|
Titel: Annaluva
- Teil 4 Autor: Naurdolien
Die
Nacht senkte sich hernieder und Aragorn bedeutete ihnen,
die Boote ans Ufer zu steuern. Sie alle waren froh,
endlich zur Ruhe zu kommen. Sam sah besorgt zu Frodo
herüber. Er war blaß und sah mitgenommen
aus. Und das nicht erst seit sie auf dem Fluß
unterwegs waren. Nicht einmal Merry und Pippin schafften
es, ihn aufzumuntern. Gimli und Legolas saßen
am Feuer und unterhielten sich. Aragorn mußte
in sich hineinschmunzeln. Der Zwerg schien ganz verändert
zu sein, seit sie die Goldenen Wälder verlassen
hatten. Er und Legolas teilten sich einträchtig
ein Boot. Der Elb half ihm beim Ein- und Aussteigen
und Gimli konnte von nichts anderem sprechen, als der
Schönheit Galadriels, ihrer Güte...
Aus dem Augenwinkel sah Aragorn eine große
Gestalt, die einsam am Flußufer saß. Boromir.
Dem Waldläufer waren seine Blicke, mit denen er
Frodo musterte, nicht entgangen. Auch ihn hatte der
Aufenthalt in Lothlorien verändert und Aragorn
konnte daran gar keinen Gefallen finden. Auch jetzt
starrte der Mann wieder gedankenverloren zu dem Hobbit
hinüber. Aragorn wünschte, daß Gandalf
noch bei ihnen wäre. Wie sehr hätte er jetzt
seinen Rat nötig.
BOROMIR! Der Krieger preßte die Hände
auf die Ohren. BOROMIR! Der Ring sprach zu ihm - wie
schon seit Tagen. Und der Krieger wußte nicht,
wie lange er seinem Ruf noch widerstehen konnte. Er
sprach von Ruhm, Macht und Stärke. Mit seiner Hilfe
würde er Gondor wieder ins Licht führen können.
BOROMIR, KÖNIG! Der Krieger unterdrückte einen
Schrei. Gepeinigt hieb er mit der Faust auf den Boden.
Dann bemerkte er Aragorns Blicke und errötete.
Schnell sprang er auf und zog sich in die Finsternis
der Nacht zurück. „Hey! Paß doch auf!“ Boromir
stieß einen erschreckten Schrei aus. Fast hätte
er Pippin über den Haufen gerannt. Er entschuldigte
sich wortkarg bei dem Hobbit und wollte weiterlaufen,
als er am Ärmel festgehalten wurde. „Wir sehen
gefährlichen Zeiten entgegen. Willst du mir nicht
noch ein paar kleine Schwertkampftricks zeigen?“ Der
Krieger konnte nicht anders als lachen. Er zerzauste
dem Hobbit das Haar und gemeinsam kehrten sie ins Lager
zurück und begannen mit dem Kampf.
Japsend lagen beide auf dem Boden und Merry hob zur
letzten Attacke an. Mit voller Wucht ließ sich
der nicht gerade zierliche Hobbit dem Krieger auf den
Bauch fallen. Boromir stieß pfeifend die Luft
aus und Pippin, der sich inzwischen aufgerappelt hatte,
stellte ihm keck den Fuß auf die Brust. „Und wieder
einmal hat der schnelle Geist über den starken
Körper triumphiert. Tja, Meister Boromir, wer ein
so helles Köpfchen wie wir Hobbits hat...“ Alle
brachen in schallendes Gelächter aus. Pippin sah
sich verwirrt um. „Was hab ich denn gesagt?“
Frodo starrte abwesend zu den anderen hinüber.
Der Ring war so schwer. Er spürte in letzter Zeit
häufiger das Bedürfnis, ihn einfach auf den
Finger zu stecken und zu verschwinden. Er hatte Angst.
Die freundlichen Gesichter der Gefährten schienen
ihm oft falsch und voller Heimtücke. Sie wollten
den Ring für sich - jeder Einzelne von ihnen. Am
liebsten wollte er davonlaufen, ganz weit weg und in
Sicherheit vor ihnen sein. Aber es gab nur eins vor
dem er sich noch mehr fürchtete als vor ihren gierigen
Blicken - vor der Einsamkeit. Er seufzte und legte sich
hin. Schlaf würde er keinen finden - der war ihm
schon seit Tagen versagt.
Legolas trat zu Aragorn. „Was hast du, Elessar?“
Der Mensch schüttelte den Kopf. „Seit ich die Gruppe
führen muß habe ich das Gefühl, daß
mir alles mißlingt.“ Der Elb legte ihm aufmunternd
eine Hand auf die Schulter. „Gandalf wußte, daß
er dir die Führung mit Recht übertragen hat.
Du wirst das Richtige tun, vertrau mir, Freund.“ Aragorn
lächelte. „Auch zu mir hat der Ring gesprochen,“
fuhr der Elb fort und Aragorn sah ihn entsetzt an. Legolas
gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
„Boromir ist ein Ehrenmann. Befürchte nichts.“
Damit ging er in den Wald. Er wollte sich nach Spuren
umsehen, denn auch der Elb hatte bemerkt, daß
sie nicht unbeobachtet waren.
****
Ein dunkler Schatten flog über sie hinweg und
Laietha und Haldir beobachteten ihn beunruhigt. Haldir
hatte ihn schon vor einer ganzen Weile mit seinen scharfen
Sinnen erspäht. Sie hatten das Boot in die Uferböschung
gesteuert und preßten sich tiefer ins Dickicht
hinein. Sie wagten kaum zu atmen. Selbst als der Schatten
vorüber war blieben sie noch eine Weile regungslos
sitzen. Am Ostufer hatten sie huschende Bewegungen wahrgenommen.
„Yrch!“ wisperte Haldir voller Abscheu. Die Orks hatten
sie nicht bemerkt - sie wußten, wen sie suchten.
Die anderen konnten also nicht mehr fern sein. Die Nacht
war pechschwarz und selbst die Vögel schienen sich
zu fürchten, denn es war totenstill. Nach einigen
Minuten, die ihnen wie Stunden vorgekommen waren, faßte
Laietha sich ein Herz. „Was war das?“ fragte sie leise,
erschrocken darüber, wie laut ihre Stimme in ihren
eigenen Ohren klang. Haldir zuckte mit den Schultern.
„Ich bin mir nicht sicher. Ich habe von ihnen gehört,
aber nie einen gesehen.“ Laietha wollte ihn fast schütteln.
Die Alten hatten Recht gehabt. Frage nie einen Elben
um Rat, denn sie antworten nur in Rätseln!
„Im Namen der Valar! Sprich, wenn du etwas weißt
du sonst so geschwätziger Elb!“ fuhr sie ihn an.
****
Ein Schrei zerriß die Luft. Es klang wie das
Kreischen eines verwundeten Tieres und sie alle zuckten
zusammen. Gimli bemerkte, daß die Hobbits sich
so klein wie möglich zu machen versuchten. Frodo
begann voller Angst zu schluchzen und zu wimmern und
Sam umklammerte mit bleichem Gesicht sein Schwert. Sie
schienen zu wissen, was diesen Laut ausgestoßen
hatte. Aragorns Augen weiteten sich voller Entsetzen,
als der Schatten über ihnen erschien. Er griff
nach seinem Schwert und starrte in den Himmel. Dann
begann der Angriff. Die ersten Pfeile sausten vom anderen
Ufer auf sie zu und Boromir eilte an die Seite von Merry
und Pippin und versuchte sich und die beiden Hobbits
mit seinem Schild vor dem Pfeilhagel zu schützen.
Aragorn ließ sein Schwert Schwert sein und erwiderte
das Feuer. Dann sauste auf einmal der Schatten auf sie
hernieder und sie erkannten eine ganz in schwarz gehüllte
Gestalt, die auf einem geflügelten Wesen saß.
Und wieder gellte der schreckliche Schrei. „Aber ich
dachte sie wären tot!“ wimmerte Frodo. Das Wesen
stürzte sich auf ihn und hätte ihn fast erreicht,
als ein gut gezielter Pfeil das Reittier des Monsters
traf und die Kreatur voller Pein aufschrie und sich
zurückzog. Keuchend kam Legolas aus dem Wald gerannt
und warf dem Angreifer wütende elbische Schimpfwörter
hinterher. Er bemerkte die Orks am Ostufer und half
Aragorn dabei, die Reihen ihrer Feinde zu lichten. „Zieht
euch in den Wald zurück!“ brüllte Aragorn.
Sie hatten keine Chance, ihrem Feuer standzuhalten,
aber die Orks würden den Fluß noch nicht
überqueren. Sie waren nur da gewesen, um sie von
dem anderen Angriff abzulenken. Sie hetzten tiefer in
den Wald, bis sie außer Schußweite waren.
„Gepriesen seien der Bogen der Elben und das scharfe
Auge von Legolas!“ lobte Gimli. „Doch sagt mir, was
war diese Kreatur? Ich habe so etwas noch nie gesehen!“
****
Haldir zögerte. „Es gibt Dinge, von denen man
im Dunkeln besser nicht spricht. Ich werde es dir im
Morgengrauen sagen.“ Damit verfiel er in Schweigen und
ließ sich auch nicht wieder zum Sprechen bringen.
Sie wagten nicht mehr in dieser Nacht noch weiter zu
reisen. In weiter Ferne hörten sie einen Schrei,
der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Laietha zuckte zusammen und flüchtete sich in Haldirs
Arme. Sie klammerte sich an ihn, als ginge es um ihr
Leben. Dann wurde es wieder still und sie bemerkte,
was sie tat. Schnell löste sie sich aus der Umarmung
und sah ihn an. „Sag jetzt bloß nichts!“ knurrte
sie böse.
Die Sonne war gerade aufgegangen. Als Haldir die
schlafende Frau weckte. „Beeil dich, Annaluva. Wir werden
sie heute noch einholen, denn wir sind nicht mehr ganz
eine Tagesreise von den Rauros Fällen entfernt.“
Mehr mußte er nicht sagen, denn schon sprang sie
auf und packte ihre Sachen zusammen. Sie bestiegen das
Boot und legten sich kräftig ins Zeug. Laietha
wollte sie so schnell wie möglich einholen, denn
sie befürchtete, daß sich die Gruppe bei
den Fällen trennen würde und welcher Spur
sollte sie dann folgen? Als sie ein gutes Stück
gerudert waren, fiel ihr der Schatten der letzten Nacht
wieder ein. „Haldir, die Sonne scheint. Sag mir was
letzte Nacht über uns gekreist hat.“ Sie konnte
sehen, wie der Elb erschauderte. „Ein uraltes Grauen,
wenn ich Recht habe. Das war ein Diener Saurons - ein
Nazgûl. Ich habe von ihnen gehört, aber noch
nie habe ich einen gesehen.“ Laietha schüttelte
sich vor Entsetzen. Sie war dabei gewesen, als Glorfindel
mit dem verletzten Ringträger eingetroffen war.
In der Tat - sie kamen den Grenzen Mordors immer näher.
Stille trat ein. Nur das Rauschen des Flusses war zu
hören. In der Ferne sahen sie zwei mächtige
Statuen stehen.
„Wir werden bald an den Wasserfällen sein. Dort
werden wir die anderen gewiß finden.“ Haldir nickte
zustimmend. Nach einer Pause fragte er: „Was willst
du eigentlich tun, wenn wir dort sind. Wirst du mit
ihnen gehen?“ Laietha zuckte mit den Schultern. „So
genau habe ich mir das nicht überlegt.“ Haldir
fiel die Kinnlade runter. „Willst du mir erzählen,
daß du ihnen so viele Meilen völlig planlos
gefolgt bist?“ Die Frau lachte laut und schüttelte
den Kopf. Dann wurde sie schnell wieder ernst. „Du würdest
es nicht verstehen, Haldir“ sagte sie. Der Elb schüttelte
fassungslos sein Haupt. Menschen!
Sie ruderten ohne viel zu sprechen und Laietha sog
beeindruckt den Atem ein, als sie die Statuen der riesigen
Argonath passierten. In der Ferne konnten sie schon
das Donnern der Rauros Fälle hören. Sie waren
nicht mehr fern. Bald würde ihre Suche ein Ende
haben und sie würde ihn endlich wieder...
Haldir straffte sich. In der Ferne stieg ein Schwarm
Vögel aus dem nahen Wald auf. Er versuchte etwas
auszumachen, aber der Fluß war zu laut und sie
waren zu weit entfernt. Er beschloß die Sache
im Auge zu behalten. Plötzlich ertönte ein
lautes Geräusch in der Ferne. Der Elb konnte sehen,
wie die Kriegerin wissend zusammenzuckte. „Nein!“ keuchte
sie und legte sich noch mehr ins Zeug. „Was war das?“
fragte Haldir, denn offensichtlich schien die Frau mehr
zu wissen als er. „Das Horn von Gondor. Sie werden angegriffen!
Wir müssen ihnen helfen!“
Sie kannte diesen Klang. Er hatte in Bruchtal in
dieses Horn gestoßen, als letzten Gruß für
sie und wie war er von Elrond dafür gescholten
worden! Wieder hatte sie den Klang vernommen, aber diesmal
hatte nicht ihr der Gruß gegolten. Er war nahe.
Angst legte sich kalt um ihr Herz. Das geborstene Horn,
Boromirs Gesicht - die Bilder, die sie in ihrem Traum
gesehen hatte gingen ihr wieder durch den Kopf. Schneller,
sie mußte schneller sein! Sie schloß die
Hände fester um die Ruder und kämpfte gegen
die Fluten an. Sie waren so nahe. Sie durfte nicht schon
wieder zu spät kommen! Nicht so kurz vor dem Ziel!
****
Sie hatten die Boote ans Ufer gesteuert, doch wie
sollte es nun weiter gehen? Der schnellste Weg nach
Mordor führte durch die Emyn Muil, doch Boromir
hatte vorgeschlagen, nach Minas Tirith zu gehen. „Laßt
den Ringträger entscheiden,“ hatte Aragorn gesagt.
Frodo lief durch den Wald. Die Wahl war so einfach
- und doch so schwer. Er wußte, daß Galadriel
Recht hatte - er mußte seinen Weg alleine fortsetzen.
Aber er war ein Hobbit und die waren nun mal nicht für
solche Abenteuer geschaffen. Gedankenverloren lief er
weiter und setzte sich schließlich auf einen Stein.
Frodo stützte den Kopf in die Hände. „Niemand
von uns sollte so alleine durch die Wälder streifen
- du am allerwenigsten. Aber deine Entscheidung fällt
dir schwer, nicht wahr?“ Frodo blickte in Boromirs Gesicht.
Es war freundlich und der Krieger ließ sich neben
ihm nieder. Der Hobbit duldete ihn, nicht undankbar
für die Ablenkung. „Du quälst dich, Frodo.“
Er sah den Krieger erstaunt an und Boromir lächelte
traurig. „Ich sehe es - Tag für Tag. Aber bist
du sicher, daß du dich nicht unnötig quälst?
Es gibt andere Wege, Frodo.“
BOROMIR! DU BEKOMMST DURCH MICH DIE STÄRKE DIE
DU BRAUCHST. DER HALBLING IST SCHWACH. NIMM DIR WAS
DEIN IST!
Der Gondorianer schüttelte den Kopf ärgerlich.
Es wurde immer schwerer, dem Ruf des Ringes zu widerstehen.
Er würde Frodo nicht berauben.
FÜHRE GONDOR MIT MEINER HILFE WIEDER INS LICHT!
Frodo stand auf, als er bemerkte, wie der Mann auf
sein Hemd starrte. Er wich zurück. Boromir wurde
ihm wieder gewahr. „Warum weichst du zurück?“ fragte
er. „Ich bin kein Dieb!“ Er selbst fühlte diese
Worte wie ein Schuldbekenntnis in der Luft hängen.
DU WIRST GONDOR RETTEN KÖNNEN! BOROMIR! KÖNIG!
Der Hobbit faselte etwas von Weisheit und Warnungen
und der Krieger wurde wütend. „Ich suche doch nur
nach Stärke, um mein Volk zu verteidigen!“ Als
er erkannte, daß der Kleine ganz blaß geworden
war, ließ er seine Stimme wieder sanfter werden.
„Wenn du mir den Ring nur leihen würdest...“ versuchte
er Frodo zu überzeugen. Der schüttelte nur
den Kopf. Boromir erkannte, wie dumm er sich benahm.
Er wollte sich bei dem Hobbit für sein Verhalten
schon entschuldigen.
LAIETHA.
Boromir sah rot. Wie konnte der Ring es wagen, ihren
Namen in den Mund zu nehmen!
Frodo bemerkte die Veränderung, die in Boromir
vorgegangen war. Der große Mann sah aus, als wollte
er ihn jede Sekunde angreifen. Erschreckt wich er zurück.
„Du bist nicht du selbst.“ Flüsterte er heiser.
Boromirs freundliches Gesicht wurde zur Grimasse. Dieser
Halbling, der wie ein Feigling vor ihm davonlief sollte
sich einer ganzen Armee von Saurons Dienern entgegenstellen?
Der Ring würde an den dunklen Herrscher gehen und
seine Stadt wäre verloren. Er würde sein Leben
für diese wahnwitzige Idee eines verrückten
Elben riskieren müssen und sollte der Ring an seinen
Herrscher zurückgehen, würden seine Armeen
auch nach Bruchtal gelangen - er würde nicht zulassen,
daß es dazu kam. Er - der Sohn des Statthalters
von Gondor würde das Schicksal Mittelerdes jetzt
selbst in die Hände nehmen.
„Du hast ihn nur durch einen unglücklichen Zufall
erhalten!“ schnaubte er. „Er hätte mir gehören
können!“ BOROMIR. „Er sollte mir gehören!“
BOROMIR! „Gib ihn mir!“ Voller Furcht wich der Halbling
weiter zurück und fing an zu laufen. Boromir setzte
zum Sprung an und brachte ihn zu Fall. Frodo stöhnte
unter dem Gewicht des Kriegers und Panik kroch in ihm
hoch, als der Mann wie von Sinnen an der Kette um seinen
Hals riß.
FÜHRE GONDOR INS LICHT UND DANN GEHÖRT
SIE DIR!
„Gib ihn mir!“
DER HALBLING IST SCHWACH. TÖTE IHN!
„Gib ihn mir!“
NIMM DIR WAS DEIN IST!
„Gib ihn mir!“
Frodo öffnete den Verschluß der Kette
und ließ den Ring auf seinen Finger gleiten. Sofort
verschwand er in der inzwischen vertrauten Schattenwelt.
Er entschlüpfte dem Griff des wütenden Gondorianers
und lief davon.
Boromir starrte verdutzt auf den leeren Fleck, an
dem eben noch der Hobbit gelegen hatte. Er sprang auf
die Beine. Der Hobbit hatte sie verraten. „Ich weiß
was du im Sinn hast! Du willst Sauron den Ring bringen!“
Gondor würde fallen. Rohan würde fallen. Und
der Fall Bruchtals war nicht weit. Die Elben waren schwach
und sie würde sterben! „Ich verfluche dich! Dich
und alle Halblinge!“ In seiner Wut übersah er den
Ast auf dem Boden, der ihn schließlich zu Fall
brachte. Ihm war, als hätte sich eine Nebelwand
in seinem Geist gelichtet. Frodo und der Ring waren
fort. Was hatte er nur getan?
Nicht Frodo hatte sie verraten - er war der Verräter!
Er war schwach - nicht der Halbling! Verzweifelt blieb
er liegen. Scham färbte seine Wangen und Tränen
traten ihm in die Augen. Wie hatte er nur so etwas tun
können? Wie lange er dort gelegen hatte, konnte
er nicht sagen, als er von fernem Kampfgetümmel
hörte. Was er gesagt und getan hatte, konnte er
nicht ungeschehen machen, aber jetzt war nicht die Zeit,
um über diese Dinge nachzudenken. Ohne lange weiter
zu überlegen, griff er nach seinem Schwert. Er
war immer noch Teil dieser Gemeinschaft und jetzt brauchten
sie seine Stärke. Er stürmte los und mußte
nicht lange suchen, bis er die Hobbits Merry und Pippin
in einen Kampf verwickelt sah. Ihre Chancen standen
schlecht. Sie sahen sich einer gewaltigen Übermacht
von Feinden gegenüber. Es waren zahllose Orks -
einer größer als der andere. Einer von ihnen
erhob sein Schwert gegen Merry. Boromir schrie und warf
sich mit all seiner Stärke dazwischen. Jetzt konnte
er seinen Fehler wieder gutmachen. Metall traf auf Metall
und er trieb die Feinde erbarmungslos zurück. Aber
es waren zu viele für ihn alleine. Sie würden
nicht lange durchhalten.
Sie kämpften verzweifelt gegen die Armee an,
die sich ihnen entgegenstellte. Legolas hatte seinen
Bogen sinken lassen und besann sich auf die Langmesser
an seinem Rücken, die er geschickt durch die Körper
seiner Feinde gleiten ließ. Sie waren klar in
der Unterzahl, aber sie hatten keine andere Wahl, als
ihr Bestes zu geben. Gimli schrie wütend auf und
spaltete den Schädel eines der häßlichen
Kreaturen. Aragorn schrie „Elendil!“ und warf sich gegen
einen der Feinde, der sich von hinten an Legolas heranschleichen
wollte. Schon hatte er sein Schwert im Rücken.
Der Waldläufer wütete wie eine Seuche unter
ihnen. Plötzlich vernahmen sie den Klang eines
Hornes. Sie unterbrachen den Kampf. „Das Horn Gondors!“
stellte Legolas fest und Aragorn beschlich eine dunkle
Ahnung. „Boromir!“
Sie liefen in die Richtung, aus der das Geräusch
gekommen war. Legolas und Gimli versuchten die Uruk-hai
zurückzudrängen, aber Aragorn bahnte sich
seinen Weg durch die Reihen der Feinde nach vorne. Plötzlich
entfernten sich die gräßlichen Kreaturen.
Aragorn kam auf einer Lichtung an, auf der die Kadaver
unzähliger Feinde lagen - an einem Baum ruhte eine
vertraute Gestalt. Der Waldläufer warf sein Schwert
fort und eilte auf ihn zu. Drei Pfeile steckten in seiner
Brust und der Krieger sah beinahe aus, als würde
er schlafen.
Aragorn schüttelte ihn und langsam öffnete
Boromir die Augen. Seine Lippen bewegten sich stumm
und Aragorn kam mit dem Kopf ganz nahe an den Freund
heran. „...haben die Kleinen...Frodo...wo ist Frodo?“
Aragorn schüttelte den Kopf. Tränen stiegen
ihm in die Augen. Er griff nach einem der Pfeile und
wollte ihn herausziehen, aber Boromir packte seine Hand
und schüttelte den Kopf. „Laß! Es ist vorbei,“
brachte er gepreßt hervor. Aragorn hatte schon
in zu vielen Schlachten gekämpft und wußte,
daß der Mann Gondors sterben würde. Er war
schwer verwundet. Hier in der Wildnis konnte der Waldläufer
nichts für den Freund tun. Wenn sie doch nur Hilfe
holen könnten! Aber sie waren so weit von allem
weg. Der Mann Gondors war dem Tode geweiht. „Wo ist
Frodo?“ wiederholte der Krieger - diesmal eindringlicher.
Sein Gesicht war schmerzverzerrt und voller Sorge. „Ich
habe Frodo gehen lassen.“ Boromir lächelte erleichtert.
„Verzeih mir. Ich habe versucht....der Ring...“ Der
Mann Gondors weinte bei seinem Schuldbekenntnis nun
hemmungslos. Aragorn schüttelte den Kopf. „Ich
habe euch alle verraten.“ Der Waldläufer legte
dem Krieger sein Schwert in die Hand. „Du hast tapfer
gekämpft, Boromir. Du hast deine Ehre behalten.“
Der Atem des Kriegers wurde schwächer, aber er
packte Aragorn mit einem erstaunlich festen Griff am
Arm. „Rette meine Stadt. Versprich es mir!“ Der Waldläufer
nickte, denn sprechen konnte er nicht mehr. Tränen
liefen auch ihm über die Wangen. Warum war er zu
spät gekommen? Der Krieger schloß die Augen
und öffnete sie ein letztes Mal. „...ietha...“
flüsterte er und es dauerte eine Weile bis Aragorn
begriff. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Er
hatte es geahnt. Was sollte er seiner Schwester nur
sagen, wenn sie zurückkehrten? Falls sie zurückkehrten.
Boromir fühlte sich plötzlich sehr leicht
und die Schmerzen ließen nach. Ein leichtes Bedauern
umfing ihn. Seine Stadt würde gerettet werden -
aber sie hatte er für immer verloren. Laietha.
Dann umfing ihn Dunkelheit.
Gimli und Legolas trafen am Ort des Kampfes ein und
starrten fassungslos auf Aragorn, der neben der zusammengesunkenen
Gestalt am Boden kniete. Langsam begriffen sie. Aragorn
stand auf. Sein Blick war fest und entschlossen. „Frodos
Schicksal liegt nicht mehr in unseren Händen.“
Legolas wollte protestieren, aber der Waldläufer
brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. „Sie haben
Merry und Pippin mit sich genommen. Wir werden ihnen
helfen und dann gehen wir nach Minas Tirith - das habe
ich Boromir versprochen. Wir müssen uns beeilen.
Die Orks reisen schnell.“ Sie verloren keine Zeit und
brachen auf.
****
Sie erreichten das Ufer und fanden zwei der Boote,
die Galadriel den Gefährten gegeben hatte. Haldir
konnte gar nicht so schnell reagieren, wie Laietha aus
dem Boot sprang und in den Wald lief. Ihm blieb nichts
anderes übrig, als hinter ihr herzurennen. Es dauerte
nicht lange und sie fanden die Körper vieler toter
Ungeheuer. Laietha biß sich fest auf die Lippe
und spürte den vertrauten Geschmack von Blut. Der
Wald war still. Sie rannte nur noch schneller. Mehr
tote Körper - aber keine Spur von denen, die sie
suchte. Sie war zu spät! Die Kriegerin kämpfte
gegen die Tränen an. Auf einer Lichtung hielte
sie so abrupt an, daß Haldir gegen sie prallte.
Angestrengt blickte er in ihre Richtung und dann sah
auch er die reglose menschliche Gestalt am Boden liegen.
„Nein!“ keuchte sie und lief wieder los. Haldir blieb
stehen und sah in einiger Entfernung drei Gestalten
laufen. Er ging zu ihr.
Laietha kniete neben dem leblosen Körper nieder.
Ihre Beine wollten sie ohnehin nicht mehr tragen. Eine
Hand legte sich auf ihre Schulter. „Er ist tot, aber
dein Bruder ist noch nicht weit. Wir können ihn
noch heute einholen, wenn wir uns beeilen.“ Laietha
faßte die Hand des Kriegers und rieb sie verzweifelt
zwischen ihren. Haldir sah sie neugierig an und begann
zu verstehen, daß sie den anderen nicht folgen
würde. „Wer ist er? Ein Freund?“ Sie schüttelte
den Kopf und brachte schluchzend hervor: „Mein Geliebter.“
Der Elb setzte sich auf den Boden. Das war das bittere
Los der Sterblichkeit.
Laietha schrie ihren Schmerz hinaus. Weinend hielt
sie den Krieger im Arm. Es durfte nicht wahr sein! Nicht
nach allem, was sie auf sich genommen hatte, um rechtzeitig
bei ihm zu sein! Wäre sie nur nicht diese eine
Nacht in Lothlorien geblieben! Sie hätte sofort
aufbrechen sollen! Ihre Hände strichen sanft über
sein Gesicht und sie bedeckte seine Lippen und seine
Stirn mit fieberheißen Küssen. Er durfte
nicht tot sein. Er war so warm! Nur ein paar Minuten
hätte sie schneller sein müssen! Ihre Hände
ruhten auf seiner Brust und sein noch heißes Blut
rann ihr über die Finger...sein Blut!
Er blutete noch! Das hieß er lebte! Bis zum
Haaransatz gespannt beugte sie sich über seine
Lippen und konzentrierte sich. Er atmete noch - zwar
schwach, aber er atmete. Vielleicht war noch nicht alles
verloren. Sie rief Haldir an ihre Seite. „Schnell, hilf
mir die Pfeile rauszuziehen!“ befahl sie. Laietha versuchte
die Panik, die in ihr aufkeimte zu unterdrücken.
Ruhe mußte sie jetzt bewahren, sonst war alles
verloren. Behutsam preßte sie die Hände an
die erste Wunde. Haldir umfaßte den Schaft des
Pfeils. Laietha sog den Atem scharf ein. „Jetzt!“ rief
sie und der Elb zog mit aller Kraft. Sofort strömte
Boromirs Blut über ihre Hand und sie drückte
so stark sie konnte dagegen. Als die Blutung nachließ,
bedeckte sie die Wunde mit sauberen Tüchern aus
ihrem Gepäck. Dann widmeten sie sich den letzten
beiden Pfeilen. Schwer atmend sank Laietha zu Boden.
Boromir lag immer noch wie tot da, aber sie wußte,
daß der Mann noch lebte.
„Was nun?“ fragte Haldir. „Du wirst ihn hier nicht
retten können. Wenn er nicht Hilfe bekommt, wird
er die nächsten Tage nicht überstehen.“ Der
Elb hatte Recht. Laietha überlegte fieberhaft.
Sie mußten etwas unternehmen. Sie war nicht so
weit gereist, um ihm beim Sterben zuzusehen. „Wir werden
ihn nach Lothlorien bringen,“ sagte sie schließlich.
Haldir schüttelte fassungslos den Kopf. Der Mann
würde die Reise nie überleben. Aber die Kriegerin
war schon damit beschäftigt, den Mann unter den
Achseln anzuheben. Sie strauchelte unter seinem Gewicht.
Haldir lief zu ihr und packte mit an. Wenn der Gondorianer
einen annährend so starken Willen hatte wie sie,
bestand vielleicht doch noch Hoffnung darauf, daß
er es bis in die Goldenen Wälder schaffen würde.
Bevor sie in das Boot stiegen, prüfte Laietha
noch einmal den Atem und den Puls des Kriegers. Ihre
Miene war besorgt. Schnell griff sie an ihren Hals und
löste die Kette, die sie trug. Haldir atmete scharf
ein. Sie trug ein grünes Juwel und der Elb wußte
sehr wohl um seinen Wert. Es war ein seltener Stein,
der sich seit vielen tausend Jahren im Besitz der Elben
befand. Als der Stein die Haut des Verletzten berührte,
begann er sofort zu leuchten. Die Atemzüge des
Gondorianers wurden zusehends ruhiger und kräftiger.
Der Elbenstein begann sofort, seine heilende Wirkung
zu entfalten. Sie hatten nun in der Tat reelle Chancen,
daß der Krieger die Reise nach Lothlorien überleben
würde.
Als sie den schweren Mann ins Boot hoben, fiel das
Horn, das gespalten an seiner Seite hing, ins Wasser
und die Strömung riß es mit sich. Laietha
bettete den Kopf Boromirs in ihren Schoß und strich
ihm die Haare aus der fieberheißen Stirn. Haldir
übernahm das Rudern und mit seiner Kraft kämpfte
er tapfer gegen den Strom an und trug sie in Richtung
Lothlorien.
****
Die Herrin des Lichts beugte sich über ihren
Spiegel. Sie hatte es also wirklich geschafft. Anerkennend
nickte sie. Die junge Kriegerin war stärker als
erwartet. Aber alleine würde sie es nicht schaffen,
ihren Liebsten zu retten. Sie hatte die Liebe in seinem
und ihrem Herzen gesehen. Obwohl der Krieger versucht
hatte, es vor ihr zu verbergen. Gandalf trat an ihre
Seite. Sie ließ auch ihn einen Blick in den Spiegel
werfen und der Zauberer lächelte. „Es sind auch
noch andere Kräfte am Wirken in dieser Welt, nicht
nur die des Bösen.“ Auch die Herrin des Waldes
lächelte. Sie sah den Zauberer an und wußte
was sie zu tun hatte.
****
Sieben Tage waren sie unterwegs und am Ende ihrer
Kraft. Boromir stöhnte im Fieber und Laietha sprach
beruhigend in der Sprache der Elben auf ihn ein. Sie
griff nach der Phiole an ihrer Seite und flößte
ihm behutsam die letzten Tropfen des stärkenden
Tranks ein, den ihr Galadriel mitgegeben hatte. Sie
rasteten nur wenige Stunden am Tage und doch waren sie
noch mindestens einen Tagesmarsch von Lothlorien entfernt.
Boromir warf sich im Fieber so stark hin und her, daß
sie befürchteten, er würde das Boot zum Kentern
bringen. Haldir steuerte sie ans Ufer. Er half Laietha
den Mann aus dem Boot zu heben. Sie ging neben ihm in
die Knie und begann zu weinen. Laietha war verzweifelt.
So würden sie es nie schaffen! Aber sie konnten
doch nicht so einfach aufgeben! Nicht so kurz vor dem
Ziel. „Bitte, Boromir, halte durch. Boromir,“ weinte
sie. Der Elb stand hilflos daneben. In der relativen
Stille des Waldes hörten sie Pferdegetrappel. Sie
erstarrten und Laietha wurde schlagartig still.
Aus dem Dickicht trat eine Gruppe Elben aus Galadriels
Gefolge. „Eglerio!“ rief Laietha aus und auch Haldir
seufzte erleichtert. „Bei den Valar, ich bin froh euch
zu sehen!“ Die Elben saßen ab und liefen zu der
Gesellschaft. „Die Herrin des Waldes schickt uns. Sie
erwartet euch.“ Einer der Elben trat zu Laietha und
Boromir und sprach: „Schnell, gebt mir den Verwundeten.
Ich werde ihn sicher zu ihr bringen.“ Sie übergaben
ihnen frisches Wasser und etwas zu Essen, was sie dankbar
annahmen. Dann nahm der eine Elb Boromir vorsichtig
auf sein Pferd und verschwand so rasch, wie er gekommen
war. Die anderen blieben bei ihnen und ließen
sie sich etwas stärken. Nach einer Weile folgten
sie ihnen.
****
Boromir öffnete die Augen. Warmes Licht umfing
den Raum und er brauchte eine Weile, bis er begriff,
wo er war. Lothlorien. Hatte er geträumt? Es war
ein finsterer Traum gewesen. Oder war er gar tot? Er
versuchte den Kopf zu heben, aber der stechende Schmerz
in seiner Brust verriet ihm, daß keine seiner
Überlegungen richtig zu sein schienen. Er fühlte
sich schwach. Erschöpft schloß er die Augen.
Was war geschehen? Wie kam er hierher? Das letzte, an
das er sich erinnerte war, daß er versucht hatte,
die Hobbits aus den Fängen dieser riesigen Orks
zu befreien. Er war verwundet worden und dann...was
war passiert? Er hatte geglaubt, daß er sterben
würde. Er sammelte Atem und versuchte erneut, den
Kopf zu heben. Vergeblich. An seiner Hand spürte
er etwas Warmes, Weiches. Er tastete danach und hörte
ein Seufzen. Haare kitzelten ihn. Er war also nicht
allein. Nun war er neugierig. Wieder versuchte er, den
Kopf zu heben, diesmal mit mehr Erfolg.
An seinem Bett - mehr liegend als sitzend - erblickte
er eine vertraute Gestalt. Eine weiße Hand umfaßte
seine und rote Locken breiteten sich an seiner Seite
aus. Laietha. Er lächelte und Tränen des Glücks
traten in seine Augen. Er löste seine Hand aus
ihrer und strich ihr übers Haar. Schwäche
übermannte ihn und zwang ihn zurück in die
Kissen zu sinken. Wieder dieser stechende Schmerz. Er
konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Vor
seinem Gesicht tauchte ein roter Haarschopf auf und
gleich darauf sah er in zwei grüne Augen, die sich
ungläubig weiteten, als sie bemerkten, daß
er wach und lebendig war. Ihrer Kehle entrang sich nur
ein ungläubiges Keuchen. Dann flossen ihr die Tränen
über die Wangen. „Du bist wach! Du lebst! Ich dachte
schon, du würdest nie mehr zu dir kommen! Boromir...“
Sie konnte nicht weitersprechen. Der Krieger lächelte
sie an und suchte ihre Hand. Er preßte sie fest.
Laietha konnte nicht mehr an sich halten. Weinend nahm
sie ihn in den Arm. Auch er konnte sein Glück kaum
fassen. Trotzdem sie schwer auf seiner Brust lag und
seine Verletzungen ihm große Schmerzen bereiteten,
ließ er sie nicht los. Er wollte sie kein zweites
Mal verlieren.
Sie vernahmen Schritte und ein leises Klopfen an
der Tür. Herein trat die Herrin des Waldes, gekleidet
in Weiß und strahlend schön wie immer. Sie
lächelte gütig auf die beiden herab. Laietha
ließ ihn los. Immer noch seine Hand haltend, wandte
sie sich an die Elbenkönigin. „Habt vielen Dank,
Frau Galadriel.“ Die Elbin lachte silbern. „Nicht mir
gebührt der Dank, Frau Annaluva, sondern euch allein,
denn ihr wart es, die nie die Hoffnung hat sinken lassen
und die über ihre Kräfte gegangen ist, um
denen zu helfen, die ihr liebt.“ Die Kriegerin errötete,
aber Boromir drückte ihre Hand. Er wußte,
daß die Elbin Recht hatte.
In diesem Moment der Freude, legte sich ein dunkler
Schatten auf sein Herz. Er dachte daran, daß er
versucht hatte, Frodo zu töten und ihm den Ring
zu nehmen. Er schämte sich und fragte sich, womit
gerade er so viel Glück verdient hatte. Die Elbin
sah ihm in die Augen und lächelte mild. „Du hast
Fehler gemacht, Sohn Gondors, aber ich spreche mit den
Worten Gandalfs: Es sind auch noch andere Kräfte
am Wirken in dieser Welt, nicht nur die des Bösen.“
Boromir schluckte. „Gandalf ist tot, Frau Galadriel.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist eine lange Geschichte.
Ihr solltet erst wieder zu Kräften kommen, dann
werde ich sie euch erzählen. Fürs Erste seid
zufrieden, wenn ich euch sage, daß Gandalf vor
kurzem Lothlorien verlassen hat und er sehr lebendig
war.“ Boromir lächelte erleichtert und schloß
die Augen. Er fühlte sich fürchterlich.
Die Herrin des Waldes verließ den Raum. Laietha
strich ihm sanft über die Stirn und er schlug die
Augen wieder auf. Er sah sie lange an. Sie war blaß,
müde und mager. Mit einem schwachen Schmunzeln
ergriff er ihre Hand. „Du siehst entsetzlich aus. Was
machst du überhaupt hier? Du hattest doch versprochen,
daß du in Bruchtal bleibst.“ Sie zog eine Braue
hoch. „Das sieht dir ähnlich. Eben bist du noch
so gut wie tot und kaum öffnest du die Augen...“
Er zog sie zu sich hinunter und versiegelte ihre Lippen
mit einem Kuß. „Ich hätte auf Bilbo hören
und dich festbinden sollen.“
****
Vier Tage waren vergangen, seit Boromir wieder zu
sich gekommen war. Er hatte von Laietha erfahren, daß
sie fast drei Tage lang in Lothlorien um sein Leben
gebangt hatten. Inzwischen sah sie auch wieder erholter
aus. Ihre Wangen hatten mehr Farbe bekommen und sie
war nicht mehr so beängstigend dünn. Auch
Boromir ging es langsam besser. Dank der guten Pflege
der Elben heilten seine Wunden langsam aber beständig.
Er konnte spüren, daß er langsam wieder zu
Kräften kam. Laietha saß an seinem Bett und
streichelte seine Hand. Er lächelte sie an und
schüttelte den Kopf. „Was ist?“ fragte sie ein
wenig besorgt. Boromir lachte, was er sofort mit einem
stechenden Schmerz in der Brust bezahlen mußte.
„Ich kann es immer noch nicht glauben, daß ich
hier bin - mit dir. Es ist ein Wunder.“ Sie drückte
seine Hand. „Ja, es ist wirklich ein Wunder. Du bist
sehr stark, Boromir, und wir alle hatten viel Glück.“
Liebevoll legte er ihr die Hand an die Wange. Sie lehnte
sich in seine Liebkosung. Er war wieder warm, warm wie
in den Spätherbsttagen, als sie sich nähergekommen
waren. Nichts hatte sie mehr geängstigt, als die
Stunden, in denen er, vom Fieber geschüttelt, mit
furchtbar kalten Händen in diesem Boot gelegen
hatte. Sie schüttelte sich unweigerlich.
Die Sonne warf Schattenbilder an die Wand und die
Vögel sangen. Es war ein schöner Frühlingstag.
Aber in den Goldenen Wäldern war immer Frühling.
Boromirs Hand glitt zu dem heilenden Schnitt an ihrem
Oberarm. Die Elben hatten alles getan, um die Wunde
zu versorgen, aber durch das Orkgift würde eine
häßliche Narbe bleiben. Noch eine mehr. Sie
hatte ihm von ihrer Reise erzählt und Boromir hätte
sie am liebsten erwürgt, weil sie sich in so große
Gefahr begeben hatte. Und das alles nur wegen ihm. Es
machte ihm fast Angst, daß es jemanden gab, der
ihn so sehr liebte. Er dachte an seinen Bruder. Faramir
hätte genau das selbe für ihn getan. Er fragte
sich, wie es seinem Bruder wohl ging. Was würde
sein Bruder wohl sagen, wenn die Nachricht von seinem
Tod Gondor erreichte? Plötzlich wollte Boromir
so schnell es ging nach Hause. Aber das würde noch
warten müssen, denn bis er wieder reisefähig
war würden noch Tage, wenn nicht Wochen vergehen.
Der Tag verstrich wie im Flug und bald schon senkte
sich die Dämmerung herab. Laietha hatte sich in
das Bett an seiner Seite gelegt und war schon fast eingeschlafen,
als sie von draußen Lärm hörte. Schnell
sprang sie auf und lief ans Fenster. Boromir stützte
sich unter großen Schmerzen auf seine Ellenbogen.
„Was gibt es?“ fragte er. Laietha strengte ihre Augen
an und erkannte, daß die Elben in großer
Aufregung waren. „Ich habe keine Ahnung, aber ich werde
es rausfinden.“ Sie zog sich schnell an und griff aus
einem alten Reflex nach ihrem Schwert. Boromir packte
sie am Arm. Sie sah ihn erstaunt an. „Was immer du tust,
sei vorsichtig.“ Sie küßte ihn auf die Stirn
und löste sich aus seinem Griff. „Versprochen?“
fragte er. Sie nickte und eilte zur Tür hinaus.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Boden erreicht
hatte. Soldaten sammelten sich und Herr Celeborn rief
ihnen Befehle zu. „Zu den Waffen! Beeilt euch!“ Laietha
eilte an seine Seite. „Was ist los, Herr? Warum dieser
Aufruhr?“ Er sah sie erstaunt an. Noch immer hatte er
sich nicht wirklich daran gewöhnt, daß sie
die Sprache der Elben ebenso beherrschte wie er. „Ein
Angriff aus Dol Guldur. Wir müssen uns verteidigen.
Geht besser ins Haus zurück.“ Laietha verbeugte
sich tief. „Mein Herr, ich habe viel Güte von euch
erfahren. Akzeptiert meine Dienste, damit ich euch einen
Teil davon zurückzahlen kann.“ Der Elb lächelte
freundlich. „Ich akzeptiere, Frau Annaluva. Begebt euch
zu den Schwertkämpfern.“
****
Boromir lag unruhig in seinem Bett und er verfluchte
seine eigene Schwäche, weil er nicht aufstehen
konnte, um zu sehen, was vor sich ging. Schlimmer noch,
Laietha war nicht zurückgekommen. Er hörte
das Klirren von Waffen und Stimmen, die Befehle schrieen,
aber er verstand sie nicht. Hilflosigkeit ergriff von
ihm Besitz und Furcht. Ihm war nicht entgangen, daß
sie ihr Schwert mitgenommen hatte. Draußen wurde
es langsam ruhiger, aber noch immer kam sie nicht zurück.
Was ging dort vor sich? Die Stille war zermürbender
als der Lärm.
In der Ferne hörte er auf einmal den Klang von
Hörnern. Sie wurden also angegriffen. Wo steckte
Laietha? Verzweifelt versuchte er aufzustehen und zum
Fenster zu gelangen. Als er versuchte, sich aufzurichten,
wurde ihm fast übel vor Schmerzen. Er sank in die
Kissen zurück. Frustriert hieb er mit der Faust
gegen die weiche Matratze. Es linderte seine Sorgen
nicht im geringsten! Es wurden Schreie laut und er hörte
eilige Schritte auf dem Gang. Er befand sich im Heilungstrakt
und er wußte was das zu bedeuten hatte - Verletzte.
Noch einmal wollte er es versuchen. Er sog die Luft
tief ein und als er sich mühsam aufrichtete, stieß
er den Atem pfeifend aus. Aber er schaffte es, sich
in eine sitzende Position zu bringen. Auf dem Gang erhoben
sich Stimmen, die in der Sprache der Elben aufgeregt
diskutierten. Boromir verstand kein Wort und verfluchte,
daß er nicht zusammen mit seinem Bruder dem Elbischunterricht
Gandalfs beigewohnt hatte. Langsam schob er seine Beine
aus dem Bett - mit dem Erfolg, daß ihm schwarz
vor Augen wurde. Es hatte keinen Sinn. Er würde
warten müssen, bis jemand zu ihm kam, den er fragen
konnte - jemand der die Gemeinsame Sprache sprach. Es
war zum aus der Haut fahren.
****
Die Reihen der Orks waren zahlreich und obwohl die
elbischen Bogenschützen viele von ihnen getötet
hatte, kam eine große Anzahl auf sie zugestürmt.
Nicht nur Orks griffen sie an - die Kriegerin meinte
fast, eine Handvoll Elben unter ihnen zu sehen, aber
sie war sich nicht sicher, denn es war dunkel und für
Elben waren diese Kreaturen eigentlich zu mager und
zu ungepflegt. Es war egal. Wenn sie Celeborns Reich
angriffen, waren sie Feinde - und wenn sie Feinde waren,
hatten sie den Tod verdient. Laietha zog ihr Schwert
und machte sich bereit.
Die feindlichen Armeen prallten aufeinander. Schon
mußten auch die Elben erste Verluste hinnehmen.
Laietha war nicht faul und stürzte sich ins Kampfgetümmel.
Plötzlich spürte sie einen Schlag im Rücken
und ging zu Boden. Ein Ork beugte sich über sie
und fletschte boshaft die Zähne. Sie griff nach
ihrem Schwert und rammte es ihm ins Herz. Schnell kam
sie wieder auf die Beine und sah, daß wenige Meter
von ihr entfernt, ein Ork sein Schwert zückte,
um einen der Elben zu enthaupten. Sie griff nach ihrem
Messer und warf - die Kreatur ging mit einem Schrei
zu Boden. Schnell eilte sie zu ihm, um sich ihre Waffe
wiederzuholen. Der Elb hob den Kopf. „Annaluva, was
machst du hier?“ fragte Haldir entsetzt. Sie grinste,
während sie einen Ork enthauptete. „Wonach sieht
es denn aus? Dir die Haut retten.“ Eilig half sie ihm
auf die Beine. Sie kämpften Seite an Seite und
brachten vielen der Ungeheuer den Tod.
„Was findest du an ihm, Annaluva?“ fragte Haldir
und sie war so verdutzt, daß sie den angreifenden
Ork gar nicht kommen sah. Haldir schleuderte ihm sein
Schwert durch den Hals.
„Er ist nett.“ Laietha trennte ihrem Angreifer den
Arm ab und der Orks zog sich mit einem lauten Kreischen
zurück.
„Er ist sterblich.“ Haldir zog seine Klinge mit einem
Quietschen aus den Rippen des erschlagenen Feindes.
„Das bin ich auch, wenn du dich erinnerst.“ Laietha
rammte ihrem Angreifer das Schwert in die Brust und
der tote Körper fiel zu Boden.
„Er ist viel zu alt für dich!“ Haldir griff
nach seinem Wurfdolch und schleuderte ihn einem Ork
genau zwischen die Augen.
„Mußt du grade sagen,“ grinste Laietha und
brach dem Ork das Genick, der sich gerade über
einen am Boden liegenden Elbenkrieger beugte. „Außerdem
hat er einen größeren...“
Mit einem Schrei warf sie sich auf den Ork, der sich
von hinten an Haldir hatte ranschleichen wollen. Der
Elb schnaubte verächtlich.
Viele Stunden hatten sie gekämpft und nun war
es deutlich geworden, daß die Elben die Schlacht
für sich entscheiden würden. Ein Horn erschallte
und die Orks zogen sich zurück. Laietha sank erschöpft
zu Boden. Haldir streckte seine Hand aus und half ihr
auf die Beine. „Gute Arbeit, Annaluva,“ nickte er anerkennend.
Sie zuckte mit den Schultern. „Danke.“
****
„Was machst du da? Leg dich sofort wieder hin, ja?“
Laietha lief schnell zu Boromir, der mit schmerzverzerrtem
Gesicht versucht hatte, aufzustehen und auf den Gang
zu gelangen. Sie schüttelte den Kopf. „Kann ich
dich denn keine Minute alleine lassen?“ Boromir stöhnte
auf, als er sich zurück in die Kissen sinken ließ.
So schlimm hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit
er ein kleines Kind gewesen war. Laietha nahm auf seinem
Bett Platz und strich ihm sanft übers Gesicht.
„Was machst du nur für Sachen, Herr.“ Boromir schnaubte
verächtlich. „Wo warst du? Ich habe mir Sorgen
gemacht? Draußen bricht ein Tumult aus und du
kommst nicht wieder!“ Sie lachte. „Ich bin eine Kriegerin,
schon vergessen?“ Dann wurde sie wieder ernst. Sie berichtete
ihm von dem Überfall der Orks und er verzog das
Gesicht. Es waren wirklich schlimme Zeiten, wenn die
Orks schon bis nach Lothlorien vordrangen. Wie würde
es wohl um seine Stadt bestellt sein? Würden sein
Vater und sein Bruder die Festung halten können?
Laietha küßte ihn auf die Stirn. „Ich bin
wieder da. Mir ist nichts geschehen.“ Sie gähnte
herzhaft und Boromir zog sie zu sich. „Schlaf jetzt,
Herrin. Du bist müde.“ Sie dachte eine Sekunde
lang darüber nach, aufzustehen und in ihr Bett
zu gehen, aber seine Wärme in ihrem Rücken
tat so gut und sie glitt schon in einen Dämmerschlaf
ab.
Boromir fand lange keinen Schlaf. Schon seit Tagen
fragte er sich, was aus Merry und Pippin geworden war
und ob Aragorn tatsächlich nach Minas Tirith gereist
war. Es war nicht gerade nach seinem Geschmack, untätig
im Bett zu bleiben und unwillkürlich mußte
er an einen Disput mit seinem Bruder denken, den er
vor langen Jahren gehabt hatte.
Du kannst morgen nicht in die Schlacht ziehen, Boromir.
Du bist noch nicht wieder gesund! Was nützt es
uns, wenn sie dich auf deinem Pferd festbinden müssen,
damit du auf dem Weg zum Schlachtfeld nicht hinunterfällst.
Laß mich gehen!
Faramir. Boromir hoffte, daß es seinem Bruder
gutging. Er hatte sich mit seinen Waldläufern in
Ithilien postiert und versuchte dort die Grenzen zu
sichern. Eine gefährliche Aufgabe. Dummkopf - es
geht ihm gut. Du würdest wissen, wenn ihm etwas
passiert wäre, versuchte er sich zu beruhigen.
Aber es half nicht viel. Er dachte an ihre Kindheit.
Sein Bruder war nie so kampfesbegeistert wie er gewesen,
sondern hatte lieber die Geschichte Mittelerdes studiert.
Mit freudestrahlenden Augen war er zu ihm gelaufen gekommen,
wenn er eine neue Entdeckung in der Bibliothek gemacht
hatte. Boromir liebte die Bücher nicht wie er.
Alles was länger als einen Schwertstreich brauchte,
um erledigt zu werden, sah er als Zeitverschwendung
an. „Du liebst wie du kämpfst,“ hatte Laietha zu
ihm gesagt und sie hatten gelacht, aber sie hatte wohl
Recht.
Faramir hatte sich oft zu ihm ins Zimmer gesetzt,
wenn er einen harten Tag auf dem Übungsplatz verbracht
hatte. Boromir war als strenger Heerführer bekannt,
aber seine Männer hielten ihm die Treue, denn er
war gerecht und seine Härte in der Ausbildung hatte
vielen Soldaten in der Schlacht schon das Leben gerettet.
Wenn Boromir dann erschöpft in seinem Bett lag,
setzte sich Faramir an seine Seite und erzählte
mit leuchtenden Augen, was er am Tag gelernt hatte.
Vieles vergaß Boromir sofort, nachdem er es gehört
hatte, aber er genoß es, Zeit mit seinem kleinen
Bruder zu verbringen.
Laietha schmiegte sich fester an ihn und er hätte
fast geschrieen, als sie ihre Hand auf seine Brust legte.
Sanft griff er danach und umschloß sie mit seiner
eigenen. Die Kriegerin lächelte im Schlaf. Ihr
Atem streifte seinen Hals und das Mondlicht fiel fahl
auf ihr Gesicht. „Faramir wird dich mögen.“ Sein
Herz schlug höher, als er sie lange so ansah. Er
war glücklich. Kurze Zeit später war auch
Boromir eingeschlafen.
****
Zwei Tage waren seit dem Angriff aus Dol Guldur vergangen
und Boromir ging es immer besser. Eine der elbischen
Heilerinnen beugte sich über ihn und untersuchte
die tiefen Einschußlöcher in seiner Brust.
Die Entzündungen waren zurückgegangen und
die Wunden schlossen sich. Boromir musterte sie bewundernd.
Wie alle Elbinnen war sie von übermenschlicher
Schönheit. Ihr langes blondes Haar schimmerte in
der Sonne wie pures Gold und ihre sanften Hände
glitten federleicht über seine Brust, als sie die
heilende Tinktur auftrug. Sie sprach mit ihrer melodischen
Stimme zu ihm. Boromir verstand kein Wort und lächelte
freundlich. Die Tür ging auf und die Elbin wechselte
ein paar Worte mit Laietha. Die Kriegerin lachte und
nahm ihre Hand. Sie erwiderte etwas und die Heilerin
ging hinaus.
Laietha schmunzelte und setzte sich zu Boromir ans
Bett. „Es scheint dir ja schon wieder blendend zu gehen,
Herr.“ Er zog die Augenbraue hoch. Irgendwie konnte
er sich nicht helfen und vermutete, daß es wohl
etwas mit dem, was die Elbin gesagt hatte zu tun haben
mußte. „Was hat sie gesagt?“ Laietha küßte
ihn auf die Nasenspitze. „Daß ich dir den Kopf
waschen sollte, weil mein Mann...“ sie lächelte
bei dem Gedanken, daß man sie für verheiratet
hielt, „anderen Frauen hinterher sieht.“ Boromir zog
ihr Gesicht dicht an seins heran und seine Lippen berührten
ihre sanft. „Unsinn. Ich habe nur Augen für dich.“
Laietha wollte aufstehen, aber er ließ sie nicht
los. Wieder küßte er sie, länger diesmal
und die Frau konnte sich nicht helfen und lachte in
seinen Mund hinein. Kaum ging es ihm wieder besser...
Plötzlich fuhr Boromir mit einem Aufschrei in
sich zusammen. Laietha sprang sofort auf. Hatte sie
ihm wehgetan? Hilflos nahm sie seine Hand. „Faramir...“
stammelte er. Laietha zog die Brauen zusammen. „Was
hast du? Boromir, was ist mit dir?“ Er riß entsetzt
die Augen auf. „Faramir!“ Laietha nahm sein Gesicht
in seine Hände. „Ruhig, Boromir. Was hast du?”
Das Entsetzen wich aus seinem Gesicht und er starrte
ins Leere. Sie nahm seine Hand und er drückte sie
so fest, daß sie vor Schmerz beinahe aufgeschrieen
hätte. Beruhigend fuhr sie mit ihren Fingern über
sein Gesicht. „Hast du Schmerzen? Soll ich eine Heilerin
holen?“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist schon wieder
vorbei.“
Laietha glaubte ihm kein Wort. „Du sagtest einen
Namen...“ „Faramir.“ Boromir sah sie an. „Mein kleiner
Bruder. Ich weiß nicht, aber ich hatte das Gefühl,
daß ihm etwas passiert wäre. Als wäre
er plötzlich nicht mehr da und dann - ich weiß
es nicht.“ Laietha musterte ihn lange. „Ich wußte
nicht, daß du einen Bruder hast.“ Boromir lächelte.
„Bitte erzähle mir von ihm.“
Sie half ihm, sich aufzusetzen und Boromir begann
von Faramir zu erzählen. Von dem Tag, als er geboren
wurde, vom Tod ihrer Mutter, davon, wie sie zusammen
aufgewachsen waren. Sie lachte laut, als sie von den
Scherereien hörte, in die sich Boromir regelmäßig
gebracht hatte. Vorsichtig ließ er die Geschichten
über seinen Vater aus. Sie würde ihn noch
früh genug kennenlernen. Laietha hatte sich hinter
ihn gesetzt, während sie ihm lauschte. Seine Schultern
lagen zwischen ihren Beinen und ihr loses Haar war ihm
ins Gesicht gefallen. Boromirs Kopf ruhte an ihrer Brust
und sie strich ihm gedankenverloren über das Haar.
Als er mit seinen Erzählungen fertig war, schloß
er die Augen und lehnte sich völlig zurück.
Ohne nachzudenken, griff er nach einer ihrer dunkelroten
Locken. „Du liebst ihn sehr, nicht wahr?“ Seine Hand
streichelte ihr Bein. „Er ist das Liebste was ich habe,
mein bester Freund, mein engster Vertrauter.“ Dann grinste
er sie an. „Aber er hat sein eigenes Zimmer.“ Laietha
brach in Gelächter aus.
Sie hatten gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit
vergangen war, aber nun begann die Sonne bereits zu
sinken. „Tu mir einen Gefallen, Laietha. Ich will versuchen,
ob ich aufstehen kann. Hilf mir bitte.“ Sie sah ihn
kritisch an, nickte dann aber.
Mühsam richtete er sich auf. Es kostete ihn
viel Überwindung, sich nicht sofort zurück
in die Kissen sinken zu lassen. Dann setzte er die Beine
auf den Boden. Laietha legte behutsam ihren Arm um ihn.
Er stützte sich auf sie und zum ersten Mal bemerkte
sie, wie viel schwerer als sie er war. Und sie war sicher
nicht schwach. Vorsichtig begann er einen Fuß
vor den anderen zu setzen. Boromir biß die Zähne
zusammen. Er hatte immer noch große Schmerzen,
aber als sie am Fenster angekommen waren, wurde er mit
einem wunderschönen Sonnenuntergang belohnt. Er
lächelte. Vielleicht konnte er bald nach Hause
zurückkehren. Er hatte schon zu lange darauf gewartet.
****
Weitere zwei Tage später gab es in der Nacht
einen zweiten Angriff auf Lothlorien. Boromir humpelte
zum Fenster und sah besorgt zu, wie sich Laietha den
Soldaten anschloß. Bevor sich die Kompanie in
Bewegung setzte, blickte sie zu ihm hinauf und hob ihr
Schwert zum Gruß. Er stützte sich mit vor
Anstrengung zitternden Armen am Fenstersims ab und beobachtete,
wie die Truppen im Dickicht des Waldes verschwanden.
Boromir verfluchte seine Verletzung, die ihn so schrecklich
hilflos machte. Die Tür ging auf und eine der Heilerinnen
trat hinein. Sie redete in der Sprache der Elben mit
ihm und obwohl er ihre Worte nicht verstand, wußte
er, was sie ihm sagen wollte. „Ich will mich nicht hinlegen.
Es geht mir gut. Danke,“ erwiderte ein wenig zu schroff.
Sie ignorierte ihn und zog sanft am Ärmel seines
Nachtgewandes. Er zog seinen Arm weg. „Es geht mir gut,
vielen Dank,“ preßte er ärgerlich hervor.
Er war in Sorge, nicht nur um Laietha. Wieder hatte
ihn das schreckliche Gefühl, daß Faramir
etwas zugestoßen war, ereilt. Er wollte jetzt
alleine sein und auf seinen eigenen Füßen
stehen!
„Ihr solltet euch hinlegen, Herr Boromir, wenn ihr
bald nach eurem Bruder sehen wollt.“ Der Krieger fuhr
herum und ein stechender Schmerz ging von den Wunden
aus. Er hätte sich nicht so schnell bewegen sollen.
Frau Galadriel stand hinter ihm und bot ihm ihren Arm
als Stütze an. Ihr Blick ließ keinen Widerspruch
zu. Boromir akzeptierte und die Herrin des Lichts sprach
schnell ein paar Worte zu der Heilerin, die sich dann
rasch entfernte. Galadriel brachte ihn zurück zu
seinem Bett und er ließ sich erschöpft in
die Kissen sinken. „Vielleicht ist eure Sorge nicht
unbegründet, aber nachdem Frau Annaluva so viel
riskiert hat, um euer Leben zu retten, solltet ihr es
nicht leichtsinnig aufs Spiel setzen, indem ihr euch
überanstrengt. Ich werde euch nicht gehen lassen,
bis ihr stark genug für die Reise seid.“ Boromir
seufzte resigniert. Er konnte ihr nichts entgegensetzen.
So entschied er sich, das Thema zu wechseln. „Wer greift
euch an, Frau Galadriel?“
Nun ließ sie bedrückt den Kopf hängen.
„Der Schatten von Sauron ist auch über Lothlorien
gefallen. Seine Diener greifen aus Dol Guldur an. Viele
Bäume haben sie bei ihrem letzten Angriff zerstört
und viele Elben fanden den Tod. Beim letzten Mal konnten
wir sie zurücktreiben, aber wie lange wir ihnen
noch standhalten können, vermag ich nicht zu sagen.“
Sie sah ihm in die Augen. „Nein, Herr Boromir, von Gondor
haben wir noch keine Nachrichten, aber soweit ich weiß,
hält die Weiße Stadt dem Feind noch Stand.
Wie lange, kann selbst ich nicht vorhersehen.“ Boromir
senkte den Kopf, aber Galadriel schenkte ihm ein aufmunterndes
Lächeln. „Habe ich euch nicht schon vorher gesagt,
daß noch Hoffnung besteht? Daß Frau Annaluva
kommen würde, um euch zu helfen, habe ich nicht
vorhergesehen, aber dennoch war sie zur Stelle, als
ihr sie brauchtet. Sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben,
obwohl sie nicht wußte, was sie erwarten würde.
Ihr solltet es ebenso halten.“ Dankbar sah er sie an,
auch wenn sie seine Befürchtungen nicht hatte zerstreuen
können. Die Elbenkönigin erhob sich und verließ
den Raum. Boromir wartete, bis Laietha nach vielen Stunden
den Raum betrat. Sie hatte sich gewaschen, aber Boromir
blieb der frische Schnitt in ihrem Gesicht ebensowenig
verborgen, wie auch ihre offensichtlich verletzte Schulter.
Sie sah müde und erschöpft aus. Laietha mußte
nichts sagen, damit er wußte, daß der Sieg
nur knapp und teuer erkauft worden war. Es wurde Zeit,
daß dieser Krieg endete.
****
Boromirs Heilung machte gute Fortschritte. Nur wenige
Tage nach dem letzten Angriff auf Lothlorien erlaubte
man ihm das erste Mal hinaus zu gehen. Er bewegte sich
noch langsam und vorsichtig, aber als er in die warme
Frühlingssonne hinaustrat, fühlte er sich
gleich besser. Laietha schmunzelte, als sie sah, daß
er mit geschlossenen Augen tief durchatmete. Sie spazierten
ein Stück weit durch die Gärten, aber Boromir
entging nicht, daß sich die Elben zur nächsten
Schlacht rüsteten. Einer von ihnen - Boromir wollte
es nicht beschwören, aber war das nicht der Elb,
der sie in Lothlorien empfangen hatte? - kam direkt
auf sie zu und wandte sich in der Sprache der Elben
an Laietha.
„Ich glaube dir nicht, daß seiner größer
als ich sein soll,“ grinste er höhnisch. Laietha
lächelte geziert. In der gemeinsamen Sprache antwortete
sie: „Ja, es geht ihm schon viel besser. Danke der Nachfrage,
Haldir. Hast du nichts zu tun?“ Boromir beobachtete
das Ganze mit amüsierter Miene. Ihm gefiel zwar
nicht, wie der Elb Laietha ansah, aber ihre Reaktionen
erfüllten ihn mit hämischer Befriedigung.
Er legte demonstrativ den Arm um ihre Schulter. Der
Elb quittierte es ihm mit mühsam unterdrücktem
Ärger. Ebenfalls in der gemeinsamen Sprache fuhr
Haldir fort. „Nun, ihr werdet euch sicher in den Wäldern
verirren, wenn euch nicht jemand begleitet. Und es ist
schon lange her, daß du das letzte Mal hier warst,
Annaluva. Ich sollte besser mit euch gehen.“ Laietha
verzog das Gesicht. „Wir hatten nicht vor, weit zu gehen.“
Der Waldelb grinste gehässig. „Ach ja - der Krieger
ist ja noch verwundet.“ Bevor noch ein weiteres Wort
verloren werden konnte, hatte Haldir Laietha auch schon
den Arm angeboten und mit saurer Miene akzeptierte sie.
Haldir führte sie an einige schöne Plätze.
Schließlich ließen sie sich unter einem
der Bäume nieder. Obwohl sie einen Monat lang in
den Goldenen Wäldern verweilt hatten, konnte Boromir
beschwören, daß er den Rückweg alleine
nicht mehr finden würde. Die Sonne schien warm
auf sie herab. Er streckte sich aus und legte seinen
Kopf in Laiethas Schoß. Haldir zog eine Augenbraue
hoch und Laietha kicherte. Er war immer noch eifersüchtig!
„Wie steht es mit den Kriegsvorbereitungen, Herr
Elb?“ fragte Boromir unvermittelt. Haldir knirschte
mit den Zähnen. „Wir rüsten zum Gegenschlag,
wenn uns die verfluchten Orks nicht wieder zuvorkommen.“
Sie unterhielten sich noch eine Weile über den
bevorstehenden Angriff. Celeborn plante in etwa einer
Woche das Heer loszuschicken und nach Dol Guldur zu
ziehen. „Die Welt ist im Umbruch. Nun werden wir kämpfen
müssen, oder sterben. Wir haben lange Jahre in
Frieden gelebt, aber jetzt müssen wir uns den Feinden
entgegenstellen oder untergehen.“ Haldir hatte wahr
gesprochen und Boromir kribbelte es schon gehörig
in den Fingern. Er wollte so bald wie möglich wieder
gesund sein und seinem Land zur Hilfe eilen.
Laietha war aufgestanden und zu einer kleinen Quelle
in der Nähe gegangen, um etwas zu trinken. Sie
ließ sich das kalte klare Wasser über die
Arme laufen. Alles war so friedlich im Licht des Tages.
Kaum zu glauben, daß jemand diese Idylle zerstören
wollte. Sie zog ihre Schuhe aus und watete im Wasser
umher. Es war erfrischend. Sie fühlte ihre Kräfte
zurückkehren und auch Boromir sah schon sehr viel
besser aus. Bald würden sie sich auf den Weg in
seine Stadt machen können. Sie hoffte, Aragorn
dort anzutreffen. Und außerdem freute sie sich
schon darauf, Boromirs Bruder Faramir kennenzulernen.
Er hatte ihr so viel von ihm erzählt. Zwar mußte
er ganz anders als sein älterer Bruder sein, aber
wenn Boromir ihn so liebte, konnte er nur ein wunderbarer
Mann sein.
Als sie zurückkehrte, sah sie, daß Haldir
sich mit Boromir unterhielt. Sie zog die Brauen zusammen,
und daß Boromir fröhlich lachte verschlimmerte
ihr schlechtes Gefühl nur noch mehr. Was hatte
dieser alberne Elb sich schon wieder ausgedacht? Hoffentlich
plauderte er nicht aus dem Nähkästchen. Natürlich
mußte Boromir gemerkt haben, daß Laietha
kein unschuldiges kleines Mädchen mehr war, aber
daß Haldir alte Bettgeschichten auspackte, hatte
ihr gerade noch gefehlt. Haldir erhob sich, als Laietha
wieder bei ihnen war. „Ich habe dem Krieger erklärt,
wie ihr zurückfindet, falls ihr noch nicht mit
mir zurückkommen wollt.“ Er verneigte sich und
ließ sie alleine.
Boromir grinste sie schelmisch an. Das hatte sie
befürchtet! Sie ließ sich neben Boromir nieder.
Er rutschte dichter an sie heran und griente breit.
„Was hat er dir gesagt?“ fragte sie mit einem unguten
Gefühl. Boromir pfiff unschuldig vor sich hin.
„Ach, nichts! Er hat mir ein wenig elbisch beigebracht.“
Laietha sah ihn skeptisch an. „Bitte, mein Herr, sprecht.“
Boromir legte den Arm um sie. Mit hartem Akzent begann
er: „A helta ar caita caimanna!“ Laietha brach in schallendes
Gelächter aus. „Mae,“ griente sie und nestelte
an ihren Kleidern. Boromir sah sie erstaunt an, als
ihr Kleid zu Boden glitt. „Aber wir haben kein Bett
hier, Boromir.“ Er öffnete und schloß den
Mund ein paar Mal, aber ihm blieb die Spucke weg. Schließlich
fand er seine Sprache wieder und lachte laut. „Wenn
ich gewußt hätte, daß ich nur sagen
muß, daß ich Hunger habe und du dich gleich
ausziehst, wäre ich öfter hungrig gewesen!“
Laietha schmunzelte. Das alte Spitzohr hatte diesmal
wohl die Rechnung ohne den Wirt gemacht. „Versprich
mir nur, daß du das nicht beim Essen mit meinem
Vater sagen wirst, Boromir,“ lächelte sie und griff
nach ihrem Kleid. Boromir hielt ihre Hand fest und zog
sie zu sich hinunter. „Nein, laß nur. Kannst du
mir diese Redewendung noch einmal sagen?“
****
Am Abend des 22. März traf Galadriel Boromir
und Laietha auf den Fluren. Der Krieger sah viel besser
aus als noch wenige Tage zuvor. Er konnte schon wieder
ohne Hilfe laufen und begann seine Kräfte wiederzugewinnen.
Galadriel lächelte. „Ihr macht gute Fortschritte,
Herr Boromir.“ Er nickte dankend. „Eure Heiler verstehen
ihr Handwerk. Ich denke, daß ich bald kräftig
genug für die Reise sein sollte.“ Galadriels Miene
versteinerte. „Ich habe Nachricht erhalten. Das Heer
von Rohan hat sich auf den Weg nach Minas Tirith gemacht,
denn man berichtet, daß Gondor ihre Hilfe bitter
nötig habe.“ Boromir griff nach Laiethas Hand.
Die Herrin des Lichts berichtete ihm was sie wußte
und es waren alles andere als gute Neuigkeiten, die
er bekam. „Wann denkt ihr kann ich aufbrechen?“ fragte
er unverblümt. Galadriel dachte einen Moment nach.
„In einer Woche werde ich euch gehen lassen. Ihr seid
noch schwach und sollte die Weiße Stadt belagert
werden, werdet ihr alle Kraft brauchen, um euch zu verteidigen.“
Widerwillig stimmte er ihr zu. Von draußen hörten
sie Geschrei. Zum dritten Mal fielen die Feinde aus
Dol Guldur ein und ein Späher berichtete, daß
ihre Zahl sich verdoppelt hatte.
Laietha wandte sich zum Gehen und Panik kroch in
Boromir hoch. Zweimal hatte sie Glück gehabt. Vielleicht
würde sie auch dieses Mal unversehrt heimkehren,
aber... Galadriel hielt sie zurück. „Frau Annaluva,
eure Schuld ist getilgt. Bleibt hier.“ Laietha wandte
sich in der Sprache der Elben an die hohe Frau. „Ihr
wißt so gut wie ich, daß ihr jeden braucht,
der ein Schwert führen kann.“ Galadriel nickte.
„Aber sollten die Feinde es diesmal schaffen, unsere
Reihen zu durchbrechen, brauchen wir eure Hilfe hier
noch nötiger.“ Einen Augenblick lang sahen sich
die beiden Frauen an. Galadriel rechnete mit dem Schlimmsten
und wenn Laietha a die letzten Schlachten dachte, war
die Vorsicht der Herrin des Waldes angebracht. Vielleicht
würden Celeborns Männer sie diesmal nicht
schützen können. Laietha nickte zustimmend.
Lange dauerte der Kampf dieses Mal und viele Verletzte
wurden rasch in den Heiltrakt gebracht. Laietha, die
von ihrem Bruder viel über Heilkünste gelernt
hatte, machte sich bei der Versorgung der Verwundeten
nützlich. Boromir hatte sein Bett geräumt
und saß auf einem Stuhl während er ihr bei
der Arbeit zusah. Flink huschte sie von einem zum anderen.
Es tat ihr in der Seele weh, diese schönen Wesen
verstümmelt oder entstellt zu sehen. Beruhigend
sprach sie auf die Elben ein, legte Verbände an
oder spendete Trost bei denen, für die jede Hilfe
zu spät kommen würde.
Ein weiteres Opfer der Schlacht wurde in die Räume
geführt. Der Elb stützte sich auf einen anderen
und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter,
aus der ein häßlicher schwarzgefiederter
Pfeil ragte. Laietha lief zu ihm und stieß einen
entsetzten Schrei aus. „Haldir!“ Sie übernahm ihn
in ihre Obhut und schickte den anderen Krieger davon,
der sich sofort auf den Weg machte, um sich wieder ins
Kampfgetümmel zu stürzen.
Haldir nahm mit einem Aufstöhnen Platz auf dem
Bett. Schnell entfernte sie seine Kleidung. „Da werden
Erinnerungen wach, Annaluva,“ preßte er durch
die zusammengebissenen Zähne hervor. Ein Lächeln
huschte über ihr Gesicht, aber sie sah nicht zu
ihm auf. „Halt still. Es wird gleich wehtun.“ Der Elb
verzog das Gesicht, als sie die Wunde untersuchte. „Leg
dich hin, Haldir,“ befahl sie sanft. Erschöpft
ließ er sich in die Kissen sinken. Laietha zog
den Pfeil so vorsichtig wie möglich heraus. Der
Elb gab einen Schmerzensschrei von sich. „Du warst schon
mal sanfter mit mir, Annaluva.“ Laietha nahm ein sauberes
Tuch und verband die Wunde. „Die Zeiten sind vorbei.
Ich bin kein kleines Mädchen mehr.“ Sie sah ihm
in die Augen. „Sag mir wie es steht, Haldir.“
Er schluckte und sammelte Kraft zum Sprechen. „Es
sind viele, aber wir halten Stand. Größtenteils
sind es Orks, auch ein paar Bilwißmenschen und...
aber meist Orks. Die Schlacht wird nicht länger
als zum Morgengrauen anhalten und bis dahin halten wir
durch.“ Die Kriegerin sah sich im Raum um. So viele
Verletzte! Wer wußte denn schon, wie viele Tote
es gab. „Thranduil aus dem Düsterwald hat ihre
Reihen gelichtet. Er selbst will Dol Guldur angreifen.
Gemeinsam werden wir sie vernichten können.“ Laietha
strich ihm die blonden Haare aus dem Gesicht. „Schlaf
jetzt. Für dich ist die Schlacht vorbei. Du mußt
dich ausruhen.“ Haldir schenkte ihr ein gequältes
Lächeln. „Was ist mit einem Gutenachtkuß,
Annaluva?“ Laietha schüttelte lächelnd den
Kopf. „Schlaf, du unmöglicher Elb!“
Wenige Stunden vor Sonnenaufgang gaben sich die Feinde
geschlagen. Die Elben hatten schwere Verluste erlitten
- Männer und Land. Celeborn sammelte bereits wieder
seine Soldaten. Sie würde ohne Gnade zurückschlagen,
bis sie die Orks aus den Wäldern vertrieben und
die Kräfte Dol Guldurs besiegt hatten. Celeborn
hatte Boten zu Thranduil geschickt, damit sie ihre Schlachtpläne
koordinieren konnten.
****
Boromir gähnte. Er hatte die ganze Nacht kein
Auge zugetan. Von überall her hörte man das
Stöhnen der Verletzten, das Weinen der Sterbenden.
Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Draußen
ging die Sonne auf und die Vögel erwachten in ihren
Nestern. Sie begannen, mit fröhlichem Gesang den
Tag zu grüßen und die Blumen reckten der
Sonne ihre hübschen Köpfe entgegen, während
das goldene Licht das Zimmer flutete - so als wäre
nichts von alledem geschehen. Der Krieger erhob sich
und ging zu Laietha, die immer noch unermüdlich
bei der Arbeit war. Sie stand am Bett eines jungen Elben,
der einen bösen Schnitt quer über das Gesicht
erlitten hatte.
Boromir musterte ihn. Er mußte vorher sehr
schön gewesen sein. Heiße Tränen rannen
über das Gesicht des Elben und seine Worte gingen
im Schluchzen unter. Laietha streichelte sanft seine
Hand und flüsterte beruhigend auf ihn ein. Es half
nichts. Der Elb war untröstlich. Alarmiert sah
Boromir auf einmal, wie seine Hand zu dem Dolch an seiner
Seite glitt, aber Laietha war wachsam gewesen. Der Elb
schrie verzweifelt, aber sie wand ihm sanft die Waffe
aus der Hand und küßte ihn auf die Stirn.
Er warf sich schluchzend an ihre Brust und sie strich
ihm über das Haar, weiter auf ihn einflüsternd.
Boromir verstand nichts was sie sagte, nur ein Wort
machte er deutlich aus - Valinor. Sie wiegte ihn eine
Weile lang sachte in den Armen und ließ ihn schließlich
zurücksinken. Seine offenen Augen starrten an die
Decke und er bewegte sich nicht mehr.
Ein kalter Schauer überlief Boromir und als
Laietha sich zu ihm umdrehte, wischte sie sich eine
Träne aus dem Augenwinkel. Boromir schloß
sie beschützend in seine Arme. „Ist er tot?“ fragte
er leise. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, er schläft.
Er wird leben.“ Mit einem besorgten Blick auf ihre Augenringe,
zog er sie aus dem Raum. „Du mußt dich ausruhen.
Laß uns nach draußen gehen.“ Willenlos ließ
sie sich von ihm auf den Waldboden führen und sie
liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Schließlich
setzten sie sich unter einen der mächtigen Bäume.
Boromir hielt sie in seinen Armen und strich ihr
sachte über die Arme. Ihr Körper erzitterte
und er bemerkte, daß sie leise weinte. Er küßte
sie auf den Scheitel, fand aber keine Worte, um sie
zu trösten. Nach einer Weile begann sie von selbst
zu sprechen. „Es ist furchtbar. Er hat mir so leid getan.“
Boromir streichelte ihren Kopf. „Warum wollte er dich
angreifen?“ Laietha schluckte. „Er wollte nicht mich,
sondern sich selbst töten.“ Boromir erschauderte.
„Was hast du ihm gesagt? Ich habe nur ein Wort ausmachen
können - Valinor.“ Laietha lehnte sich gegen ihn
und schloß die schmerzenden Augen. In ihren Ohren
gellten noch immer die Schmerzensschreie der Verwundeten
und Todgeweihten. Boromir strich ihr übers Haar.
„Was bedeutet Valinor?“ Laietha holte Luft und begann
zu erklären.
„Elben sind unsterblich. Er wird diese Narbe bis
in alle Ewigkeit tragen müssen. Die Elben sind
die schönsten Wesen dieser Welt. Es macht mich
schrecklich traurig, sie so leiden zu sehen. Er wird
diese Welt verlassen und in die Unsterblichen Lande
von Valinor reisen. Nur dort werden sein Körper
und seine Seele Heilung erfahren können.“ Ihre
Stimme zitterte und Boromir hatte sie noch nie so verletzlich
gesehen. Sie erzählte ihm von der Mutter ihrer
Brüder, die von Orks überfallen und verstümmelt
wurde und ebenso diese Welt verließ.
Boromir dachte an seinen Vater, der ihn stets zum
Stolz auf sein eigenes Volk erzogen hatte und er dachte
daran, wie er Aragorn angefahren hatte, weil er den
Elben mehr zu vertrauen schien als den Menschen. Er
hatte damals gedacht, daß Laietha so viel stärker
wäre als ihr Bruder, weil sie sich auf ihre Abstammung
aus dem Geschlecht der Menschen besann, doch nun mußte
er mit Erstaunen feststellen, daß sie sich beiden
Kulturen verbunden fühlte. Er bedauerte seine Worte
Aragorn gegenüber. Boromir hatte die Elben für
eitel, leichtlebig und arrogant gehalten. Er mußte
seine Meinung ändern. Diese Wesen waren furcherregende
Krieger und mit nicht geringem Neid hatte er gesehen,
wieviel Weisheit sich hinter ihrem albernen Gehabe verbergen
konnte. Zu wenig wußte er über dieses Volk,
dem sich seine Liebste so sehr verbunden fühlte,
als daß er Laietha hätte Trost spenden können
und so hielt er sie einfach nur fest im Arm, bis sie
nicht mehr weinte und erschöpft einschlief.
~~~~~
zum
5. Teil --->
|
|
|