußtsein schon vor Stunden verloren und nur ihre leisen Schmerzensseufzer verrieten ihm, daß sie noch lebte.

Herr Elrond hatte seinen Ziehsohn kommen gesehen und war in den Hof gelaufen, um ihn zu begrüßen. Seine Augen weiteten sich, als er das Kind in seinen Armen sah. Schnell wechselte der Waldläufer ein paar Worte mit ihm und der Halbelb nahm das Mädchen rasch in den Arm und trug sie ins Haus. Dort begann er, ihre Wunden zu versorgen.

Tagelang hatte Aragorn nichts anderes getan, als an ihrem Bett zu sitzen und ihren Schlaf zu bewachen. Seine Hand hielt ihre kleine fest umschlossen. Das Mädchen schlief tief und fest. Mit Erleichterung hatte er beobachtet, wie ihre Atemzüge ruhiger und kräftiger geworden waren. Sie mochte vielleicht vier oder fünf Jahre alt sein. Ihre Haut war erschreckend blaß und ihre dunkelroten Haare bildeten einen scharfen Kontrast dazu. Immer wieder klammerten ihre Fingerchen sich um seine rauhen Hände, wenn sie gräßliche Träume heimzusuchen schienen. Beruhigend sprach er in der Sprache der Elben zu ihr und sah, wie sich ihr Gesichtchen entspannte. Er legte ihr kühlende Lappen auf die Stirn. Seltsamerweise spürte er auch in sich eine Veränderung vorgehen, während er an ihrem Bett saß. Die Leere in seinem Herzen, die Arwen hinterlassen hatte, begann sich zu füllen.

Es war an einem Morgen im Mai, einen Monat, nachdem er sie gefunden hatte, als sie das erste Mal die Augen aufschlug. Sie sah sich verwirrt um und Aragorn legte ihr sanft die Hand aufs Gesicht. Er lächelte sie an. „Hab keine Angst. Du bist hier in Sicherheit.“ Sie schien nicht zu verstehen und begann in einer fremden Sprache zu flüstern, die er noch nie zuvor gehört hatte. Sie wollte aufstehen, aber die Wunde an ihrem Rücken schien ihr große Schmerzen zuzufügen und sie begann zu weinen. Aus einem Instinkt heraus, zog er sie vorsichtig in seine Arme. „Es ist gut. Nichts wird dir geschehen. Hab keine Angst.“ Beruhigend strich er ihr übers Haar und fühlte, wie ihre kleinen Hände sich um seine Hüften legten und sie ihren Körper gegen seinen preßte. Sie ist so warm und weich, dachte er und küßte ihren Scheitel. Eine ganze Weile lang saßen sie so da und schließlich dachte er, daß sie eingeschlafen wäre. Er löste sich von ihr und bemerkte, daß sie ihn mit ihren wachsamen Augen musterte. Behutsam strich er ihr über die Wange und lächelte sie aufmunternd an. „Du hast bestimmt Hunger, nicht wahr?“ Er stand auf und wollte den Raum verlassen, um ihr etwas zu Essen zu holen, als sie einen Schrei ausstieß, der ihm durch Mark und Bein ging. Er drehte sich schnell um und sah, daß sie ihm die Arme entgegenstreckte. Begreifend lachte er auf und ging zu ihrem Bett zurück. „Ich werde dich nicht alleine lassen,“ schmunzelte er und hob sie auf den Arm. „Dann kommst du eben mit in die Küche.“

Sie klammerte sich an ihm fest und beobachtete scheu, aber aufmerksam alles, was sie auf dem Weg in die Küche passierten. Die Elben sahen sie neugierig an und Aragorn nahm etwas Obst für sie. Dann trug er sie in den Speisesaal und setzte sie auf einen Stuhl. Er nahm neben ihr Platz, aber sofort kletterte sie von ihrem Stuhl hinunter und lief zu ihm. Er nahm sie auf den Schoß. „Das ist etwas zu Essen,“ sagte er, als er ihr ein Stückchen Apfel hinhielt. Sie nahm es, betrachtete es von allen Seiten und biß hinein. Aragorn sagte ihr zu allem, was sie aß, wie man es in der Sprache der Elben nannte. „Ich frage mich, wie du heißt,“ murmelte er. Dann fiel ihm auf, daß das Mädchen ihn ansah. Er lächelte. Sie hielt ihm ein Stück Apfel hin und sein Magen knurrte laut. Auf dem ernsten Gesichtchen erschien zum ersten Mal ein Lächeln, als er die Apfelscheibe aß.

Es verging eine Woche und noch immer hatte das Mädchen kein Wort gesagt. Elrond hatte schon die Befürchtung geäußert, daß sie durch den Schock vielleicht stumm geworden wäre, aber Aragorn gab die Hoffnung nicht auf. Er redete weiter mit dem Kind. Sie wollte ihn gar nicht loslassen, sondern klammerte sich fest an ihn.

Wie jeden Abend saß er an ihrem Bett und erzählte ihr eine Geschichte. „Wie heiß du?“ Ihm blieb das Wort im Munde stecken und er sah sie erstaunt an. „Wie heißt du?“ fragte sie erneut. Aragorn lächelte. „Dunadain.“ Sie versuchte ein paar Mal die Lippen zu den ungewohnten Lauten zu formen. „Dunai,“ lächelte sie schließlich. „Dunadain,” wiederholte er langsam. „Dunai,“ strahlte sie. Er lachte. „Ja, Dunai,” grinste er schließlich. „Wie heißt du, Kleines?“ fragte er. Sie schien lange zu überlegen. „Laietha.“ Hatte sie ihn verstanden? Oder war das ein Wort aus ihrer Sprache? „Ist das dein Name, Kleines? Laietha?“ Sie nickte. Dann sah sie sich lange im Raum um. „Ada? Nana?“ fragte sie zögerlich. „Sie sind tot,“ brachte er stockend hervor. Das Mädchen sah ihn verständnislos an. Sie wiederholte die Frage und Aragorn nahm sie in den Arm. Dann begann sie zu weinen, als wüßte sie, daß sie ihre Eltern nie wiedersehen würde. Er wußte sich nicht anders zu helfen und nahm sie fest in den Arm. Ihr kleiner Körper erzitterte und er strich ihr sanft über das Haar. Langsam verebbten ihre Schluchzer und sie war eingeschlafen. Aragorn wollte sie in dieser Nacht nicht alleine lassen und legte sich zu ihr ins Bett. Das Kind ruhte in seiner Umarmung und es wurde die erste Nacht seit vielen Jahren, in der ihn keine Träume wegen Arwen quälten.

„Wir können sie nicht hier behalten. Das ist kein Ort für ein kleines Mädchen wie sie.“ Elrond sah Aragorn lange an. Der Waldläufer fühlte Unbehagen in sich aufsteigen bei dem Gedanken, das Kind wegzugeben. „Wir sollten ihr eine gute Pflegefamilie suchen, bei den Menschen. Das hier ist kein rechter Platz für so ein junges Kind,“ fuhr der Elbenherr bestimmt fort. „Aber ich bin auch hier aufgewachsen. Wo soll sie denn sonst hin?“ fragte Aragorn hitzig. Ihm war das Kind ans Herz gewachsen. Er wollte sie nicht fortschicken. „Du warst zusammen mit deiner Mutter hier! Sie ist ganz alleine. Sie braucht eine richtige Familie, die sie aufzieht.“ Aragorn wollte etwas erwidern, als die Tür aufging und ein roter Lockenkopf im Raum erschien. „Dunai!“ rief das Mädchen aus und stürmte in das Zimmer. Aragorn lachte und nahm sie in den Arm. „Morgen, Dunai!“ kicherte sie. Herr Elrond musterte sie lange. Sie war wieder zu Kräften gekommen. Ihre Wangen hatten wieder Farbe, und wenn man nicht auf die Verbände unter ihrer Kleidung achtete, konnte man fast glauben, man hätte es mit einem normalen Kind zu tun. „Hunger, Dunai? Apfel essen!.“ lachte sie und zog eine Birne hinter ihrem Rücken hervor. Elrond schüttelte den Kopf. „Das ist eine Birne, Laietha,“ sagte Aragorn sanft. Sie schmiegte sich an seine Wange. „Du alles merkst,“ kicherte sie. Er zerzauste ihr das Haar.

Es verging keine Nacht, in der Laietha nicht zu Aragorn ins Zimmer schlich und sich in sein Bett kuschelte. Der Waldläufer stellte sich schlafend und das Mädchen kicherte, wenn er so tat, als würde er sich umdrehen und sie dabei zufällig in den Arm nehmen. Sie schmiegte sich an ihn an und schlief dann bald ein. Er betrachtete sie lange und murmelte dann: „Schlaf gut, Schwesterchen,“ denn das war sie für ihn - sie war ihm so lieb wie eine kleine Schwester geworden.

„Dunai! Schwesterchen!“ kicherte sie eines Morgens. Er begann zu lachen. „Du bist meine Schwester. Ich bin dein Bruder.“ Sie sah ihn lange an. „Bruder?“ fragte sie und er nickte. „Du bist mein Bruder!“ wiederholte sie grinsend.

****

Das Mädchen war nun schon einige Monate bei ihnen und Aragorn mußte sich auf eine kurze Reise begeben. Es war für ihn wie ein Stich ins Herz gewesen, als er sich von Laietha verabschiedet hatte und sie weinend hinter ihm hergelaufen war. Als er nach einer Woche zurückkehrte, ertappte er sich bei dem Gedanken, wie froh er sein würde, sie wiederzusehen. Er lächelte. Diese kleine Kreatur hatte ihn wirklich verzaubert. Sein erster Gang führte ihn in ihr Zimmer, aber es war verlassen. Angst kroch in ihm hoch. War ihr etwas zugestoßen? Hatte Elrond sie doch an eine Pflegefamilie gegeben, ohne ihm etwas zu sagen? Nun stieg Wut in ihm auf. Er fühlte sich verraten, hintergangen, denn er hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden können! Wütend stürmte er in das Arbeitszimmer seines Ziehvaters und erstarrte im Gehen. Elrond saß in seinem Sessel und auf seinem Schoß saß Laietha, die in das Buch schielte, aus dem der Elb ihr vorlas. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und sie spielte gedankenverloren mit seinem dunklen Haar. „Was passierte dann, ada?“ fragte sie neugierig und der Elb lachte - was er bestimmt seit Jahrzehnten nicht mehr getan hatte. Er strich ihr über das Haar und las weiter vor. Aragorn fühlte, wie ihn Erleichterung erfüllte und dann wandte der Elb ihm den Blick zu. In seinen Augen war Ruhe eingetreten und Aragorn wußte, daß auch er seine Tochter wiedergefunden hatte. „Dunai! Ada bringt mir lesen bei!“ Sie hüpfte von seinem Schoß und rannte auf ihren Bruder zu. Aragorn schloß sie glücklich in die Arme. „Wirklich? Warum lernst du das nicht bei den Gelehrten?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Die sagen, ich bin zu quirlig. Was ist quirlig, Dunai?“ fragte sie neugierig. Er lächelte. „Quirlig heißt, daß du das süßeste Mädchen in ganz Bruchtal bist.“ Dann hob er sie auf seine Schultern und sie quietschte vor Vergnügen.

Quirlig war das Mädchen wirklich. Vergebens hatte Herr Elrond versucht, die Gelehrten von Bruchtal zu überreden, ihr Dichtung und Handarbeiten nahezubringen. Das Kind konnte nicht stillsitzen. Ihre Furcht hatte sie vollends abgelegt und nur manchmal wachte sie nachts noch weinend auf, aber dann war immer Aragorn an ihrer Seite, mit dem sie sich ein Zimmer teilte. Auch die bösen Träume verschwanden mit der Zeit. Da sie zu unruhig für den Unterricht mit den Elbenfrauen war, ließ Elrond sie schließlich mit den Männern im Kampf unterweisen. Glorfindel und Aragorn entdeckten bald, daß das Mädchen gelehrig und geschickt im Umgang mit Waffen war. Die Lehre der Schriften brachte ihr der Halbelb selbst bei und Laietha war sehr wißbegierig. Bald schon beherrschte sie nicht nur die Sprachen der Elben, sondern auch die gemeinsame Sprache. Als sie älter wurde, nahm Aragorn sie auf kurze Reisen durch die Lande mit und erklärte ihr alles, was er über das Leben in der Natur und die Künste des Heilens wußte.

Elladan und Elrohir hatten das Mädchen sehr ins Herz geschlossen und da Aragorn sie „Bruder“ nannte, tat Laietha es ihm gleich. Manchmal dachte sie noch an ihre Eltern, aber sie konnte sich kaum noch an sie erinnern und an den Überfall erinnerte sie nur noch die sternförmige Narbe an ihrer Schulter, die geblieben war. Elrond und Aragorn hatten herausgefunden, daß die Orks Jungen entführten, um sie zu Sklaven zu machen, aber Laietha sagten sie nichts davon.

****

Kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag, den Aragorn auf den Tag gelegt hatte, als er sie im Wald gefunden hatte, wartete sie wie immer auf die Rückkehr ihres geliebten Bruders. Sie stand am Fenster ihres Zimmers und blickte in den Hof. Sie hatte sich diesen Raum ausgesucht, weil sie so immer zuerst sah, wenn Aragorn von seine Reisen zurückkehrte. Der Mond war fast voll und Aragorn hatte versprochen bei Vollmond zurück zu sein. Bis jetzt hatte er nie ein Versprechen gebrochen. Als Laietha schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, hörte sie Pferdegetrappel im Hof. Schnell zog sie sich ihre Kleidung und die Stiefel an und lief hinaus. Auf dem Flur prallte sie fast gegen den alten Bilbo Beutlin, der nun seit einigen Jahren bei ihnen lebte. „Oh, Entschuldigung! Ich wollte nur...“ stammelte sie, aber der Hobbit lachte nur. „Ist der Dunadan wieder da?“ Sie nickte eifrig. Er lachte. „Dann bestellt ihm einen schönen Gruß von mir. Er muß mir alles erzählen, was er erlebt hat. Vielleicht kann ich ein gutes Gedicht daraus machen.“ Laietha grinste und stürmte in den Hof hinaus. Aragorn hatte sein Pferd in den Stall gebracht und war auf dem Weg ins Haus. „Dunai!“ Sie rannte los und warf sich in seine Arme. Glücklich schwenkte er sie herum und sah sie dann bewundernd an. Das kleine verschüchterte Mädchen war verschwunden und vor ihm stand eine bezaubernde junge Frau. Ihre roten Locken fielen ihr ins Gesicht, ihre Augen glänzten. Sie hatte weibliche Formen bekommen, die selbst ihre jungenhafte Kleidung betonte. „Meine Güte! Ich sollte nicht so lange von daheim fortbleiben! Das nächste Mal wenn ich ankomme, bist du gar schon verheiratet!“ lachte er. Sie drückte ihn fest an sich. „Niemals, Dunai! Nicht, wenn du nicht da bist, um mich meinem Bräutigam zu übergeben!“ Er zerzauste ihr das Haar und sie gingen ins Haus. An Schlaf konnte er diese Nacht lange nicht denken, denn Laietha ließ ihm keine Ruhe, bis er ihr nicht jedes noch so kleine Detail seiner Reise geschildert hatte. Sie hörte ihm mit glänzenden Augen zu und hing an seinen Lippen, ihre Hände fest um seine geschlungen. Als er mit seinem Bericht fertig war, stand er zum Gehen auf. Plötzlich grinste er. „Das hätte ich ja fast vergessen. Ich habe dir etwas mitgebracht. Bald bist du vierzehn und da dachte ich...“ Er lief zu seinem Mantel und brachte ein Schwert hervor. „Vater hat mir gesagt, du bist selbst für Glorfindel zu einem gefürchteten Gegner geworden. Ich dachte, du könntest das hier brauchen.“ Laietha blieb die Spucke weg. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Schwert. Es war sehr leicht und paßte genau in ihre Hand. Ganz klar die Arbeit der Elben. „Aus dem Düsterwald,“ flüsterte er ihr ins Ohr und sie umarmte ihn so fest, daß er fast keine Luft mehr bekommen hätte. „Für mich?“ keuchte sie und Aragorn wurde mit dem schönsten Lächeln entlohnt, das er je gesehen hatte. Er strich ihr übers Haar. „Du mußt ihm einen Namen geben, das bringt Glück,“ lachte er. Sie zog ihre Brauen zusammen und dachte einen Moment lang nach. Schließlich lächelte sie. „Dramthala.“ Aragorn grinste. „So soll es sein.“ Er ließ sie mit ihrem ersten eigenen Schwert alleine. Durch den Türspalt sah er noch, wie sie es bewundernd in der Hand wiegte und mit einem geschickten Schlag die Luft zerteilte. Er hatte gewußt, daß es das richtige Geschenk für sie gewesen war.

An ihrem vierzehnten Geburtstag erhielt sie ihren Zweitnamen: Annaluva, was in der Gemeinsamen Sprache Bogengabe bedeutet, denn sie war eine wahrhaftig geschickte Kriegerin.


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