Titel: Der geschenkte Tag (Seite 4)
Autor: Naurdolien


Er seufzte und drückte sie fest gegen sich. "Du hast ja recht, Laietha, er benimmt sich wirklich seltsam, aber vielleicht ist das die Aufregung. Weißt du noch, wie verrückt ich mich vor unserer Hochzeit benommen habe?" Sie schmunzelte und ihr Mann strich ihr sanft über die Wange. "Siehst du, es gibt nichts, was du befürchten müsstest." Von draußen klang ein fremder Gesang zu ihnen ins Zimmer hinein und Laietha begann herzhaft zu gähnen. "Du hast recht, Liebster. Vielleicht sehe ich Gespenster!"
 
Boromir lächelte und stieg aus dem Bett, nur um sich hinzuknien und hinunterzusehen. Mit einem breiten Grinsen kam er wieder zum Vorschein. "Dort sind jedenfalls keine," lächelte er und Laietha begann zu lachen.
 
Nachdem Boromir auch den Wandschrank und die Kommode nach Gespenstern abgesucht hatte, kam er zu ihr ins Bett zurück. "Du vermisst dein kleines Töchterchen, nicht wahr?" Boromir lächelte schief und nickte ihr zu. "Vielleicht wird sie ja Olbern heiraten und uns bald mit Enkelkindern beglücken," neckte die Kriegerin ihn. Boromir verdrehte die Augen. "Beim Turm von Ecthelion," stöhnte er gequält. Laietha lachte leise und vergrub ihren Kopf an seiner Brust. Ihr Mann küsste sie sachte auf die Stirn und noch während sie seinem Herzschlag lauschte, fielen beide in einen tiefen Schlaf.
 
***
 
Aiglos erwachte kurz nach Sonnenaufgang. Er sah sich eine Weile die Wände in seinem Zimmer an und begann, sich schrecklich zu langweilen. Ihm fehlte seine Schwester. Gestern hatte er ein Mädchen getroffen, das ihm gut gefallen hatte und nun, wo er ihren Rat mal brauchte, war sie nicht da. Typisch! Der Junge schwang die langen Beine aus dem Bett und lief zum Fenster. Die Morgensonne flutete die Weiße Stadt mit ihren goldenen Strahlen und langsam begannen die Leute in den Straßen zu erwachen.
 
Boromirs Sohn nutzte die Zeit, um sich lange im Spiegel anzusehen und sein glattes Kinn gründlich, aber vergeblich nach Bartflaum zu untersuchen. Er seufzte laut. Auch auf seiner Brust wollten sich die ersehnten Haare nicht einstellen. Neidvoll dachte er an seinen Badeausflug mit Olbern, als er den dunklen Flaum auf dessen Brust bewundert hatte. Ach, wenn er doch endlich ein Mann wäre!
 
Als auch sein Starren den Haarwuchs nicht förderte, wusch sich Aiglos, kämmte seine Haare, die er zu einem kurzen Zopf zusammenband, und zog sich an. Sein Magen knurrte laut. Es wurde Zeit, seine Eltern zum Frühstück zu wecken.
 
Als er in das Zimmer seiner Eltern kam, bot sich ihm ein seltsames Bild. Sein Vater saß mit entnervten Gesicht auf dem Bett, während seine Mutter auf Knien das Zimmer absuchte. "Laietha, jetzt beruhige dich, es muss ja irgendwo sein!" Aiglos sah seinen Vater fragend an, aber der zuckte nur hilflos mit en Schultern, als seine Frau zum siebenten Mal an diesem Morgen einen Blick in die Schublade ihrer Kommode warf.
 
"Ich kann es nicht finden! Es ist einfach weg!" jammerte Laietha und machte sich erneut daran, das Bett zu durchsuchen. "Vielleicht hast du es heute Nacht verloren. Schatz, wir werden es finden!" Aiglos sah seiner Mutter nach, die mit einem verzweifelten Ausdruck im Gesicht ihre Sachen durchwühlte. "Was ist denn los?" fragte er. Boromir seufzte und begann zu erklären.
 
Laiethas Elbenstein war verschwunden. Sie hatten nun schon den ganzen Raum auf den Kopf gestellt und Laietha war fest davon überzeugt, ihn nicht abgelegt zu haben - aber sie fanden nicht die geringste Spur von dem Schmuckstück. Aiglos´ Mutter war verzweifelt. Boromir seufzte und nahm sie tröstend in den Arm. "Lass uns erst mal etwas essen gehen - dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Im Moment bringt das doch alles nichts. Nach dem Frühstück werden wir es schon finden, es sei denn, Elbensteine lösen sich für gewöhnlich in Nichts auf."
 
Aber auch nach den Frühstück blieb das Juwel verschwunden und Laietha begann zu weinen. Elladan beteiligte sich nun auch an der Suche und Boromir war zu einem Treffen mit seinem Bruder aufgebrochen, zu dem ihn Aiglos begleitet hatte. Es half nichts - Laietha und Elladan wurden nicht fündig und am Nachmittag stattete Auranor ihrer Tante einen Besuch ab.
 
Mit großen Augen sah das kleinen Mädchen die Frau an, die auf dem Bett saß und weinte. "Tante Lai..." begann sie schüchtern und tapste auf Laietha zu. Die Kriegerin wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und lächelte das Mädchen an. "Was gibt es, mein Sonnenschein? Ich freu mich, dich zu sehen." Auranor wischte ihr mit ihren Knubbelfingern eine Träne von der Wange. "Was ist denn los? Warum bist du so traurig?" Laietha nahm ihre Nichte fest in den Arm.
 
"Ich habe etwas verloren. Das ist alles. Bist du gekommen, damit ich dir wieder eine Geschichte erzähle?" Auranor nickte zuerst, begann dann aber unruhig hin und her zu rutschen. "Du, Tante Lai..." Laietha sah sie aufmerksam an. "Was ist, Liebes?" Auranor kletterte auf ihren Schoß und schmiegte sich fest gegen die Brust der Kriegerin. "Ich will dir ein Geheimnis verraten, wenn du mir versprichst, nicht mehr traurig zu sein." Die Kleine machte ein ernstes Gesicht. Laietha lächelte. "Versprochen."
 
Auranor presste ihre Lippen ganz fest an Laiethas Ohr. "Ich habe einen Silmaril gefunden," flüsterte sie. "Zuerst wollte ich ihn ja Mama schenken, aber jetzt geb ich ihn dir, damit du nicht mehr traurig bist." Sie steckte ihre Hand in die Tasche ihres Kleides und zog etwas hervor.
 
Laietha dachte mit einem Lächeln an eine kleine Holzschachtel bei sich daheim, in der sie ein gutes Dutzend "Silmaril - Kiesel" aufbewahrte, die Luthawen und Aiglos ihr geschenkt hatten. Lächelnd streckte sie ihre Hand aus. "Das ist wirklich süß von dir, mein Schatz!" schmunzelte sie.
 
Auranor öffnete ihre Faust und als Laietha ihr Geschenk empfing, konnte sie einen erstaunten Schrei nicht unterdrücken. Das Mädchen lächelte befriedigt.
 
Elladan, der den Aufschrei seiner Schwester gehört hatte, kam ins Zimmer gestürmt. Er hatte draußen auf dem Flur nach Laiethas Kette gesucht. "Alles in Ordnung?" fragte er besorgt. Laietha winkte ihn zu sich - ihre Miene war eine Mischung aus Freude, Entsetzen und Überraschung und selbst der Elb konnte nicht sagen, welches Gefühl zu überwiegen schien. Langsam öffnete Laietha die Hand und Elladan keuchte erstaunt. Sie starrten eine ganze Weile lang fassungslos auf den grünen Elbenstein. Auranor war vollauf mit sich zufrieden.
 
Laietha wandte sich ihrer Nichte wieder zu. "Mein kleiner Schatzsucher, wo hast du den denn gefunden?" Auranors Augen begannen zu leuchten. "Kommt mit, ich werde es euch zeigen. Vielleicht finden wir ja noch viel mehr davon!" Das Mädchen stürmte aus dem Zimmer und nachdem Laietha die Kette wieder um ihren Hals gelegt hatte, folgten sie und Elladan dem Kind. Sie waren nun zu neugierig, wohin sie Faramirs Tochter führen würde.
 
***
 
Schnurstracks marschierte Auranor in den Garten - Laietha und Elladan folgten ihr auf dem Fuße. "Ich habe grade Verstecken gespielt und da hab ich den Silmaril hier liegen sehen. Er war ganz schön gut versteckt." Laietha und Elladan tauschten vielsagende Blicke. Der Elb sah sich den Boden an, aber Auranor hatte alle Spuren zertrampelt - falls welche dort gewesen waren. Sie hatten beide einen Verdacht, wer Laiethas Kette dort versteckt haben könnte, aber das Wichtigste fehlte ihnen leider - ein Motiv und Beweise.
 
Gedankenverloren strich Laietha ihrer Nichte durchs Haar. Auranor sah sie mit großen Augen an. "Erzählst du mir noch eine Geschichte, Tante Lai?" Die Kriegerin musste schmunzeln und auch Elladan feixte. "Von Elben und Drachen und Schätzen! Am besten die von dem kleinen Hobbit, der bei Onkel Legolas war und den Drachenschatz gefunden hat!"
 
Nun begannen Elronds Kinder laut zu lachen. "Du kennst die Geschichte doch schon auswendig," versuchte Laietha Auranor milde zu stimmen, aber das kleine Mädchen zog einen Flunsch. Plötzlich hatte Elladan die rettende Idee. "Was hältst du davon, wenn wir selbst nach Schätzen suchen?" Auranors Augen begannen zu leuchten. Das war ganz nach ihrem Geschmack.
 
"Meint ihr, wir finden hier noch mehr Schätze?" fragte sie hoffnungsvoll und schielte zu der Stelle, wo sie Laiethas Kette gefunden hatte. Die Kriegerin schmunzelte. "Ich glaube nicht - das wäre zu einfach. Nein, wir werden unseren Schatz schon eine Weile suchen müssen."
 
***
 
Gegen Abend kam Eowyn in den Garten spaziert und hörte schon von Weitem das fröhliche Lachen ihrer kleinen Tochter. Da kamen sie auch schon - Auranor auf den Schultern ihrer Tante, die von einem wütend fauchendem Elladan verfolgt wurde. Der Elb war ganz rot im Gesicht. "Schneller, Tante Lai!" jubelte Auranor und lachend kam die lustige Gesellschaft vor Eowyn zum Stehen.
 
Faramirs Frau musste gar nicht fragen, was los war, denn Auranor erklärte es ihr ganz von allein. "Onkel Elladan ist ein böser Drache. Wir haben ihm seinen Schatz gestohlen. Sieh nur - für dich, Mama!" Auranor streckte ihr die Hand entgegen und mit einem Ausruf der Verwunderung, nahm die Herrin Rohans die wundervollen Geschenke entgegen.
 
Einige interessant geformte, glitzernde Steine - vielleicht waren das ja die lang verlorengeglaubten Silmaril, wer konnte das schon genau sagen? Die Teile einer zerbrochenen Tasse, die bestimmt einmal Aule gehört hatte - eine echte Rarität. Und einen schneeweißen Kiesel - ein Drachenzahn.
 
Eowyn nahm diese wertvollen Geschenke voller Entzücken entgegen. Es hatte gut getan, wieder einmal einen Nachmittag ganz allein mit Faramir zu verbringen, aber nun war sie auch heilfroh, ihre Tochter wiederzuhaben. Sie bedankte sich bei ihrer Schwägerin und Laietha erwiderte das Lächeln. "Keine Ursache. Ein freier Nachmittag ist etwas herrliches."
 
Zusammen gingen sie in Richtung des Palastes. Im Garten kamen sie an Ionvamir und Aiglos vorbei, die sich im Bogenschießen übten. Eowyn verabschiedete sich und machte sich auf den Heimweg. Laietha und Elladan sahen den Jungen noch ein wenig zu. Dann machten auch sie sich af den Weg zu ihren Gemächern. Zuerst liefen sie schweigend nebeneinander her. Elladan warf Laietha einen Blick zu. "Was hast du?" Die Kriegerin sah sich auf dem Gang um, schüttelte dann aber den Kopf. Nicht hier.
 
Als sie Laiethas und Boromirs Gemach erreicht hatten, setzten sie sich an den kleinen Tisch und sahen sich lange an. "Du hast einen Verdacht, nicht wahr?" Laietha nickte. "Ja, den habe ich." Sie sah sich noch einmal im Raum um und fuhr dann in der Sprache der Elben fort.
 
"Etwas stimmt hier nicht. Meine Kette ist ganz gewiss nicht von alleine in den Garten gekommen und wenn du dich einmal genauer umsiehst - hier läuft nichts so wie es sollte. Ich denke, dass Mornuan irgendwie ihre Finger im Spiel hat, aber ich weiß noch nicht wie - und ich kann nichts beweisen." Der Elb nickte. "Ich verstehe, was du meinst, Schwester. Wir sollten versuchen herauszufinden, was hier vor sich geht."
 
Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Laietha und Elladan fuhren zusammen und starrten auf den fassungslos dreinblickenden Boromir. Er schnaubte vor Wut und brachte kein Wort über die Lippen. Laietha erhob sich schließlich. "Was ist denn los mit dir?"
 
Der Krieger rammte wütend seine Faust in ein Kissen. "Er muss den Verstand verloren haben!" knurrte er. Laietha und Elladan sahen ihn erwartungsvoll an. Boromir begann zu berichten. Er hatte den Nachmittag bei Beregond und seinen Männern verbracht und war nun gerade auf dem Heimweg gewesen, als er aus dem Flur Lärm hörte. Er war darauf zugelaufen und hatte Aragorn und Aiglos gefunden.
 
"Ionvamir und Aiglos haben bei ihren Bogenschießübungen im Garten aus Versehen ein Fenster zerbrochen. Aragorn hatte es gesehen und Aiglos musste sofort zu ihm kommen. Dein Bruder hat sich wie ein Irrer aufgeführt! Als ich dort ankam, wollte er Aiglos übers Knie legen!" Boromir schüttelte den Kopf. "Ich kann es immer noch nicht glauben! Es war doch nur ein Fenster, verdammt!" Laietha versuchte ihn zu beruhigen, aber ihr Mann war außer sich. "So habe ich ihn noch nie gesehen! Was ist nur in ihn gefahren?"
 
Elladan machte sich zum Gehen bereit. Er lächelte Laietha traurig an. "Wir sehen uns später." Sie nickte. Nachdem Elladan den Raum verlassen hatte, berichtete Boromir von seinem Besuch bei Beregond. Auch in der Armee war die Stimmung getrübt und Laietha dachte an die Begegnung mit den Straßenräubern. Elladan hatte Recht - sie mussten handeln.
 
***
 
Sie waren früh zu Bett gegangen und die Stimmung war gedrückt gewesen. Sowohl Laietha als auch Boromir hatten ihren eigenen Gedanken nachgehangen und Aiglos war erstaunlich ruhig gewesen. Boromir war eingeschlafen und als sie sein vertrautes Schnarchen hörte, stand Laietha so leise wie möglich auf und zog sich an. Für einen Moment hatte sie überlegt, ihren Mann einzuweihen, aber sie wollte nichts sagen, bevor sie nicht einen Beweis in den Händen hielt. Noch war es zu früh, aber mit etwas Glück...
 
Auf Zehenspitzen verlies sie den Raum und schlich über die leeren Flure des Palastes. An Elladans Zimmer angekommen, klopfte sie leise und wenig später erschien das Gesicht ihres Bruders in der Tür. "Lass uns in den Garten gehen. Das Licht der Sterne hilft mir immer, mich zu konzentrieren," flüsterte er und Laietha stimmte ihm zu.
 
"Was hältst du von ihr, Elladan?" fragte Laietha fast schüchtern. Der Elb zuckte mit den Schultern und starrte den vollen Mond an. "Keine Ahnung, aber irgendwie ist sie mir nicht geheuer." Laietha atmete erleichtert auf. "Bei den Valar, ich bin nicht die Einzige, das bedeutet, dass ich nicht verrückt bin!" Elladan zerzauste ihr das Haar. "Schön für dich, Schwesterchen, aber was sollen wir machen? Du hast gesagt, dass Elessar nicht auf dich hören will und außerdem wird ein schlechtes Gefühl wohl kaum als Beweis reichen."
 
Sie wollte gerade etwas erwidern, als aus dem Garten ein Schrei gellte. Beide erstarrten und die Haare in Laiethas Nacken sträubten sich. Sie hatte die Stimme sofort erkannt, würde sie selbst im stärksten Sturm erkennen, und der Schrei hatte von Schmerzen gezeugt. Die Geschwister sahen sich mit großen Augen an. Laietha begann zu laufen. "Aragorn," keuchte sie.
 
Elladan sprintete hinter ihr her und holte sie schnell ein. Er packte sie am Arm, um sie zum Stehen zu bringen und legte ihr die Hand auf den Mund. Mit seinen scharfen Elbenaugen hatte er Aragorn ausgemacht. Und er war nicht allein.
 
"Was ist los? Wir müssen ihm helfen, Elladan! Was ist, wenn er in Gefahr ist? Lass mich los!" Der Elb legte den Finger auf seine Lippen. "Still jetzt, Laietha. Wir müssen leise sein." Vielleicht würden sie schon bald wissen, warum sich ihr Bruder so seltsam benahm.
 
Sie schlichen durch den Garten und bald konnte auch Laietha einen Blick auf Aragorn erhaschen. Sie erstarrte im Gehen. Aragorn war nicht alleine. Er stand an einem kleinen Tümpel und im hellen Licht des Mondes konnte Laietha noch etwas anderes erkennen - er war nackt. Vor ihm kniete Mornuan.
 
Laietha errötete und wollte sich schon umdrehen und gehen, aber Elladan hielt sie fest. "Wart es ab und sieh hin, Laietha." Etwas widerstrebend kauerte sie sich neben ihren Bruder in das Gebüsch. Aragorn warf den Kopf zurück und stöhnte gequält auf. Es hörte sich nicht so an, als würde sie ihm Vergnügen bereiten. Mornuan erhob sich. Auch sie legte nun ihre Kleider ab und Laietha wollte endgültig gehen, als sie im Licht des Mondes etwas aufblitzen sah.
 
Sofort spannte sich jeder Muskel in ihrem Körper und sie fixierte den blitzenden Punkt. Sie riss die Augen auf, als sie erkannte, was dort reflektiert hatte - Mornuan hatte einen Dolch gezogen und näherte ihn Aragorns Brust. "Was..." Laietha wollte aufspringen, aber Elladan presste ihr eine  Hand auf den Mund und zwang sie sitzen zubleiben. "Sedho!"
(8) zischte er und Laietha gehorchte.
 
Sie sah, wie Mornuan den Dolch an Aragorns Brust hielt und einen tiefen Schnitt ausführte. Selbst im blassen Licht des Mondes konnte sie das Blut erkennen, das ihrem Bruder über die Brust strömte. Die Frau presste ihre Lippen auf den Schnitt und trank sein Blut.
 
Aragorn stöhnte, aber Mornuan riss den Kopf zurück in der Geste eines Raubtieres, das seinen Triumph über seine Beute feierte. Blitzschnell griff sie nach einer kleinen Phiole und fing etwas von dem Blut auf. Sie leckte sich die Lippen und murmelte über das Blut ein paar Worte, die keiner der beiden Beobachter verstand. Dann sang sie leise ein paar Verse und Aragorns Blut begann zu glühen.
 
Laietha fühlte solch eine Beklommenheit ihr Herz umklammern, dass sie es fast nicht mehr in ihrem Versteck ausgehalten hätte. Ihr Atmen schien ihr unendlich laut und ihr Herz pochte so heftig, dass sie fürchtete Mornuan würde es hören. Unter ihrem Hemd spürte sie den Elbenstein leuchten und sie presste die Hand dagegen, damit sein Licht sie nicht verraten würde.
 
Nun wurde Mornuans Stimme wieder laut und Laietha öffnete die Augen. Aragorn war auf die Knie gesunken und Mornuan stand mit einem breiten Grinsen über ihn gebeugt. In der Hand hielt sie noch immer die Phiole mit Aragorns Blut. Sie setzte das Gefäß an seine Lippen und zwang ihn, zu trinken. Der König stieß einen gequälten Schrei aus und sackte in sich zusammen. Mornuan lachte.
 
"Du wirst dich nur meinem Willen unterwerfen, Aragorn, Arathorns Sohn. Bald schon wirst du mein Mann sein und ich werde über Gondor herrschen." Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund. Laietha spürte Elladans Hand, die ihre so fest drückte, dass sie glaubte, er würde sie brechen. "Sie ist eine Hexe," stieß Laietha kaum hörbar hervor.
 
Die Kriegerin sah ihren Bruder an und fand sein Gesicht gezeichnet von Entsetzen. "Er ist in großer Gefahr. Wir müssen schnell handeln, bevor sie ihn mit ihrer morgul
(9) umbringt. Solche Dinge habe ich noch nie gesehen, aber ich hörte, wie Vater davon sprach."
 
Laietha war wie versteinert. Sie fühlte etwas, einen Stich in der Seite und riss den Kopf  herum. Mornuan sah ihr direkt in die Augen. Schweiß brach Laietha aus allen Poren hervor und sie spürte, wie ihr Mut zu schwinden begann. "Sie hat uns entdeckt," flüsterte sie mit bebender Stimme. Mornuan lächelte und wandte sich dann wieder ihren Geschäften zu.
 
Elladan schwieg und zog seine Schwester mit sich fort. Als sie endlich am Palast angekommen waren, begannen Laiethas Knie zu zittern und auch Elladan wirkte durcheinander. "Wir können gegen sie nichts ausrichten. Sie scheint große Macht zu haben und Aragorn ist in ihrer Gewalt." Die Kriegerin nickte.
 
"Du musst Vater holen. Vielleicht kann er uns helfen. Ich werde hier bleiben und acht geben, dass sie Aragorn nichts zu leide tut." Elladan wollte protestieren. Er wollte seine Schwester nicht allein lassen, aber die Kriegerin hatte sich ein wenig gefangen und nun war ihre Sturheit zurückgekehrt. Sie schüttelte den Kopf.
 
"Ich werde ihn nicht allein lassen - keine Diskussion und jetzt beeil dich. Wir haben keine Zeit zu verlieren und der Weg zum Düsterwald ist weit." Elladan sah, dass alle Worte auf taube Ohren stoßen würden, also huschte er zu seinem Gemach und holte seine Sachen. Es verging nicht viel Zeit und er war reisefertig.
 
Schnell begaben sie sich zu den Ställen und sattelten sein Pferd - einen weißen Hengst namens Nauth. Und das Tier war wirklich fast so schnell wie ein Gedanke. Bevor er sich auf das Pferd schwang, küsste er seine Schwester und die beiden drückten sich fest.
 
"Sei schnell, Elladan." Der Elb lachte. Er würde sich keine Pause mehr als nötig gönnen. "Und du pass auf dich auf, Schwesterchen. Sie ist gefährlich und scheint dich nicht sonderlich gerne zu haben." Laietha nickte. Nichts anderes hatte sie vor.
 
Wie ein Schatten war Elladan verschwunden und Laietha begab sich zurück in ihr Bett. Boromir hatte ihr Fehlen noch nicht bemerkt und schlief friedlich, aber Laietha wälzte sich nur von einer Seite auf die andere. Ständig sah sie Mornuans Blick auf sich ruhen und der Gedanke daran, dass sie es mit schwarzer Magie zu tun hatten, jagte ihr Schauer über den Rücken.
 
Sie hörte, wie die Nachtwächter die Zeit ausriefen, aber die Stunden schienen einfach nicht vergehen zu wollen, also stand sie wieder auf und zog sich an. Vielleicht würde sie in der Bibliothek etwas finden, das ihnen weiterhalf.
 
Es war vergebens. Sie hatte zunächst nur auf die vielen Schriftrollen gestarrt und nicht recht gewusst, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Dann hatte sie sich systematisch durch ein Regal mit Schriftrollen gearbeitet, war aber nicht fündig geworden. Ihr Vater würde wissen, was zu tun war - zumindest hoffte sie das.
 
Jedes Rascheln ließ sie zusammenschrecken, denn fast erwartete sie, dass Mornuan ihr gefolgt war. Einmal nickte sie kurz ein, aber sofort schreckte sie aus ihrem Schlaf hoch, weil sie das Lachen der Frau in ihren Ohren gellen hörte. Es machte keinen Sinn, schlafen zu wollen. Als ihre Augen zu brennen begannen, ging sie in die Küche, um sich einen Tee zu holen.
 
Die Sonne streckte ihre ersten vorwitzigen Finger durch die Fenster und Laietha hatte ein wenig an Aiglos Bett gesessen und ihren Sohn im Schlaf beobachtet. Er ist ein hübscher Bengel, dachte sie. Vielleicht würde er bald mit seinen dummen Streichen aufhören.
 
Laietha ging schließlich in ihr Gemach zurück. Auch Boromir schlief noch tief und fest und sie musste lächeln, als sie ihn so ansah. Sein Haar war schlohweiß geworden, was ihn wie einen weisen Mann aussehen ließ. Sein Gesicht war noch immer scharf geschnitten und selbst jetzt im Schlaf, während er ihr Kissen umklammerte und leise vor sich hinschnarchte, sah er stolz und entschlossen aus. Er murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.
 
Sein Körper war noch immer der eines Kriegers, auch wenn es schon seit vielen Jahren keinen Krieg mehr gegeben hatte. Laietha konnte der Versuchung nicht widerstehen und schlich zum Bett, um ihm einen Kuss auf die Schulter zu hauchen. Er roch noch genau wie damals - obwohl es nun schon so viele Jahre her war...
 
"Wo hast du dich die ganze Nacht über rumgetrieben, Frau Annaluva?" murmelte er verschlafen. Boromir drehte sich um und blinzelte den Schlaf aus den Augen fort. Laietha lächelte und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. Sie fühlte sich auf einmal sehr beklommen und sog jede Sekunde dieses Morgens in ihr Herz auf. "Ich war spazieren." Boromir legte ihr die Arme um die Hüften und zog sie ins warme Bett. "Dann behalte deine Geheimnisse für dich!" Sie lachte, auch wenn ihre Gedanken um andere Dinge kreisten.
 
***
 
Laietha hörte einen Tumult und öffnete die Augen. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Sie verfluchte sich dafür, dass der Schlaf sie doch noch übermannt hatte. Schell sprang sie aus dem Bett und eilte ans Fenster um zu sehen, wer dort solchen Lärm gemacht hatte.
 
Aragorn stand im Hof und brüllte Beregond an. Sofort eilte Laietha nach draußen.
 
Alle Soldaten hatten sich im Hof versammelt und Beregond sah sich hilfesuchend um, während Aragorn seine ganze Wut an dem Soldaten ausließ. "Was du getan hast, ist unverzeihlich! Ich entlasse dich aus meinen Diensten! Pack dich!" Laietha erreichte den Hof und rannte an Aragorns Seite.
 
"Was ist hier los?" fragte sie kritisch. Als ihr Blick auf Aragorn fiel, schrak sie zusammen. Sein Haar war über Nacht fast vollständig ergraut und er schien sich seit Tagen nicht rasiert zu haben. Seine Kleidung war in Unordnung und sein Hemd stand offen. Auf seiner Brust konnte Laietha deutlich den langen Schnitt erkennen. An seiner Seite stand Mornuan und grinste Laietha breit an.
 
"Das geht dich nichts an, Weib! Misch dich nicht in meine Angelegenheiten!" schnauzte Aragorn sie an. Beregond aber begann zu erklären. "Ein Bote kam, der verlangte, den König zu sprechen. Er sagte, es sei von größter Wichtigkeit, also..."
 
"Ich habe ausdrücklich befohlen, dass ich nicht gestört werden will. Niemand hat sich dem Wort des Königs zu widersetzen!" tobte Aragorn und hob den Arm, um Beregond zu schlagen.
 
Angelockt von dem Krawall waren Boromir und Faramir in den Hof geeilt und der Fürst von Ithilien ergriff das Wort. "Was geht hier vor sich? Beregond ist der Hauptmann meiner Wache und wenn es ein Problem mit ihm gibt, bin ich derjenige, der es zu lösen hat!"
 
Aragorn erstarrte in der Bewegung, fuhr herum und kam drohend auf Faramir zu. "Du bist nur ein Fürst und ich bin dein König! Du unterstehst meinem Befehl wie jedes atmende Wesen hier! Ich entscheide immer noch solche Dinge, niemand sonst. Du tätest besser daran, meine Befehle nicht in Frage zu stellen!" Mornuan lachte leise.
 
Jetzt hatte Laietha wirklich die Nase voll. Sie marschierte auf ihren Bruder zu und packte ihn am Oberarm. Die Leute um sie herum kehrten sie herzlich wenig. "Jetzt komm endlich wieder zu dir, Aragorn. Du machst dich zum Narren." Langsam drehte er sich um und trat ganz dicht an sie heran. "Was hast du gesagt?" zischte er. Zum ersten Mal in ihrem Leben bemerkte Laietha, wie viel größer er war als sie. Trotzdem blieb sie nicht stumm.
 
"Hör auf, dich wie ein liebestrunkener Narr zu benehmen, Aragorn. Du bist nun einmal der König und kein einfacher Waldläufer, der tun und lassen kann, was er will. Du hast Pflichten und im Moment vernachlässigst du sie. Dein Volk ist unzufrieden mit dir, also solltest du dich besser wieder daran erinnern, wer du bist! Und jetzt geh dir etwas vernünftiges anziehen und erfülle deine Pflichten, wie es sich für einen wirklichen König geziemt!"
 
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, aber sie fiel nicht, statt dessen zerriss ein klatschender Laut die Luft und Laiethas Hand wanderte an ihre brennende Wange. Boromir war der erste, der sich protestierend zu Wort meldete. "Was fällt dir ein..." Weiter kam er nicht, denn Aragorn packte Laietha an den Schultern und schüttelte sie.
 
"Ich habe dich bereits einmal gewarnt, Annaluva und ich wiederhole mich nicht gerne. Hüte deine Zunge, wenn du mit dem König sprichst." Laietha lachte traurig und warf einen Blick auf Mornuan, die sie zufrieden anlächelte. Die Kriegerin wurde wütend. "Bist du so blind, dass du nicht bemerkst, was hier vor sich geht? Merkst du nicht, wie diese Hexe dich verwunschen hat? Bist du so schwach im Geist, dass du dich ihrem Zauber nicht widersetzen kannst?"
 
Die umstehenden Zuschauer schnappten kollektiv nach Luft. Noch nie hatte es jemand gewagt, so mit dem König zu sprechen. Aragorn stieß einen wütenden Schrei aus und zog sein Schwert. Er packte Laietha im Nacken und hielt ihr Anduril an die Kehle. Laietha schluckte und rang sich ein bitteres Lächeln ab. "Also hat sie dich ganz in ihrer Gewalt. Kämpf dagegen an, Aragorn!"
 
Er presste die Klinge dichter an ihre Kehle und Laietha spürte einen winzigen Blutstropfen, der sich seinen Weg über ihre Haut bahnte. Boromir war sprachlos. Er wollte zu ihr stürmen, aber sie bat ihn mit ihren Blicken zu bleiben, wo er war. In Aragorns Augen glimmte eine finstere Wut. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber man verstand ihn bis in die letzte Reihe.
 
"Wir sind nicht blutsverwandt, Annaluva. Du warst schon dem Tode geweiht, an dem Tag, als ich dich im Wald auflas. Es war allein meine Wahl, dein Leben zu verlängern und nun habe ich mich entschlossen, es dir zu nehmen. Am liebsten würde ich es sofort und hier beenden, denn ich habe deine verräterischen Ratschläge satt. Lange genug hast du meinen Geist mit deiner Zunge vergiftet. Aber dein Tod soll allen Aufrührern, die den Frieden meines Landes zerstören wollen, ein Beispiel dafür sein was sie erwartet, wenn sie sich mir widersetzen. Morgen wirst du öffentlich hingerichtet werden."
 
Er rief nach seinen Wachen. "Schafft sie in den finstersten Kerker! Sie wird morgen Mittag getötet. Jeder der sie zu befreien versucht, wird an ihrer Seite sterben, wie es sich für Hochverräter geziemt!" Die Wachen sahen verwirrt von Laietha zu Aragorn, nahmen die Frau dann aber doch und brachten sie fort. Sie schlugen sie nicht einmal in Ketten, denn die meisten kannten sie als Freundin. Laietha wehrte sich nicht.
 
Nachdem Boromir den ersten Schrecken überwunden hatte, wollte er Aragorn an die Kehle springen, aber Faramir reagierte geistesgegenwärtig und zog ihn mit sich davon. Unüberlegte Handlungen würden ihnen nur noch mehr Scherereien einbringen. Jetzt brauchten sie einen kühlen Kopf, einen starken Weinbrand und einen guten Plan.
 
***
 
Laietha hatte sich auf die niedrige Pritsche gesetzt, die ihr als Bett dienen sollte. Aragorn hatte nicht zu viel versprochen, als er davon geredet hatte, sie in den finstersten Kerker zu schaffen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es solche Verliese in Gondor gab. Der Soldat, der sie in die Zelle gebracht hatte, hatte sich noch bei ihr entschuldigt, aber Laietha hatte nur müde abgewinkt. Das war alles mehr als absurd.
 
Dennoch war sie in großer Gefahr, solange Mornuan den Willen ihres Bruders lenkte. Mornuan - allein der Gedanke an dieses Weib, das am Herzen ihres Bruders saugte wie ein boshaftes Insekt, ließ Wut in Laietha aufsteigen. Doch die Wut wurde von Hilflosigkeit überschattet, als sie sich wieder bewusst wurde, wo sie war.
 
Mornuan!
 
Die Tür flog mit einem Knall auf und Laietha erhob sich. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, betrat Mornuan den Raum. Laietha straffte sich und schob trotzig ihr Kinn vor. Mochte sie auch eine Gefangene sein - sie würde vor diesem Weibsbild keine Schwäche zeigen.
 
Mornuan umrundete die Kriegerin langsam. "Du weißt viel über mich, Schwester, zu viel, aber das wird dir nichts nützen. Niemand glaubt dir." Mornuan legte eine Hand auf Laiethas Herz und der Kriegerin war, als wäre alles Leben aus ihr entwichen. Ihr Herz raste, aber ihre Glieder waren von einer kalten Schwere erfüllt. Sie konnte sich nicht bewegen. Mornuan lachte leise. "Lange habe ich darauf gewartet Ich freue mich jetzt schon auf dein Gesicht, wenn dein Bruder den Befehl gibt, dich zu töten."
 
Die Kälte breitete sich über Laiethas ganzen Körper aus und drohte ihr, den Atem zu rauben. Der Elbenstein an ihrer Brust begann zu glühen und nahm ein wenig von der Todeskälte mit sich. Sein Licht erhellte die finstere Zelle. Mornuan starrte Laietha an, aber dann gefror ihr Lächeln und blitzschnell packte sie den Stein und riss an der Kette. Das Metall schnitt in Laiethas Haut und Blut begann ihr über den Rücken zu tropfen. Mornuan beugte sich zu ihrem Nacken und leckte die feine Blutspur ab.
 
Die Kriegerin konnte sich noch immer nicht rühren. Mit einem boshaften Kichern baute sich Mornuan vor ihr auf. Sie leckte sich eine Spur von Laiethas Blut von den Lippen. "Süß. Schade, dass du nicht mehr sehen kannst, wie dein Bruder mir das Ja-Wort gibt und mich zu seiner Königin macht. Aber vielleicht wirst du uns ja vom Jenseits her beobachten können." Damit machte sie kehrt und schlenderte aus dem Raum - den Elbenstein wie eine Trophäe in der Hand schwenkend.
 
Es dauerte einen Moment, bis die Kälte von ihr abfiel und Laietha sank zu Boden. Sie hatte diese Frau unterschätzt. Elrond war im Düsterwald - wer wusste schon, wie lange es brauchen würde, bis Elladan ihn fand? Und würde ihr Vater etwas gegen dieses Weib unternehmen können? Nein, es schien hoffnungslos! Aragorn hatte den Verstand verloren und sie würde sterben ehe die Sonne am nächsten Tag versank. Laietha schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen.
 
***
 
"Das kann er unmöglich machen! Er muss komplett den Verstand verloren haben!" Faramir sah schweigend zu, wie sein Bruder wütend durch den Raum lief. Er selbst war zu schockiert, um Worte zu finden. Boromir starrte düster aus dem Fenster. "Sie hat es gewusst. Sie hat gesagt, dass etwas nicht stimmt, und ich habe ihr nicht geglaubt. Warum habe ich nur nicht auf sie gehört?" Schweigen legte sich zwischen beide Männer. Jeder von ihnen wusste, dass Selbstvorwürfe nun niemandem nutzten. Auf dem Tisch standen zwei leere Gläser. Der Weinbrand lag Faramir noch immer auf der Zunge.
 
Auranor kam ins Zimmer gestürmt und stieß einen Freudenschrei aus, als sie Boromir entdeckte. "Onkel Bormie! Soll ich dir mal zeigen, was ich heut gefunden habe?" Faramir hob seine kleine Tochter schnell auf den Arm. "Nicht jetzt, Liebes. Wir haben ganz wichtige Sachen zu besprechen. Geh und spiel mit deinem Bruder, ja?" Die Kleine verzog das Gesicht, aber sie war ein artiges Kind und tat, wie man sie geheißen hatte.
 
Boromir hieb wütend die Faust gegen die Wand und sank auf die Knie. Faramir stürmte an seine Seite. "Lass den Kopf nicht hängen, Boromir, wir werden ihr helfen." Boromir stieß einen verzweifelten Schrei aus. Die Worte seines Bruders trösteten ihn nicht im Geringsten. Sie wussten beide, dass die Kerker gut bewacht waren und Laietha war auf Geheiß des Königs eingesperrt worden. Und selbst wenn es ihnen gelang - sie würden die Stadt und Gondor verlassen müssen, denn das war Hochverrat. Boromir würde seine Heimat nie mehr wiedersehen können.
 
Faramir legte ihm ermunternd die Hand auf die Schulter. "Der Morgen ist weiser als der Abend. Wir werden uns etwas einfallen lassen und außerdem glaube ich nicht, dass Aragorn sie wirklich töten lassen wird." Im selben Moment, als seine Worte den Mund verlassen hatten, bezweifelte er sie selbst. Er selbst hatte Aragorn gesehen, als er seine Schwester verurteilt hatte und der König hatte verdammt ernst ausgesehen.
 
Eowyn betrat den Raum zusammen mit Aiglos. Als Boromir seinen Sohn sah, stand er rasch wieder auf. "Ich habe davon gehört. Jetzt sagt mir bitte, dass es ein schlechter Scherz ist." Aber als Eowyn die beiden Männer ansah, wusste sie, dass es die Wahrheit gewesen war. "Das kann er doch nicht machen! Sie ist doch seine Schwester und jeder hier weiß, dass er sie mehr als alles andere liebt!" Boromir sah sie müde an und seine Stimme klang rau. "Aber er ist nicht mehr Herr seiner Sinne." Sie verfielen ins Schweigen.
 
Aiglos sah von einem zum anderen und schluckte schwer, um nicht weinen zu müssen. Er verstand nicht, was mit seiner Mutter geschehen war, sondern hatte nur gehört, dass sie verurteilt worden war. Er durfte jetzt nicht weinen! Schließlich war er schon fast ein echter Mann! Fast. Die ersten salzigen Tropfen fielen über seine Wange und blieben an der Nasenspitze hängen. Boromir ging zu seinem Sohn und nahm ihn fest in den Arm. Aiglos war froh, sein Gesicht in dem weichen Hemd seines Vaters verbergen zu können. Der Krieger strich dem Jungen sanft übers Haar. "Keine Sorge, Aiglos, wir werden sie dort rausholen."
 
Er wusste nur noch nicht wie.
 
***
 
Aragorn saß auf seinem Thron, die Hand in der Tasche vergraben und dachte nach. Er war verwirrt, aber konnte sich nicht erklären, warum. Seine Finger berührten etwas, das er schon fast vergessen hatte - eine Strähne vom Haar seiner Schwester, die er wie einen Talisman  bei sich trug. Was hatte er nur getan? Seine Erinnerungen an die Ereignisse des Mittags waren verschwommen. An eines erinnerte er sich ganz genau - er hatte sie zum Tode verurteilt. Aragorn schüttelte den Kopf. Seine Entscheidung war richtig gewesen, nicht wahr? Sie versuchte doch, seinen Thron für sich zu beanspruchen, ihn zu verraten! Niemals würde eine Frau ihn so übertölpeln!
 
Ein Zweifel regte sich in seinem Hinterkopf, der ihn schon seit dem frühen Nachmittag plagte. Sie würde so etwas nie tun. Aber nun hatte er sein Urteil vor so vielen Zeugen verkündet und er konnte es unmöglich zurücknehmen, ohne seine Glaubhaftigkeit zu verlieren. Wie würde das denn aussehen? Nein, sie musste sterben. Aber allein schon bei dem Gedanken daran, fühlte er sich miserabel. Vielleicht war diese Strafe doch zu hart. Während er so vor sich hingrübelte, senkte sich langsam die Dämmerung über die Stadt.

 
Mornuan betrat den Raum und ging auf Aragorn zu. Sanft legte sie ihm die Hände auf die Schultern und begann, ihn zu massieren. Er stöhnte erleichtert auf und lehnte sich in ihre Liebkosung hinein. Mornuan küsste seinen Nacken und ließ ihre Hände in sein Hemd gleiten. Aragorns Kopf war wie leergeblasen. Woran hatte er eben gedacht? Es wollte ihm nicht einfallen. Mornuan lächelte zufrieden.
 
"Du hast die richtige Entscheidung getroffen, Aragorn. Sie hat versucht, dich um den Thron zu betrügen. Sie hat nichts anderes als den Tod verdient." Der König schüttelte sein Haupt. Der Gedanke seine Schwester zu töten, behagte ihm nicht sonderlich. "Ich habe mir eine bessere Strafe für sie ausgedacht. Morgen, wenn sich alles zur Hinrichtung versammelt hat, will ich sie begnadigen und aus meinem Reich verbannen. Sollte sie es jemals wagen, hierher zurückzukehren, werde ich sie persönlich töten."
 
Mornuan hob ihre Braue und zog ihre Hände aus Aragorns Hemd zurück. "Du bist ein weiser Mann, Aragorn. Jeder in deinem Königreich wird morgen sehen, dass sie einen gnädigen König haben." Damit drehte sie sich um und verließ den Raum, denn ihre Pläne waren anderer Natur als die des Königs.
 
Mornuan hatte wohl bemerkt, dass Laietha vor Allem unter den älteren Soldaten sehr beliebt und hochgeschätzt war, deshalb würde sie sich jemand anderen für diese Aufgabe suchen müssen, aber das sollte kein Problem sein. Am Ende des Korridors sah sie einen jungen Mann, der die Uniform der Garde des Fürsten von Ithilien trug, auf sie zukommen. Mornuan lächelte breit. Das war genau, wonach sie gesucht hatte. Alles fügte sich so, wie sie es geplant hatte.
 
"Hey, du!" Der junge Mann stoppte, musterte sie von Kopf bis Fuß und als er sie erkannte, verbeugte er sich eilig. Mornuan lachte leise. Soweit, so gut. "Meine Herrin," murmelte er artig. Mornuan nahm sein Kinn zwischen ihre Finger und hob seinen Kopf. "Du kannst dich erheben, mein Junge." Sie setzte ihr verführerischstes Lächeln auf und bemerkte, dass der junge Soldat schwer schluckte. "Du hast doch gewiss von der Verräterin gehört, die heute festgenommen worden ist, nicht wahr?" Der Soldat nickte.
 
Mornuan schenkte ihm ein wohlwollendes Lächeln. "Ich will, dass du sie gut bewachst. Sollte sie versuchen zu fliehen, wirst du sie töten - und du wirst sicherstellen, dass sie versucht zu fliehen, ist das klar?" Der junge Mann sah sie einen Moment lang verdutzt an. Mornuan musterte ihn und lächelte. "Keine Sorge, deine Mühen werden nicht unbelohnt bleiben. Ich will als Zeichen dafür, dass du sie getötet hast, ihr Haar. Bring es mir heute Nacht in den Garten und du wirst eine reiche Belohnung empfangen."
 
Der junge Soldat knallte die Hacken zusammen und begab sich auf den Weg, um zu tun, was man ihm aufgetragen hatte. Mornuan lachte laut und zufrieden. Alles verlief genau so, wie sie es geplant hatte. Nur zu schade, dass sie Annaluvas Tod nicht mit ansehen können würde.
 
***
 
Bergil stürmte durch die Stadt, als wäre ein Balrog hinter ihm her. Die Passanten, die er anrempelte, schimpften ihm wütend hinterher, aber er hatte jetzt Wichtigeres zu erledigen. Völlig außer Atem, kam er an dem kleinen Stadthaus von Faramir und Eowyn an. Die Haushälterin stieß einen erschreckten Schrei aus, als sie den keuchenden Soldaten in der Tür stehen sah.
 
"Ich muss sofort zu Hauptmann Faramir," stieß er hervor. Die ältere Frau stemmte die Hände in die Hüften. "Kommt gar nicht in Frage. Der Hauptmann befindet sich in einer Besprechung. Wer seid ihr überhaupt?" Bergil nannte ihr seinen Namen, aber das stieß bei der Frau auf taube Ohren. "Kenne ich nicht. Nichts da, ihr könnt morgen zu früherer Stunde wiederkommen und nicht so spät am Abend, wo sich allerlei Gesindel herumtreibt."
 
Bergil war der Verzweiflung nahe. "Es ist aber wichtig! Es geht um Leben und Tod!" Nun war er lauter geworden. Die Haushälterin zog ein grimmiges Gesicht und stellte sich in die Tür. Mochte der Soldat seine Arbeit tun, aber sie würde ihre Aufgaben genauso ernst nehmen.
 
Angelockt von dem Spektakel, kam Eowyn die Treppen hinuntergestürmt. "Es ist gut, Nana," sagte sie beruhigend und schob die erboste Haushälterin sachte zur Seite. Dann zog sie Bergil schnell ins Haus. Sie stiegen die Treppen hinauf und Eowyn führte Bergil in Faramirs Arbeitszimmer, wo der Fürst von Ithilien und sein Bruder in eine hitzige Diskussion verstrickt waren.
 
"Und wie bitte sehr sollen wir dort wieder herauskommen?" fragte Faramir genervt. Die Atmosphäre war mehr als nur angespannt. "Du bist der clevere Bruder, nicht ich!" schnaubte Boromir und ließ sich frustriert in einen Sessel fallen, nur um eine halbe Sekunde später wieder aufzuspringen und durch den Raum zu laufen. "Wie soll ich nachdenken, wenn du die ganze Zeit über hin und herläufst? Setz dich, Boromir!"
 
Bergil konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. "Guten Abend," rief er in die Runde und die beiden Männer fuhren herum. Sie starrten ihn an, als hätten sie einen Geist gesehen. Eowyn holte Bergil etwas zu Trinken. "Hör zu, Bergil, wenn es wegen der Wachablösungen ist, können wir das ein anderes Mal besprechen?" fragte Faramir. Bergil nahm Eowyn mit einem dankbaren Nicken das Glas Wein ab und nahm einen Schluck. Er befeuchtete seine trockenen Lippen und bedeutete den Männern mit einem Lächeln, sich zu setzen.
 
"Ich habe Neuigkeiten, die euch vielleicht interessieren dürften." Boromir sah ihn erwartungsvoll an. "Sprich, Freund," bat er und Bergil begann zu berichten.
 
***
 
Draußen wurden die Wachen abgelöst. Es musste also kurz nach zehn Uhr sein. Laietha stützte den Kopf auf die Knie und nahm einen kleinen Bissen von dem Brot, das ihr einer der Wächter vor einiger Zeit gebracht hatte. Er hatte es vor Scham kaum gewagt, sie anzusehen, aber das half ihr nun auch nicht. Es gab kein Fenster in ihrer Zelle und Laietha konnte nur den Schimmer der Fackeln von draußen vor der Tür erahnen. Die Dunkelheit machte sie schläfrig. Ihr Kopf sank nach vorne auf die Brust und sie begann zu träumen.
 
Sie wusste nicht, was sie geträumt hatte, aber der Schweiß war ihr auf die Stirn getreten und als sie erwachte, hatte sie Aragorns Bild vor Augen. Die Müdigkeit war wie weggeblasen und in ihren Kopf kreisten nun tausende von Gedanken.
 
Als sie noch ein Kind gewesen war, war sie mit Aragorn oft durch die Wälder gestreift. Er hatte sie auf seinen Schultern getragen und war mit ihr auf Bäume geklettert. Sie hatte ihn zu Wettläufen herausgefordert und er hatte jeden einzelnen von ihnen verloren.
 
Als sie älter wurde, hatte er sie oft auf Streifzüge durch die umliegenden Ländereien geführt. Er hatte ihr alles über das Leben in der Natur beigebracht, das er selbst wusste.
 
Als sie begann in den Krieg zu ziehen, wich er so selten wie möglich von ihrer Seite, um sie so gut wie möglich zu beschützen.
 
Laietha hatte ihn vergöttert. Ihr großer starker Bruder, der sie vor allem beschützte. Wo war er nun? Hatte Mornuan ihn völlig in ihrer Gewalt? War Aragorn für sie verloren? Eine Träne rann über ihre Wange, aber sie wischte sie schnell weg. Es nutzte gar nichts, jetzt zu heulen wie ein Waschweib. Sie besann sich darauf, wer sie war - Ziehtochter von Elrond Halbelben, dem Herrscher über Bruchtal. Nun war es wohl beschlossen - sie sollte morgen sterben, aber vielleicht konnte sie doch noch etwas tun, um ihrem Bruder zu helfen. Sie musste nur genau nachdenken. Die Nacht war noch lang, aber wenn ihr nichts einfiel, würde es morgen auch nichts ausmachen, denn dann würde sie sterben müssen. Laietha sprach ein Gebet zu den Valar und bat sie um Stärke. Dann begann sie zu überlegen.
 
***
 
Bergil berichtete, dass er von Laiethas Gefangennahme gehört hatte - sein Vater hatte es ihm fassungslos berichtet, als er nach Hause gekommen war. Bergil hatte in der Kaserne nach Faramir gesucht, ihn aber nicht gefunden. Dann hatte er zum König gehen und mit ihm reden wollen. "Auf dem Weg zum König bin ich seiner Braut begegnet. Ratet, worum sie mich gebeten hat!"
 
Boromir wollte die Antwort am liebsten aus dem Jungen herausschütteln, riss sich aber zusammen und sah ihn nur erwartungsvoll an. Bergil fuhr mit seinem Bericht fort. "Mornuan will, dass ich Laietha töte." Faramir wusste nicht so recht, ob er das als gute oder schlechte Nachricht aufnehmen sollte, aber Boromir lächelte breit. "Das sind gute Nachrichten. Wir werden sie befreien und heimlich verschwinden. Mornuan wird sie für tot halten und wir können uns in Sicherheit wiegen." Der junge Soldat nickte. "Wir sollten noch ein paar Vorbereitungen treffen. Wir sehen uns in zwei Stunden wieder hier. Macht euch bereit, die Stadt zu verlassen."
 
Es war also beschlossene Sache. Boromir holte noch ein paar ihrer Sachen und auch Faramir ging noch einmal aus dem Haus. Eowyn sorgte dafür, dass ihre Pferde bereit waren und weckte dann Aiglos, der in Ionvamirs Zimmer untergebracht war. Auch Bergil traf in dem kleinen Stadthaus ein und als alle versammelt waren, machten sich Bergil und Boromir auf zu den Kerkern. Faramir wollte sich mit ihnen später vor den Ställen treffen.
 
Die beiden Männer sprachen nicht viel miteinander, als sie zu den Gefängnissen gingen. Sie hatten Glück. Als sie dort eintrafen fanden sie heraus, dass der wachhabende Offizier ein Veteran war, der schon früher unter Boromir gedient hatte. Es bedurfte nicht vieler Worte, um den Mann zu überzeugen, sie zu Laietha zu führen. Vor ihrer Zelle waren zwei weitere Wachen postiert. Zunächst kreuzten sie ihre Waffen, aber als sie Boromir erkannten, ließ einer von ihnen seine Waffe sofort sinken.
 
Der andere war ein relativ junger Mann. Er sah seine beiden Kameraden verwundert an, aber Dagoron, der Veteran unter ihnen, legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. "Lass gut sein, mein Junge. Sie ist unschuldig, dafür leg ich meine Hand ins Feuer, auch wenn ich nicht mal so genau weiß, was man ihr vorwirft." Boromir klopfte ihm dankbar auf die Schulter.
 
Die Tür öffnete sich und Laietha sprang auf. Was war denn nun schon wieder? Gespannt versuchte sie die schattenhafte Gestalt auszumachen, die ihre Zelle betrat. Das Licht der Fackeln von draußen blendete sie. Als sie Bergil erkannte, entspannte sie sich. Der junge Mann trat zu ihr. "Wir müssen uns beeilen, Frau Annaluva. Keine Zeit für Fragen, komm einfach mit." Laietha konnte ihr Glück kaum fassen. "Wie hast du das geschafft?" wollte sie wissen. Bergil erklärte es ihr kurz. "Sie will dein Haar als Beweis für deinen Tod, Laietha."
 
Die Kriegerin nahm eine der dicken Locken in die Hand und sah sie nachdenklich an. Sie war stolz auf ihr Haar. Boromir liebte ihre Lockenmähne, aber es war ein geringer Preis für ihr Leben. Sie nickte. Bergil reichte ihr einen Dolch und mit einem unglücklichen Gesicht schnitt sie den dicken Zopf im Nacken ab. Sie reichte ihm die Haarpracht und Bergil bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. "Wir können ihn nicht in ihrer Gewalt lassen, Laietha," flüsterte er und sie nickte stumm. Aber sie wusste auch, dass es nicht in ihrer Macht lag, Mornuans Fluch zu brechen. Sie brauchten Elronds Hilfe.
 
Geschwind verschwanden sie aus dem Kerker. Bergil schärfte den Wächtern ein, sie sollten sagen, dass er Laietha zur Hinrichtung abgeholt hatte. Sie nickten und wünschten ihnen Glück auf der Reise.
 
Bei den Pferdeställen angekommen, trafen sie Eowyn und Aiglos. Die Herrin Rohans drückte ihre Freunde und ihren Neffen. Faramir würde sie vor den Toren der Stadt erwarten. Bergil hatte sich verabschiedet. Er musste Mornuan noch Laiethas Haar bringen, damit sie glaubte, er hätte ihren Befehl befolgt. Dann würde er nachkommen und sich mit ihnen am Rande des Druadanwaldes treffen.
 
Als sie vor den Toren der Stadt ankamen, erwartete sie eine Überraschung. Faramir hatte Beregond und einige seiner Männer zusammenkommen lassen. Der Hauptmann von Ithiliens Garde war inzwischen selbst ein gutes Stück gealtert. Er und Boromir waren nur wenige Jahre auseinander. Als er den früheren Schwertarm des Weißen Turmes auf sich zukommen sah, sprang er vom Pferd und salutierte erfreut. "Mein Hauptmann, es ist gut, unter eurem Befehl zu stehen." Er machte eine winzige Pause. Mit einem Lächeln setzte Beregond hinzu: "Mal wieder."
 
Boromir schmunzelte und klopfte ihm auf die Schulter. Faramir wandte sich an seinen Bruder. "Ich dachte, nur für den Fall, dass Mornuan nicht darauf reinfallen sollte, wäre es vielleicht besser, wenn ihr nicht alleine unterwegs seid." Die beiden Brüder sahen sich lange an und auch Boromir stieg ab. Sie sagten nichts, aber jeder von ihnen wusste, wenn sie nichts gegen Aragorn unternahmen, würden sie sich vielleicht eine ganze Weile lang nicht sehen können. Wortlos umarmten sie sich fest.
 
Laietha hasste es, sie stören zu müssen, aber die Zeit drängte und jede Sekunde, die sie so dicht bei der Stadt waren, würde man sie entdecken können. Sachte berührte sie die Schulter ihres Mannes. "Wir müssen gehen oder alles war umsonst." Boromir nickte und sie bestiegen ihre Pferde.
 
Sie waren nur Schatten in der Nacht, als sie in Richtung des Waldes davon sprengten. Faramir sah ihnen noch so lange nach, bis er sie nicht mehr erkennen konnte. Seine Gedanken waren bei dem Tag, als Boromir nach Bruchtal aufgebrochen war. Vielleicht würden sie sich nie mehr wiedersehen.  Er seufzte tief und machte sich auf den Heimweg zu seiner Familie.
 
***
 
Mornuan nahm Laiethas Haar mit einem wölfischen Lächeln in Empfang. Bergil wäre um ein Haar einen Schritt zurückgewichen, als er das Glitzern in ihren Augen sah. Die Verlobte des Königs löste den Verschluss ihrer Halskette und legte sie Bergil in die Hand. Das Schmuckstück sah sehr wertvoll aus. "Ich habe ja gesagt, dass du nicht leer ausgehen wirst. Und jetzt pack dich und zu niemanden ein Wort davon."
 
Das ließ sich der junge Mann nicht zweimal sagen. Schnell eilte er von dannen. Unterwegs bat er noch einen Kameraden, seiner Frau zu sagen, sie solle mit den Kindern zu ihren Eltern gehen und dann machte er sich auf den Weg zu den Ställen, wo ihn bereits ein gutes Pferd erwartete. Er wusste, sollte Mornuan herausbekommen, dass er sie betrogen hatte, würde er in ganz Gondor nicht mehr sicher sein.
 
Mornuan schlenderte mit einem Lächeln im Gesicht zu ihren Gemächern. Sie stricht sachte über den schweren roten Zopf, der von einigen silbernen Strähnen durchzogen war. Es war vollbracht. Annaluva hatte ihre gerechte Strafe empfangen. Nun würde sich Mornuan auf den Weg zu Aragorn machen und ihm von diesem fürchterlichen Zwischenfall erzählen, der seine Ziehschwester das Leben gekostete hatte. Sie kam ihrem Ziel immer näher. Mornuan konnte es kaum noch erwarten.
Sie fand Aragorn immer noch in seinem Arbeitszimmer sitzend. Der König starrte ins Leere. Mornuan umarmte ihn von hinten, aber er reagierte nicht. "Mein Liebster, ich habe schreckliche Nachrichten erhalten." Langsam hob er den Kopf. Sein Blick war trübe und er schien einen Moment zu brauchen, bis er Mornuan erkannte. Sie fuhr fort. "Eine der Wachen hat mir berichtet, dass Annaluva versuchte zu fliehen. Sie ist tot."
 
Für einen kurzen Moment konnte sie Trauer in seinen Augen aufblitzen sehen - den leisesten Versuch eines Protestes erahnen, aber sein Geist war schon zu schwach, um sich ihr noch zu widersetzen. Behutsam legte sie ihm eine Phiole mit glühend rotem Inhalt an die Lippen und er trank willenlos. Mornuan zog ihn in ihre Arme.
 
Woran hatte er eben noch gedacht? Aragorn konnte sich nicht erinnern. Er versank in ihrer Umarmung, als hätte er keine Knochen im Leib und ihr Parfüm vernebelte seine Sinne. All seine Wahrnehmung beschränkte sich nun auf die sanften Hände, die über seine Brust glitten und ihm das Hemd von den Schultern streiften. Er schloss genießerisch die Augen, als ihre weichen Lippen sich den Weg zu seinem Hals bahnten und keinen Raum für andere Gefühle als das Verlangen nach seiner Braut ließen. Seine Braut, die ihm eben doch etwas gesagt hatte...was war es nur gewesen?
 
Er konnte sich nicht entsinnen und es spielte auch keine Rolle mehr. Mornuan hob ihren Kopf aus seinem Schoß und er stieß ein Keuchen aus. Die Frau lächelte ihn verführerisch an. "Ihr arbeitet zu hart, mein Liebster. Kommt, ich will euch zu etwas Entspannung verhelfen." Damit zog sie ihn auf die Beine und geleitete ihn in Richtung ihrer Gemächer davon.
 
***
 
Die Nacht war kühl und es hatte zu nieseln begonnen. Laietha saß an einen Baum gelehnt an der Seite ihres Mannes, während sie auf Bergil warteten. Aiglos war vor einer halben  Stunde eingeschlafen und Laietha hatte ihren Mantel über ihn gelegt, um ihn vor dem feinen Regen zu schützen. Auch Boromirs Atemzüge waren ruhig und gleichmäßig. Gewiss schlief auch er. Die Soldaten saßen ein Stück weiter abseits und hielten Ausschau nach Bergil. Laietha sah sehnsüchtig zu dem weißen Turm Ecthelions hinüber, der wie ein Dorn aus Perlen in den Himmel stach.
 
Aragorn, dachte sie und fühlte Tränen in ihre Augen steigen. Zunächst zwang sie sich, nicht zu weinen. "Wir sind nicht blutsverwandt!" Tränen fielen aus ihren Augen und obwohl sie versuchte, sich zusammenzureißen, wurde sie schon bald von Schluchzern geschüttelt. "Nicht blutsverwandt!" Aragorns Worte hallten in ihrem Herzen wieder. "Ich habe deine verräterischen Ratschläge satt!" Ein verzweifelter Laut entkam ihrer Kehle und Laietha wollte aufspringen und in den Wald laufen, denn so sollte sie niemand sehen.
 
Zwei warme Arme legten sich um ihre Schultern und sie erstarrte für einen Moment. "Ich weiß, dass dich seine Worte verletzt haben." Laietha warf sich in die Arme ihres Mannes und Boromir drückte sie fest an sich. Es war so selten, dass sie weinte. Ihre Tränen durchnässten sein Hemd, aber er presste seine Lippen gegen ihren Scheitel und strich ihr beruhigend über den Rücken. Sollte sie ruhig weinen, er würde sie trösten. Das Licht des nahen Lagerfeuers fiel auf sie und Boromir sah sie lange an.
 
Der Nieselregen fing sich in ihren Haaren, die ihr noch bis knapp auf die Schultern fielen. Es war seltsam, sie so zu sehen. Die Locken entwickelten in der feuchten Luft ein Eigenleben und begannen sich zu kringeln. Laietha presste sich fest gegen ihn und obwohl es nicht kalt war, zitterte sie. Boromir nahm seinen Mantel und breitete ihn wie eine Decke über seine Frau. Laietha ließ ihn nicht los und auch ihr Schluchzen wollte nicht verebben. Aragorns Worte mussten sie schwer getroffen haben.
 
"Denk immer an eines, Liebes, es waren nicht seine Worte." Laietha hob langsam den Kopf und sah ihn aus großen Augen an. Boromir küsste ihre Stirn, wie er es oft bei den Kindern getan hatte, wenn sie sich das Knie aufgeschlagen hatten. "Es war Mornuan, die aus ihm gesprochen hat. Sie hat dich vom ersten Tag an gehasst - und sie hat Angst vor dir." Sie schenkte ihm einen überraschten Blick, aber Boromir strich ihr eine kurze Haarsträhne aus der Stirn. Wenigstens hatte sie aufgehört zu weinen.
 
Sie bat ihn um Erklärung. Boromir lächelte sie ermunternd an. "Sie wollte dich aus dem Weg räumen lassen. Erstens heißt das, Aragorn hatte andere Pläne mit dir und zweitens bedeutet es, dass sie glaubt du könntest ihr gefährlich werden." Laietha rang sich ein Lächeln ab. "Du bist wirklich der Beste, Boromir." Er zuckte mit den Schultern und küsste ihre Stirn.
 
"Nun, was recht ist muss recht bleiben, nicht wahr? Außerdem bedeutet das noch etwas anderes - wenn sie glaubt, du könntest ihren Plänen gefährlich werden heißt das, dass sie eine Schwachstelle hat und die werden wir finden." Er drückte sie fester an sich und Laietha küsste ihn dankbar. "Ich werde dich nie wieder einen dummen Krieger nennen!" Er lachte leise. "Das glaub ich erst, wenn ich es sehe!"
 
Sie saßen eine gute Weile schweigend nebeneinander. Auch Boromir wirkte bedrückt und Laietha wusste, dass auch ihr Mann an seinen Bruder dachte, den er nun für sehr lange Zeit nicht mehr sehen können würde. Sie waren wie Verbrecher geflohen, waren vogelfrei in Gondor. In dem Land, für das Boromir so viele Jahre seines Lebens hart gekämpft hatte. Dem Land, das für ihn alles bedeutete - seiner Heimat. Boromir seufzte tief und Laietha legte ihm ihre Hand auf die Brust. "Anim nach dim, melethron."
(10)
 
Er sah sie an, konnte sich aber kein Lächeln abringen. "Wir werden eine Lösung finden - das hast du selbst doch gerade gesagt. Ich habe Elladan losgeschickt, damit er meinen Vater holt. Er wird wissen, was zu tun ist." Boromir nickte und spielte gedankenverloren mit einer vorwitzigen Strähne ihrer Haare. "Können wir nicht einfach hingehen, ihr den Kopf abschlagen und die Sache wäre ausgestanden?" Laietha schüttelte traurig den Kopf. "Boromir, sie ist eine Hexe. Wir können ihrem üblen Fluch nicht mit Schwertern beikommen. Mein Vater ist weise und mächtig. Wir müssen auf seine Künste vertrauen." Und darauf, dass Aragorn selbst die Stärke aufbringt, sich aus ihrem Bann zu lösen, setzte sie in Gedanken hinzu.
 
Die Stunden der Nacht krochen dahin, der Regen wurde stärker und langsam begannen sie sich zu sorgen. Wo blieb Bergil nur? Hatte er seinen Auftrag erfüllt und hatte fliehen können? Oder war ihre List durchschaut worden? Das schlechte Gewissen nagte an Laietha, denn schließlich ging es bei dieser Sache um sie - in gewisser Weise.
 
Die Regentropfen verdampften zischend in dem kleinen Lagerfeuer und als es langsam zu tagen begann, wurden auch die Soldaten unruhig. Besonders Beregond lief unruhig hin und her. In der Ferne sahen sie einen Reiter, der sich ihnen schnell näherte. Die Soldaten zogen ihre Waffen und Laietha weckte rasch Aiglos. Ein Aufatmen ging durch die Menge, als sie Bergil erkannten. Der junge Soldat grüßte seine Freunde mit hoch erhobenem Schwert.
 
"Das hat aber lange gedauert," brummte Boromir und schlug seinem jungen Freund auf die Schulter. Bergil grinste und bedeutete ihnen, aufzusitzen. "Wir sollten uns beeilen und ein gutes Stück Weg zwischen uns und die Stadt bringen - sicher ist sicher!"
 
Niemand wagte zu widersprechen und sie beeilten sich mit dem Aufbruch. Sie ritten entlang des Druadanwaldes und das Wetter war ihnen keine rechte Hilfe. Bald schon goss es wie aus Eimern und die anfänglich noch fast gelöste Stimmung, ging in bedrücktes Schweigen über. Sie würden etwa eine Woche bis zu Thranduil brauchen, wo sie dann auf Elrond zu treffen hofften. Aiglos ritt bei seinem Vater mit, denn er war so schläfrig, dass er fast aus dem Sattel gefallen wäre. Boromir sah seine Frau besorgt an, die schweigend neben ihm herritt. Aber als die Kriegerin es bemerkte, lächelte sie ihm zu. "Ich komm schon klar."
 
Nun, ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu vertrauen, aber er würde sie im Auge behalten. Der Himmel tat sich auf und es prasselte auf ihre Mäntel hernieder, ihre Schultern weiter zu Boden drückend.
 
***
 
"Was für ein herrlicher Morgen!" Sam sprang aus dem Bett und riss das Fenster auf. Die Sonne hatte schließlich über den Regen gesiegt und die Wolken zerrissen. Nun schien sie mit voller Kraft, wie um sich mit allen Reisenden auszusöhnen. Der Geruch von nasser Erde lag in der Luft und es war angenehm kühl. Pippin gähnte herzhaft. "Oh Sam, wie kannst du so früh am Morgen nur schon so gute Laune haben?" Sam begann zu lachen. "Früh am Morgen? Hat man schon mal so eine Schlafmütze gesehen? Die Sonne steht bereits hoch am Himmel! Ich will endlich Streicher wiedersehen und wir sind nur noch einen Tag von Minas Tirith entfernt! Ich will dort ankommen, bevor er verheiratet ist!"
 
Frodo lachte laut. Das sah seinem Freund wieder mal ähnlich. "Sam hat vollkommen Recht! Raus aus den Federn, meine Herren, oder wir werden ohne Frühstück abreisen müssen!" Diese Drohung zeigte Wirkung und geschwind waren nun auch Merry und Pippin aufgestanden. Die vier Freunde wuschen sich und zogen ihre saubere Kleidung an, denn die Frau des Hauses war so gut gewesen, ihre Kleider für sie zu waschen und in Ordnung zu bringen.
 
Nach einem guten und reichlichen Frühstück, machten sie sich auf den Weg. Die Ponies waren ausgeruht und die Hobbits hatten sich noch Proviant geben lassen. Nun stand ihrem Aufbruch nichts mehr im Wege. Das Wetter war ihnen hold und die Sonne schickte ihre wärmenden Strahlen über das Land, obwohl es in der Nacht mächtig geregnet haben musste. Fröhlich singend ritten sie auf die Weiße Stadt zu, die sie nun schon weit am Horizont ausmachen konnten.
 
Die Leute, die ihnen unterwegs begegneten, musterten sie neugierig, aber freundlich. Am Ende des Tages kehrten sie in einem kleinen Gasthaus am Ende des Steinkarrentals ein und rieben sich die schmerzenden Hinterteile. Sie alle würden froh sein, wenn sie am nächsten Tag endlich Minas Tirith erreichen würden und ihre Reise ein Ende hätte.
 
Es gab an diesem Abend nur ein Gesprächsthema bei den Freunden - Aragorns Braut. Wie würde sie wohl aussehen? Sie waren wirklich furchtbar aufgeregt und Frodo verkündete laut, dass er kaum hungrig war - was sich als kapitaler Fehler erwies, denn Pippin nahm diese Aussage zum Anlass, um ihm sein Essen vom Teller zu stibitzen. Satt wurden trotzdem alle, denn die Wirtsleute gaben sich große Mühe, ihre kleinen Gäste so gut wie möglich zufrieden zustellen.
 
Während Merry, Pippin und Frodo nach einigen Krügen guten Bieres ein paar fröhliche Lieder anstimmten, saß Sam nachdenklich am Kaminfeuer und zog an seiner Pfeife. Sein Freund trat auf ihn zu. "Was ist mit dir, lieber Sam?" Der Gärtner lächelte und schüttelte den Kopf. "Oh, ich habe nur versucht mir auszumalen, wie die Braut unseres guten alten Streichers aussehen mag. Er hat es wirklich verdient, die schönste und gütigste Frau Mittelerdes zu bekommen."
 
Frodo lächelte verschmitzt und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. "Die Chancen stehen zwar gegen eine elbische Frau, aber ich denke, dass sie nichtsdestotrotz wunderschön und durch und durch liebenswert sein wird." Sie lachten sich an und bald begaben sich die vier Freunde auf ihre Zimmer. Nur noch ein Tag trennte sie von Minas Tirith und sie konnten es kaum noch erwarten, endlich anzukommen.
 
***
 
Die Palastwachen starrten ungläubig auf die Fremden, die sich vor den Toren der Stadt versammelt hatten - es war eine gewaltige Armee, alle schwer bewaffnet und in funkelnder Rüstung. Die Menschen sahen exotisch aus. Ihre Haut war dunkelbraun, ihre Augen schwarz und ihr Haar hatte die Farbe von Pech. Es glänzte in der Sonne. Noch nie zuvor hatten die Wachen Gondors solche Waffen gesehen. An den Seiten der Soldaten hingen gebogene, prächtig verzierte Schwerter und Säbel. Die Pferde der Männer sahen wild und ungestüm aus - sie wären den Rössern Rohans ebenbürtig gewesen. Die Armeen standen sich stumm gegenüber, aber niemand wagte es, auch nur einen Schritt auf die anderen zuzumachen.
 
Endlich kam auch Aragorn an die Stadtmauer. Er gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen, obwohl es bereits später Vormittag war. "Was soll denn so wichtig sein, dass man einem Mann nicht einmal seinen wohlverdienten Schlaf gönnt?" Der Hauptmann Aragorns Wache schlug die Hacken zusammen und erstattete Meldung.
 
"Mein Herr, diese Männer kamen vor gut einer Stunde hier an und verlangen Einlass in die Stadt. Sie sagten, sie kämen in Frieden..." Seinen Augen war anzusehen, dass er mehr als misstrauisch war. Mornuan huschte mit einem strahlenden Lächeln an seine Seite. "Das sind liebe Gäste meines Volkes, die zu unserer Hochzeit erschienen sind, mein Liebster," schmeichelte sie. Der Hauptmann sah seinen König mit großen Augen an und erwartete seinen Befehl.
 
Noch immer verharrte das Heer vor der Stadt in beispielsloser Disziplin. Selbst die Tiere zuckten mit keinem Muskel. Die Soldaten Gondors hingegen waren mehr als unruhig und fingerten nervös an ihren Schwertern herum. Aragorn sah seinen Hauptmann an, als wäre er ein dummes Kind. "Hast du nicht die Worte deiner zukünftigen Königin gehört? Lass die Gäste schon ein und sorge dafür, dass man ihnen die besten Quartiere der Stadt zuweist!" Damit ergriff er seine Braut und zog Mornuan zurück in Richtung ihrer Gemächer.
 
Aragorn ließ sich in die weichen Kissen sinken und Mornuan streichelte seine Brust. "Du musst durstig sein, Liebster. Trink." Sie gab ihm eine kleine Phiole mit roter Flüssigkeit und er leerte sie in einem Zug. Plötzlich fühlte er sich schwindelig und als er die Augen schloss, begann sich alles vor ihm zu drehen. Er presste die Hände an seine Schläfen und fühlte, wie er in eine Dunkelheit stürzte, die finsterer als eine mondlose Nacht zu sein schien. Plötzlich spürte er Mornuans warme Lippen auf seinen und er zog Trost aus diesem Funken Wärme, in seiner plötzlich so entsetzlich kalten Welt.
 
"Warum sollten wir so lange warten, mein Geliebter. Willst du mich nicht bald zu deiner Frau machen? Was hindert dich daran, mich bald zum Weib zu nehmen?" Die Dunkelheit lichtete sich vor seinen Augen und alles was blieb, war Mornuans schönes Gesicht. Er versuchte herauszufinden, was gegen eine baldige Hochzeit sprechen könnte, aber es wollte ihm nichts einfallen, also nickte er. "So sei es. Wir werden morgen heiraten. Ich werde sofort gehen und alles Nötige veranlassen." Der Schwindel war verschwunden und Aragorn fühlte sich in seinem Herzen bestärkt - alles was er wollte, war morgen Mornuan zur Frau zu nehmen und sie zu Gondors Königin zu krönen. Schnellen Schrittes und von neuer Kraft erfüllt verließ er das Gemach.
 
Nach einigen Minuten klopfte es an der Tür zu ihrem Gemach und Mornuan öffnete. Hinein trat einer der Männer, die vor kurzem eingetroffen waren. Er begrüßte Mornuan mit einem Kuss. "Alles ist bereit, Herrin. Die Männer haben ihre Posten bezogen und erwarten eure Befehle." Mornuan lächelte und trat ans Fenster. Das Gefühl des Triumphes baute sich in ihrem Magen auf und sie lachte laut.
 
"Menschen sind so einfach zu täuschen. Aragorn, stolzer König der Menschen, dem sogar Sauron nichts anhaben konnte - ich habe seinen Willen gebrochen, bevor er nur ahnte was vor sich ging. Sogar seine Schwester hat er zum Tode verurteilt, als ich es befahl." Sie drehte sich um und sah den Mann an, der geduldig in der Tür stand, ohne eine Miene zu verziehen.
 
"Morgen werde ich Königin von Gondor sein. Nicht jedem wird diese Idee gefallen. Mach deine Männer bereit. Sie sollen ohne Gnade Kind, Weib und Greis - kurzum jeden töten der zu bezweifeln wagt, dass Mornuan die rechtmäßige Herrin dieses Gebietes ist." Der Soldat nickte und knallte die Hacken zusammen. Mornuan entließ ihn. Zufrieden lächelte sie und ließ sich aufs Bett sinken. Lange hatte sie auf diesen Tag gewartet und jetzt war er zum Greifen nahe. Alles fügte sich so, wie sie es geplant hatte.
 
***
 
Faramir hatte mit Schrecken den Einzug der fremden Soldaten gesehen und ihm war auch nicht entgangen, auf wessen Befehl dieses Heer in die Stadt geleitet worden war. Sie konnten nicht mehr auf Aragorn zählen. Faramir war Taktiker genug um zu wissen, dass die Stadt verloren war, wenn Mornuan den Befehl gab, Gondors Heer aufzulösen und ihre eigenen Männer die Stadt übernehmen würden - und das würde zweifelsohne geschehen. Er musste Hilfe holen gehen, denn langsam wurde die Situation brenzlig. Er musste seinen Bruder und Laietha warnen. Sollten sie mit Elrond zurückkehren und die Stadt besetzt finden wären sie tot, bevor sie auch nur einen Fuß in die Stadt setzen konnten.
 
Der Fürst Ithiliens berichtete seiner Frau davon und Eowyn gab ihm recht. Er musste aufbrechen und die anderen informieren. "Du solltest sofort gehen, Faramir. Ich werde nach Edoras reiten und Eomer um Hilfe bitten. Ich habe das Gefühl, dass Mornuan kurz vor ihrem Ziel steht und die Zeit drängt nun."
 
Faramir stürmte die Treppen hinauf und packte seine Sachen. Dann verabschiedete er sich von seinen Kindern. Als er ins Wohnzimmer trat fand er Eowyn, die gedankenverloren ihr Schwert in der Hand wog. Es beunruhigte ihn, sie so zu sehen. Schnell ließ sie die Waffe sinken als sie ihn sah. "Ich werde morgen in aller Frühe mit den Kindern aufbrechen," sagte sie und Faramir fiel ein Stein vom Herzen. Er war froh, wenn seine Familie außer Gefahr war.
 
Faramir gab ihr einen Abschiedskuss und machte sich auf, um die Stadt zu verlassen. Voller Unbehagen sah er die fremden Soldaten die begannen, sich an strategisch wichtigen Posten aufzustellen. Er musste sich beeilen. Als er die Stadt verlassen hatte, gab er seinem Pferd die Sporen. Boromir und die anderen hatten gut einen Tag Vorsprung. Er würde nicht eher rasten, als dass er sie gefunden hatte.
 
Er wusste noch nicht genau, was sie im Falle eines Krieges ausrichten können würden, aber zunächst war es wichtig zu verhindern, dass Mornuan Aragorn heiratete. Eines stand für ihn fest - wenn Mornuan erst Königin wäre, würde sie Aragorn töten lassen, denn sie hatte ja auch nicht gezögert, Laietha aus dem Weg räumen zu lassen. Er trieb sein Pferd noch mehr zur Eile an.
 
***
 
Luthawen hatte die Zeit bei den Beorningern sehr genossen. Sie hatte viel über Heilkräuter, die nur im Düsterwald wuchsen, gelernt und ihr Großvater hatte sie sehr gelobt. Sie war ihm oft zur Hand gegangen, wenn er sich ein paar kranke Beorninger angesehen hatte. Es machte ihr Spaß, den Kranken zu helfen und Olbern war jedes Mal voller Stolz gewesen, wenn er seine schöne Freundin dabei beobachtet hatte. Luthawen hatte wirklich ein Herz aus Gold.
 
Die Sonne begann unterzugehen und Olbern klopfte sachte an der Tür zu Luthawens Zimmer. Sie wollten am nächsten Tag aufbrechen und mit Herrn Elrond und seinem Sohn nach Minas Tirith reiten. Bereg und ein paar seiner Männer würden sie begleiten. Luthawen bat ihn hinein.
 
Sie saß am Spiegel und bürstete ihr Haar. Olbern küsste sie sanft auf die Stirn und nahm ihr die Bürste aus der Hand. Dann begann er, sich seinen Weg durch die dichte Lockenpracht zu bahnen. Luthawen schloss genüsslich die Augen und lächelte. Olbern konnte nicht widerstehen und hauchte ihr einen Kuss auf die bloße Schulter. Das Mädchen errötete, zog sich aber nicht zurück. Sie wagten nicht zu sprechen.
 
Olbern war fast ein wenig traurig. Nach der Hochzeit von König Elessar würde Luthawen wieder mit ihren Eltern in das Landhaus am Firienwald ziehen und er würde sie lange nicht mehr sehen können. Allein bei dem Gedanken daran, krampfte sich sein Herz schmerzhaft zusammen. Er sprach nicht davon, denn schließlich wollte er Luthawen nicht zu irgend etwas zwingen, das sie gar nicht wollte.
 
Er sog jeden Augenblick in sein Herz auf, damit er diese Zeit nie vergessen würde. Es wurde spät und schließlich legte Olbern die Bürste zur Seite. Die roten Locken flossen über Luthawens Schultern und wie sie so im Mondlicht vor ihm saß, war sie für ihn die schönste Frau der Welt  - so schön, dass er fürchtete, alles wäre nur ein Traum.
 
Luthawen ging zu ihrer Tasche und zog ein kleines Bündel mit Kräutern hervor. Sie drückte es Olbern in die Hand. "Hier, gib das bitte der Frau von Beorel. Es wird ihr bei ihren Beschwerden helfen. Ich habe es heute Nachmittag vergessen." Olbern lächelte. Sie dachte immer so viel an andere.
Ihre Hände berührten sich, als er ihr die Kräuter aus der Hand nahm und sie sahen sich lange an. Olbern presste seine Lippen sanft auf ihre und Luthawen schmiegte sich dicht an ihn. Er strich ihr sachte über den Rücken und auch sie erwiderte die Liebkosungen, aber etwas war anders als sonst. Fast ein wenig erschreckt wich Olbern von ihr, aber Luthawen lächelte ihn wohlwollend an. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, löste sie die Bänder an ihrem Kleid und der dünne Stoff glitt zu Boden. Olbern schluckte, als er sie so vor sich stehen sah und sie wurden beide gleichzeitig rot.
 
Jetzt war es zu spät, um zu zaudern. Luthawen trat dicht an ihn heran und sah ihn lange an. Ihr Herz konnte sich nicht entscheiden, ob es stillstehen oder rasen sollte und es dauerte eine unendlich lange Zeit, bis Olbern genug Mut fand, sie in seine Arme zu ziehen. Die Nacht deckte den Düsterwald mit einem Schleier aus Dunkelheit zu und eng umschlungen ließen sich die beiden Liebenden in die Kissen sinken. Sie ließen nicht voneinander ab, bis die goldene Morgensonne sich ihren Weg durch das dichte Blätterdach bahnte und sich in den glänzenden Augen der jungen Leute spiegelte.
 
Olbern sagte kein Wort und auch Luthawen schwieg. Er streichelte sachte ihr Haar, unfähig, in Worte zu fassen, was er empfand. "Bereust du etwas?" fragte er schließlich und Luthawen lächelte leicht. "Nein, gar nichts." Trotzdem schien Olbern etwas seltsam an ihrer Miene. Sie hatte sich verändert im Laufe der Nacht. Woran es lag, vermochte der junge Beorninger nicht zu sagen.
 
Er küsste sie und schob all die verschiedenen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen zur Seite. Er wollte diesen wundervollen Morgen genießen, denn schließlich würden sie heute aufbrechen und würden keine Gelegenheit mehr haben, so ungestört beieinander zu sein.


(8) Sei still!
(9) Schwarze Magie
(10) Sei nicht traurig, Liebster.

 

 

 

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