Titel: Der geschenkte Tag (Seite 6)
Autor: Naurdolien


Der Karren bog um die nächste Ecke und nun erkannte Eowyn, was ihnen bevorstand. Sie wurden nicht direkt zur Hinrichtungsstätte gefahren, sondern vorher einmal durch die ganze Stadt. Mornuan wollte nicht nur, dass sie starben - vorher wollte sie Eowyn demütigen und die Angst vor dem Tod wachsen lassen. Die Freunde tauschten einen Blick, als auch die Hobbits begriffen was geschehen sollte. Sie alle strafften sich. Vielleicht konnte die neue Königin ihnen das Leben nehmen, aber ihren Stolz nahm sie ihnen nicht.

Es war schwieriger als sie gedacht hätten. Eowyn hatte erwartet, dass die Menschen in den Häusern bleiben würden, aber die Straßen waren voll von Schaulustigen. Ihre Köpfe dröhnten von den Schreien der Masse. Die Sonne brannte auf sie hernieder und ihre Münder waren trocken. Die Ketten schnitten in ihre Haut. Schwindel ergriff von ihnen Besitz, jedoch noch immer versuchten sie sich tapfer aufrecht zu halten. Ihr Mut aber, war bis in die Zehen gesunken. An Flucht war nicht zu denken.

Ein Mann aus den Reihen der Zuschauer hatte versucht, sie zu befreien. Eowyn hatte gar nicht so schnell begreifen können, was geschehen war. Einer der Wächter hatte dem Mann, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kehle durchgeschnitten.

Eine Frau hatte sich vor den Karren gestellt und gebeten, die Hinrichtung nicht auszuführen. Sie waren über sie hinweggerollt und Eowyn hatte ihre Knochen brechen hören. Einer der Wächter hatte sie getötet.

Die Nachricht schien sich herumgesprochen zu haben, denn als sie am äußersten Ring der Stadt angekommen waren, machte die Menge artig Platz für den Karren. Die Menschen waren betrunken. Viele johlten in freudiger Erwartung auf die Hinrichtung. Ebenso viele senkten beschämt den Blick. Als sie fast am Stadttor angekommen waren und wendeten, warf Eowyn noch einen letzten Blick hinaus vor die Stadt. Sie schickte ein stummes Gebet zu den Valar und dachte an ihren Bruder und ihre Familie.

Nichts geschah. Der Karren wendete und trug sie in Richtung der Richtstätte. In wenigen Stunden würden sie sterben.

***

Sein Kopf schmerzte heftig, als er die Augen aufschlug und für einen Moment war alles ganz verschwommen. "Er wollte uns nichts tun - er wollte uns helfen!" piepste Auranor. "Na, das wollen wir doch erst mal sehen. Der Gute ist nämlich nicht ganz bei Sinnen, Kleines!" dröhnte eine Männerstimme. Sie war voll unterdrückter Aggression.

Aragorn stöhnte und versuchte sich aufzurichten. Es ging nicht. Jemand musste ihn geschickt verschnürt haben. "Onkel Aragorn!" murmelte Auranor und als Aragorn die Augen erneut aufmachte, sah er die Tochter von Eowyn und Faramir über sich gebeugt.

Er befand sich in einem düsteren Raum. Um ihn herum standen fünf Männer, von denen er zwei erkannte. Der eine war ein Veteran seiner eigenen Wache, der andere ein Freund Bergils aus der Wache von Ithilien. Sie sahen ihn grimmig an und Aragorn konnte es ihnen nicht einmal verübeln.

"Was wolltest du mit den Kindern?" fauchte der Freund von Bergil und packte ihn am Kragen. Aragorn schluckte und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Es dauerte eine Weile, bis er ihm einfiel. "Ich wollte ihre Mutter befreien, Bregol. Ich wollte ihnen helfen." Der Soldat schnaubte höhnisch. Natürlich glaubte er ihm kein Wort. Der Mann aus Aragorns Wache legte seinem Freund die Hand auf die Schulter und brachte ihn dazu, Aragorn loszulassen.

"Er ist immer noch der König, Bregol," sagte er ruhig. Der junge Soldat spuckte aus. "Schöner König, der seine eigene Schwester umbringen lassen will!" knurrte er bitter. Aragorn schlug die Augen nieder. Dann war es wahr...

Ein weiterer Mann kam in das Zimmer und nun erst begriff Aragorn, dass sie sich in einem größeren Haus befinden mussten. Er hörte aus dem anderen Zimmer und von über sich Stimmengewirr. Von draußen her klang Gejohle aus der Ferne. Er versuchte auszumachen, wie viele Menschen sich in diesem Haus befanden und kam zu dem Schluss, dass es gut zwanzig waren.

Der Lärm von außerhalb schwoll immer mehr an. Der Mann, der das Zimmer betreten hatte, verbeugte sich knapp vor Bregol und in ihm erkannte Aragorn einen weiteren Mann seiner Palastwache. "Sie kommen, Herr," flüsterte er. Bregol entließ ihn mit einer knappen Geste. "Also dann - zwei Männer bringen die Kinder in Sicherheit und ihn..." Sein Blick ruhte kurz auf Aragorn und der König sah maßlose Enttäuschung in seinen Augen. Er wurde von Scham überwältigt.

Der Soldat sog scharf den Atem ein. "Wir werden Frau Eowyn und die Halblinge befreien," erläuterte er knapp. Aragorn hob den Kopf und sah ihm fest in die Augen. "Macht mich los. Ich habe große Schuld auf mich geladen in der letzten Zeit. Meine Schwester kam durch mein Wort zu Tode, ihr konnte ich nicht helfen. Lasst mich wenigstens an meinen Freunden einen Teil meiner Schuld büßen."

Aragorn sah ihm an, wie sehr er mit sich rang. Das Spektakel außerhalb des Hauses wurde lauter und die Männer aus Aragorns Wache nickten Bregol zu. Mit einem Seufzer durchtrennte er Aragorns Fesseln und gab ihm ein Schwert in die Hand. "Beeilt euch. Wir müssen rasch handeln." Damit trat er in den anderen Raum.

Es waren dreißig Männer aus den ehemaligen Wachen von Gondor und Ithilien, die sich versammelt hatten. Viele verbeugten sich, als sie ihren König sahen, aber Aragorn bemerkte auch, dass einige ihn skeptisch musterten. Auranor und Ionvamir wurden von zwei Soldaten nach draußen geführt und Aragorn sah noch aus dem Augenwinkel, wie sie sich schnell zur Stadtmauer durchschlugen. Sie befanden sich also im äußersten Ring von Minas Tirith.

Bregol schien der Anführer der Gruppe zu sein. Er erklärte kurz, wie sie vorgehen würden. Sie sollten sich unters Volk mischen. Keiner von ihnen trug seine Uniform. Sie waren gekleidet wie Bettler - die Kapuzen ihrer Umhänge tief ins Gesicht gezogen.. Sobald der Karren mit seinen Wachen an ihnen vorbeiziehen würde, sollte es losgehen. "Wartet auf das Zeichen," sagte Bregol und damit stießen sie die Tür auf und traten hinaus ins Freie.

In einiger Ferne konnten sie schon den Karren mit den Gefangenen sehen. Geschwind verteilten sie sich unter den Zuschauern. Aragorn zog die Kapuze des Mantels, den man ihm gegeben hatte, tief ins Gesicht. Er war bereit, seinen Fehler wieder gutzumachen und seinen Freunden zu helfen, wenn er schon Laietha nicht hatte helfen können.

***

Kurz nachdem der Karren gewendet hatte und sie auf dem Rückweg zum Palast waren, begann die Schlägerei in der Menge. Zwei Betrunkene waren in Streit geraten und hieben mit den Fäusten aufeinander ein. Die Wachen reagierten sofort. Vier Männer entfernten sich vom Karren und machten sich daran, die beiden Streithähne zu trennen. Als sie bei den Männern ankamen, zogen die zwei ihre Messer und schnitten den ersten Wachen die Kehlen durch. Die Frauen schrieen entsetzt auf und die beiden Männer riefen laut: "Für Gondor!" Damit begann der Tumult.

Eowyn und die Hobbits waren auf einmal gespannt bis in die Haarspitzen und sie konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. Aus der Menge sprengten bewaffnete Männer hervor und die Wachen Mornuans, die von den umstehenden Menschen behindert wurden, konnten nichts unternehmen. Einige der Zuschauer fanden nun den Mut, sich zwischen die Wachen und die Gefangenen zu stellen und so dauerte es nicht lange, bis ein Mann mit einem dunklen Umhang den Karren erklommen hatte und sich an den Ketten Eowyns zu schaffen machte.

Als sie rasselnd zu Boden fielen, hob er den Kopf und Eowyn und die Hobbits stießen einen verwunderten Schrei aus. "Aragorn!" Der König lächelte traurig und widmete sich den Ketten von Frodo. Bregol war ebenfalls auf den Karren gestiegen und befreite Merry und Pippin. Aus der Ferne sahen sie Verstärkung für die Wachen Mornuans auf sie zueilen. "Nichts wie weg hier!" bellte Bregol und half Eowyn vom Karren.

Aragorn hatte seine Waffe gezogen und die Massen, die in Panik auseinander liefen, als sie erkannten, dass sie bald in eine Schlacht verwickelt werden würden, erleichterten den Soldaten Mornuans den Weg zum Geschehen.

Mit grimmiger Miene stellte er sich ihnen entgegen und war kurz darauf in ein Gefecht verstrickt. "Bringt Frau Eowyn und die Halblinge in Sicherheit!" rief er und stieß einem der Angreifer die Waffe ins Herz. Bregol warf ihm einen anerkennenden Blick zu. "Macht schon!" befahl er und die Männer stürmten hinaus, sich schützend vor Eowyn und die Hobbits stellend. Aragorn schwitzte wie verrückt. Zu lange hatte er sich nicht mehr in einen Kampf gewagt und seine Hände zitterten fast bei den Schlägen, die er austeilte.

Bregol stürzte an seine Seite und half ihm, einen der Feinde zu besiegen, der ihn zu überwältigen drohte. "Wir sollten uns zurückziehen - mein König," setzte er nach kurzem Zögern hinzu. Aragorn nickte. Zwar war seine Wut noch nicht besänftigt, aber er war klug genug um zu erkennen, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte. "Rückzug!" befahl er und sie verließen fluchtartig die Stadt.

Vor dem Stadttor warteten Reiter mit Pferden auf sie. Aragorn erkannte die meisten von ihnen. Also hatten sich der Männer der Wache zusammengeschlossen. Eigentlich war das Hochverrat, aber Aragorn bewunderte sie im Stillen. Sie dienten ihrem Land wahrhaft treu - besser als er, was in der letzten Zeit nicht gerade schwer gewesen war. Geschwind entfernten sie sich von der Stadt und bald schon bemerkten sie, dass sie nicht mehr verfolgt wurden. Am Rande des Druadanwaldes, trafen sie auf noch mehr Soldaten.

***

Es klopfte leise an der Tür zu Mornuans Gemächern. Ein Mann ihrer Armee trat ein. "Ich weiß es bereits. Sie sind geflohen, samt dem sogenannten König," sagte sie kühl. Der Mann verbeugte sich. "Die Schuldigen haben den Tod gefunden." Mornuan nickte. "Mach deine Männer bereit zur Schlacht. Sie sammeln sich am Rande des Waldes. Sicher werden sie versuchen, uns anzugreifen. Ich will, dass du ihnen zuvorkommst. Niemand aus der Armee Gondors soll am Leben bleiben." Der Mann verbeugte sich knapp.

Sie lächelte in sich hinein. Gut, es würde also doch noch ein wenig Zeit zum Spielen bleiben. Sie hatte gehört, dass sich rebellische Soldaten aus der Stadt entfernt hatten und nun war der König also auch noch am Leben. Sollte er doch - es kümmerte sie nicht. Dank ihrer Zauberkünste war er ein alter Mann, der schon bald sterben würde. Und nun hatte sie seine Stadt in ihrer Gewalt.

"Postiert Wachen überall in der Stadt. Macht klar, dass ich keinen Aufstand dulden werde. Ich will so ein Fiasko nie wieder erleben." Der Soldat verbeugte sich und Mornuan entließ ihn. Mit einem Lächeln trat sie ans Fenster und betrachtete den Sonnenuntergang in ihrem neuen Königreich. Sie würde sich von einem sabbernden Greis nicht ihr Eigentum nehmen lassen.

Lächelnd nahm sie die Krone vom Haupt und wog sie fast zärtlich in ihrer Hand. Sie spazierte zu ihrem Nachttisch und zog Laiethas Haar hervor. "Siehst du, Annaluva, so sollte es von Anfang an sein. Du bist tot und ich bin Königin. Zu schade, dass du es nicht mehr sehen kannst. Fast wünschte ich, du wärest noch am Leben, damit ich vor dir prahlen könnte. Aber man kann nun mal nicht alles haben." Mornuan lachte laut und entkleidete sich.

Sie ließ sich in das weiche Bett sinken und nahm sich einen Schluck Rotwein aus der Karaffe neben dem Bett. An der Wand des Schlafzimmers hing ein Bild von Laietha und Aragorn, das Herr Elrond einmal hatte anfertigen lassen. "Auf meine Gesundheit!" prostete Mornuan den Figuren zu und sie kicherte albern wie ein Schulmädchen. "Ich denke, ich werde euch noch ein Weilchen hier hängen lassen," murmelte sie verträumt. Sie war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit mehr als zufrieden.

Der Rotwein beschwipste sie und bald schon stellte sie das Glas auf den Nachttisch. Sie streckte sich über das ganze Bett aus und summte zufrieden. Endlich hatte sie ihre Ruhe und musste ihr Lager nicht mehr mit diesem alten Zausel teilen. "Wirklich ekelhaft," schüttelte sie sich. Dennoch - ein wenig stand ihr der Sinn nach Gesellschaft, also ließ sie ihren Heerführer rufen.

Sie musterte ihn eine Weile, als er entblößt vor ihr stand. Das war doch ein ganz anderer Anblick. Sein Körper war gestählt, seine Haut dunkel und glänzend, seine Augen wild. Sie räkelte sich verführerisch in den Laken und warf ihm einen einladenden Blick zu. Es lag keine Bitte in ihrem Lächeln, sondern es war ein Befehl.

Ihre helle Haut bildete einen starken Kontrast zu seiner dunklen, als er sich zu ihr legte und Mornuan schloss genießerisch die Augen, während er begann, ihren Befehlen Folge zu leisten. Das war doch gleich etwas ganz anderes. "Sei zärtlich zu mir," gurrte sie ihm ins Ohr. "Heute ist schließlich meine Hochzeitsnacht!"

***

Sie hatten sich in der Entfernung gründlich verschätzt und als die Dämmerung sie überraschte, waren sie noch ein gutes Stück vom Waldrand entfernt. Sie kamen auf die Große Weststraße am Steinkarrental und beschlossen, dort zu rasten. Es dauerte nicht lange und sie hörten aus der Ferne Pferdegetrappel, das sich ihnen schnell näherte. Geschwind verbargen sie sich im Gebüsch und warteten ab, wer sich ihnen dort näherte.

Laietha und Boromir pressten sich tiefer in den Schutz der Dunkelheit. Sie wagten kaum zu atmen und das Geräusch von Hufen kam immer näher. Plötzlich sprang Beregond auf. "Rohirrim!" rief er froh. Auch die anderen entspannten sich nun, denn sie erkannten in der Tat die Banner von Eomer.

Laietha und Boromir liefen nun ebenfalls aus ihrem Versteck und erwarteten die Ankunft der Menschen aus Rohan. Bald schon erreichten die Reiter die Freunde und Eomer sprang vom Pferd. Faramir suchte die Reihen der Pferdeherren ab. "Wo ist Eowyn?" fragte er schließlich beunruhigt. Eomer, der gerade seiner Frau Lothiriel vom Pferd half, sah seinen Schwager fragend an. "Ist sie denn nicht bei dir, Faramir?" Der Fürst Ithiliens schüttelte den Kopf.

Als Eomers Blick über die kleine Gruppe schweifte bemerkte er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Schnell ließ er sich von ihnen berichten was vorgefallen war. Eomer schüttelte den Kopf und legte seinen Arm besorgt um seine Frau und seinen Sohn.

"Das begreife ich nicht. Wie konnte er nur ihrem Zauber verfallen? Und was ist mit meiner Schwester? Ihr wird doch nichts geschehen sein?" Darauf wusste keiner eine Antwort. Sie beratschlagten, was zu tun sei. Laietha und Faramir äußerten ihren Verdacht, dass Mornuan die Stadt besetzten würde und Aragorn ans Leben wollte. Eomer runzelte besorgt die Stirn.

Nach einer guten Weile, wandte sich der König Rohans an seine Freunde. "Ich habe nachgedacht. Ich habe nur wenige Männer bei mir - schließlich brachen wir zu einer Hochzeit auf und planten nicht, in den Krieg zu ziehen." Er warf einen Blick auf seine Familie und fuhr nach kurzem Zögern fort.

"Lothiriel und Elfwine werden mit fünf meiner Männer ins nächste Dorf zurückkehren." Boromir atmete erleichtert auf. Er hatte sich schon Sorgen um das Wohlergehen seiner Cousine gemacht. Dann sah er Laietha bittend an, aber ihre Miene war entschlossen und er wusste, dass sie sich nicht davon abbringen lassen würde, sie zu begleiten. "Ich werde euch natürlich helfen," setzte Eomer hinzu. Sie waren einverstanden.

Rasch verabschiedeten sich Lothiriel und Elfwine von der Gesellschaft und sie machten sich auf den Weg ins nächste Dorf. Sobald die Lage sich geklärt hatte, würde Eomer einen Boten zu ihnen schicken lassen. Nun ließ sich Rohans König alles genau erklären.

Die Ankunft der Rohirrim hatte vieles verändert. Eomer war mit einer Eskorte von fünfzig Mann gekommen und nun standen ihre Chancen auf einen Angriff gar nicht schlecht, wenn man herausbekommen sollte, dass die Wachen Gondors und Ithiliens auf ihrer Seite waren. Sie beschlossen, das Lager aufzuheben und im Schutze der Dunkelheit weiter zu marschieren. Gleich am nächsten Morgen würden sie einen Spion in die Stadt schicken, der die Lage erkunden sollte. Boromir lächelte zufrieden, aber Laietha wurde von einer großen Unruhe befallen. Sie hatte es nun noch eiliger, in die Stadt zu kommen und nach dem rechten zu sehen.

***

Aragorn und die Männer sahen sich eine Weile lang schweigend an. Viele schienen nicht recht zu wissen, was sie vom plötzlichen Sinneswandel ihres Königs halten sollten. Bregol aber überzeugte sie schließlich davon, dass man Aragorn vertrauen konnte. "Ihr habt gesehen, wie es um die Stadt steht, mein Herr," sagte er mit einer tiefen Verbeugung und Aragorn nickte betroffen.

Es war seine Schuld. "Wir müssen etwas unternehmen und die Stadt befreien. Wir sollten keine Zeit verlieren, sondern sofort angreifen." Bregol schlug die Hacken zusammen. "Wie ihr befehlt, mein Herr! Ich werde die Männer antreiben." Der Soldat zögerte keine Sekunde, sondern machte sich ans Werk.

Aragorn setzte sich auf einen Stein und stützte den Kopf in die Hände. Sein Schädel dröhnte - nicht nur von dem Schlag, der er hatte einstecken müssen. Am anderen Ende des Lagers hörte er Auranor und Ionvamir, die fröhlich ihre Mutter begrüßten. Die Kinder wussten nicht, wie knapp ihre Mutter dem Tode entronnen war. Es war auch besser so und schließlich war Eowyn noch am Leben... Wieder kehrten seine Gedanken zu seiner Schwester zurück und er umfasste ihre Halskette. "Verzeih mir, Aiwe," flüsterte er.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Eowyn kam auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Beschämt senkte er den Blick, aber sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und er hob sein Haupt. In ihrem Blick war nichts von Groll. Aragorn presste den Elbenstein fester in seine Hand.

"Es tut mir so leid, Eowyn," brach es aus ihm heraus und er konnte den Fluss seiner Worte nicht aufhalten. Die Frau Faramirs hörte sich seine Beichte geduldig an. Ja, er hatte große Schuld auf sich geladen. "Aber es war nicht dein freier Wille, Aragorn! Es war Mornuan, nicht du, die mit deiner Stimme gesprochen hat." Sie erriet seine Gedanken. "Laietha ist dir nicht böse. Sie weiß es!" Aragorn fuhr auf.

"Aber das macht sie nicht wieder lebendig, verstehst du? Sie ist tot! Egal, ob Mornuan den Befehl gegeben hat oder ich! Ich bin ihr Bruder! Ich hätte sie beschützen müssen, aber ich habe es nicht getan, weil..." Ihm versagte die Stimme und er setzte sich wieder hin. Eowyns Hände ruhten auf seinen Schultern, die durch die Last seiner Schuld zu Boden gedrückt wurden. "Sie lebt, Aragorn."

Der König sah Eowyn an, als hätte er noch nicht begriffen, was sie eben gesagt hatte. Eowyn berichtete ihm von Laiethas Flucht und wohin sie auf dem Weg war. Ein riesiger Stein fiel Aragorn vom Herzen und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich sofort auf die Suche nach ihr zu machen und sich zu entschuldigen, sie zu herzen und zu küssen, weil sie lebte. Dazu war keine Zeit.

Die Soldaten rüsteten sich zum Aufbruch. Sie legten ihre Rüstungen an und griffen zu den Waffen. Sie würden die Stadt im Morgengrauen erreichen und angreifen. Der neue Tag würde ihnen hoffentlich mehr Glück bringen, als die vergangenen.

Die Hobbits traten zu Aragorn und er fiel vor ihnen auf die Knie. "Es tut mir leid, liebe Freunde. Ich habe keine Worte für die Scham, die ich empfinde, denn um ein Haar hätte ich euch alle verraten." Sam sog die Luft ein, sagte aber nichts. Man konnte ihm ansehen, dass er Aragorn noch nicht verziehen hatte.

Merry und Pippin winkten ab. "Du hast uns am Schluss geholfen - das ist alles was zählt. Jeder macht Fehler, Aragorn." Dann griffen sie nach ihren Schwertern, denn in der Stunde der Not, würden sie ihre Freunde nicht allein lassen.

Während die anderen sich rüsteten und Eowyn sich mit den Kindern auf den Weg machte, um Eomer zu verständigen, dass sie Hilfe brauchten, trat Frodo noch einmal zu Aragorn. Der König beugte den Kopf und lange sahen sich die zwei Männer schweigend an. Plötzlich und ganz und gar unvermittelt, lächelte Frodo Aragorn an.

"Ich weiß, was Einsamkeit bedeutet und ich weiß was es heißt, von großer Macht verführt zu werden. Mach dir keine Vorwürfe, Aragorn. Es zählt nur, wie wir uns am Ende entscheiden und du hast dich für deine Freunde und dein Land entschieden. Niemand wird dir etwas nachtragen." Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen, aber dann legte Aragorn dem Hobbit dankbar die Hand auf die Schulter. Er nickte und stand auf, ein Schwert an seinem Gürtel befestigend.

"Ja, ich habe mich für mein Land und mein Volk entschieden und nun ist es an der Zeit, meine Entscheidungen rechtsgültig zu machen und zu kämpfen." Damit straffte er sich und schritt an die Spitze seiner kleinen Armee. Es waren nicht Viele, aber sie alle waren entschlossen, für ihre Stadt und ihren König zu kämpfen.

Eowyn drehte sich noch ein letztes Mal um. Als sie Aragorn so an der Spitze seines Heeres stehen sah, bemerkte sie mit einem Lächeln, dass er ein Stück gewachsen zu sein schien. Er war aufrechter als zuvor und Eowyn wusste, dass er mit aller Entschlossenheit seine Fehler wieder gutmachen würde.

Die kleine Armee brach auf. Sie nutzten den Schutz der Dunkelheit, um nach Minas Tirith zu marschieren. Aragorn lief an der Spitze des Zuges, die Hobbits marschierten tapfer in der Mitte der Formation. Man hatte ihnen lange Messer gegeben, denn Frodo und Sam hatten keine Waffen mit sich geführt. Merry und Pippin liefen aufrecht Seite an Seite, voller Tatendrang, Gondor erneut gegen seine Feinde zu verteidigen.

Diesmal näherten sie sich von der westlichen Seite. Sie würden nicht auf den Pelennorfeldern kämpfen, aber trotzdem wussten sie, dass von ihrer Stärke die Freiheit Gondors abhing. Noch würde sich Mornuan in ihrem Triumph sonnen und nichts unternehmen und darin lag ihre Chance. Sie würden zuschlagen, sobald Anor ihr goldenes Angesicht zeigte und mit dem ersten Licht des Tages, Mornuans finsteren Treiben ein Ende bereiten.

Der Weiße Turm ragte über den Bergen auf und während sie im Licht des Mondes darauf zuliefen, waren alle tief in Gedanken. Bregol schritt mit erhobenen Haupt an Aragorns Seite. Wie die Hobbits ihren Freund so beobachteten, fiel ihnen auf, dass er langsam wieder zu Kräften zu kommen schien. Der zerbrechliche alte Mann wurde stattlicher, sein Gang aufrechter, seine Schultern zeigten nicht mehr zu Boden. Dennoch war er noch nicht wieder der alte Streicher und würde es wohl auch nie wieder werden. Von seiner Brust aber, ging ein helles Leuchten aus und die Hobbits sahen sich an und lächelten.

***

Es klopfte sachte an der Tür. Mornuan stöhnte missmutig und stieß ihren Heerführer von sich herunter, der ihr gerade den Rücken massiert hatte. "Was gibt es?" fauchte sie den Boten an, der in der Tür stand. Der Mann verbeugte sich. "Die Kundschafter melden, dass die Rebellen sich auf dem Weg hierher befinden, Herrin." Mornuan zog erstaunt eine Augenbraue hoch. Es schien fast, als wollte Aragorn Initiative ergreifen - was natürlich dumm war.

"Schicke einige Männer hinaus. Sie sollen sie abfangen und umbringen. Ich habe keine Lust, mich noch länger mit ihnen herumzuärgern." Der Bote nickte und verschwand. Mornuans Heerführer hatte sich aufgerichtet und wollte sich anziehen, aber Mornuan hatte andere Pläne mit ihm. "Es ist immer noch meine Hochzeitsnacht," lachte sie und zog den Mann wieder ins Bett.

***

Der Turm Ecthelions war nun deutlich zu sehen und es musste nach Mitternacht sein. Faramir erklärte Eomer genau, was er über die Befestigung der Weißen Stadt wissen musste und sie überlegten zusammen, wie man die Männer am besten einschleusen könnte. Der König Rohans konnte zwar immer noch nicht glauben, dass Aragorn Laietha verurteilt haben sollte, Bann oder nicht, aber nun - Boromirs Frau sah wirklich mitgenommen aus.

Auch Boromir war es nicht entgangen. Laietha ließ die Schultern hängen und erinnerte ihn schmerzlich an seinen Bruder, wenn Faramir von einem Gespräch mit ihrem Vater gekommen war. Die Stille der Nacht um sie herum war beinahe erdrückend.

Laietha ritt ohne ein Wort zu sagen. Sie war mit ihren Gedanken weit fort. Das Rasseln von Kettenhemden klang in ihren Ohren und Waffengeklirr schien überall um sie herum zu sein. In der Luft hing der Geruch von Tod und sie hörte die Schreie der Verwundeten. Es war wie in ihren Träumen - in den Träumen, aus denen sie schreiend erwachte. Die Träume, die sie bis an das Ende ihres Lebens verfolgen würden.

Sie hörte das Surren der Pfeile, die um ihre Ohren zischten und plötzlich erblickte sie Aragorn, wie sie ihn schon so oft mit entsetzensweiten Augen gesehen hatte. Es war in einen Kampf verwickelt und sah den Schützen nicht, der zielte, sah nicht den fliegenden Pfeil und brach zusammen, als die Spitze ihren Weg zu seinem Herzen gefunden hatte.

Der Schrei zerriss die Stille und Boromir war der erste, der die Fassung wiedergewann und seinem Pferd die Hacken in die Seite jagte. Wie der Wind preschte er hinter seiner Frau her und als er sie schließlich einholte und ihren Hengst zum Stehen brachte, musste er sie stützen damit sie nicht vom Pferd fiel. Fieber schien sie zu schütteln. Sie war kreidebleich und kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Vorsichtig zog er sie aus dem Sattel und in seine Arme. Ihr Herz raste, ihr Atmen kam stoßweise und ihre Augen suchten hektisch nach etwas, das niemand außer ihr zu sehen schien. "Aragorn," stammelte sie leise.

Faramir und Eomer scharrten sich mit besorgter Miene um sie herum. Sie kamen nicht dazu zu fragen, was los sei. Mit einem Aufschrei riss sich Laietha los. "Wir müssen uns beeilen! Schnell!" Die Männer sahen sich verwundert an, aber auf einmal waren alle Zeichen von Krankheit aus Laiethas Gesicht gewichen und es spiegelte sich nur noch Furcht in ihren Augen. "Schnell, macht schon!" befahl sie. Boromir zuckte nur hilflos mit den Schultern.

"Herr, seht nur!" rief einer der Rohirrim und deutete auf drei Figuren, die sich der Gruppe näherten. Laietha erstarrte zu einer Salzsäule und versuchte angestrengt auszumachen, wer sich ihnen dort näherte. Faramir erkannte es als erster. "Eowyn!" rief er froh und rannte auf seine Frau und seine Kinder zu. Die Soldaten entspannten sich erleichtert.

Als Eowyn ihren Gatten erblickte, breitete sie die Arme aus und lief ihm entgegen. Er schwenkte sie überglücklich herum. Auranor war mehr als froh, ihren Vater wiederzusehen und klammerte sich an seinen Hals. Eowyn war sehr erleichtert als sie entdeckte, dass sich Faramir in Begleitung Eomers befand. Der König von Rohan war gekommen, um seine Schwester zu begrüßen.

"Ihr kommt wie gerufen," begann sie ihren Bericht. Kurz erzählte sie, was geschehen war, verschwieg allerdings die geplante Hinrichtung, als sie Laietha sah. Faramirs Frau schenkte ihrer Schwägerin ein aufmunterndes Lächeln. Schnell wurde sie wieder ernst. "Ihr müsst euch beeilen, Aragorn braucht eure Hilfe. Er ist im Anmarsch auf die Stadt und will sie befreien. Er wird jede Hilfe brauchen, die er bekommen kann."

Laietha wurde bei den Worten ihrer Freundin aschfahl. Gehetzt sah sie sich um. Sie konnte noch nichts erkennen, aber sie hatte im Gefühl, dass Aragorn ihre Hilfe bräuchte. Boromir bemerkte ihre Unruhe und ritt zu ihr. "Was ist?" Laietha sah ihn flehend an. "Lass uns aufbrechen! Bitte!" Etwas in ihrer Brust verhärtete sich und sie fühlte sich so schrecklich beklommen. In ihrem Kopf erschienen noch einmal die Bilder so vieler schrecklicher Träume, in denen sie den Tod ihres Bruders gesehen hatte. "Beeilung!" rief Laietha und die Männer leisteten ihrem Befehl Folge.

Faramir verabschiedete sich geschwind von seiner Familie und sie trieben ihre Pferde zur Eile an In Windeseile jagten davon in Richtung Minas Tirith. Eowyn und die Kinder sahen ihnen nach.

***

Elrohir brachte sein Pferd abrupt zum Stehen. "Was ist?" Elladan eilte an seine Seite. Sein Bruder starrte mit offenen Augen in die Richtung, in der Minas Tirith lag. Eine kurze Weile lang antwortete der Elb nicht, dann schüttelte er den Kopf. "Nichts...nur ein Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben, aber wir sollten uns beeilen."

Auch Elrond waren die Blicke seiner Söhne nicht entgangen und er hatte ebenfalls etwas gespürt. Mornuans Macht war groß. Ein Krieg lag in der Luft und es würde nicht lange dauern, bis Blut vergossen werden würde. Die Vögel verkündeten es, denn statt in ihren Nestern zu schlafen, waren sie davon geflogen.

Als der Mond in der Mitte des Himmels stand, verließen sie den Wald und sahen den Turm der Weißen Stadt weit übers Land ragen. Sie nahmen auch die Gruppe von Reitern wahr, die sich etwa zwei Wegstunden vor ihnen den Weg über die Ebene bahnte und Elrond bemerkte noch etwas anderes - den Tumult der Schlacht, die vor ihnen gerade losgebrochen war.

***

"Mein Herr!" Einer der Soldaten wies auf die Bewegung am Horizont und Aragorn nickte. Sie kamen also. Natürlich waren sie auf der weiten Ebene leicht zu entdecken gewesen - oder Mornuan hatte ihre Männer ausgesandt, um sie zu vernichten. Wie dem auch sein mochte - sie waren alle bereit, zu kämpfen. Die kleine Armee hielt auf Aragorns Zeichen an und jeder begab sich in Position. Mornuans Soldaten rückten unaufhörlich näher. Aragorns Männer versteiften sich. Sie erwarteten den Feind.

Es dauerte eine kurze Weile, aber dann waren die Feinde soweit herangekommen, dass man sie genauer im Mondlicht erkennen konnte. Es waren viele, aber als die Hobbits sich unter den Männern Gondors und Ithiliens umsahen, wussten sie, dass selbst eine größere Heerschar ihnen kein Leid anhaben könne würde. Diese Männer hier kämpften für ihr Land, ihr Leben, ihre Freiheit und ihre Familien. Kein bezahlter Söldner konnte entschlossener sein zu siegen.

Plötzlich hielt das feindliche Heer an. Sie standen sich gegenüber und für einen kurzen Moment hing die Stille schwer über dem Land. Niemand schien es zu wagen, zu atmen, doch dann flog der erste Pfeil und fand sein Ziel. Einer der Männer neben den Hobbits ging zu Boden. Das war das Zeichen, auf das alle gewartet hatten. Aragorn zog sein Schwert. "Elendil!" gellte sein Schrei und seine Männer stürzten vorwärts. Auch in Mornuans Truppen kam Bewegung und binnen von Sekunden war die laue Mondnacht erfüllt vom Kampfgetümmel.

***

Sie preschten über die weiten Ebenen. In der Ferne konnten sie Bewegung erkennen. Dort geschah etwas und sie alle hatten eine Ahnung, was dort vorging. Die Schlacht hatte schon begonnen. Der Wind drehte und plötzlich erstarrten alle, denn er trug einen hassentbrannten Schrei mit sich. Mehr Aufmunterung benötigten sie nicht. Die kleine Gruppe jagte davon, um ihrem König zur Seite zu stehen.

***

Die Bogenschützen hatten ihre Waffen sinken lassen und griffen nun zu ihren Schwertern. Der Kampf Mann gegen Mann hatte begonnen und die Nacht war erfüllt vom Scheppern der schweren Rüstungen und dem Lärm, den die Schwerter hinterließen, indem sie aufeinander krachten.

Aragorn und Bregol kämpften in vorderster Reihe, Seite an Seite und sie brachten vielen Feinden den Tod. Bregol musterte den König, als er mit einem mächtigen Hieb einem der feindlichen Soldaten den Tod brachte. Es steckte also doch etwas in ihm. Bregol hatte den König noch nie zuvor persönlich getroffen. Es stimmte also doch, was man sagte. Der König war ein mächtiger Krieger. In den Augen des alten Mannes, blitzte Kampfeslust. Plötzlich fühlte Bregol ein Brennen in seinem Nacken und dann umfing ihn Schwärze.

Aragorn stieß den fremden Kämpfer zur Seite und rammte ihm die Waffe ins Herz. Bregols Leiche lag mit weit aufgerissenen Augen am Boden. Seine kleine Unaufmerksamkeit hatte ihn das Leben gekostet. Aragorn stieß einen wütenden Schrei aus, der durch die Nacht gellte. Noch ein Leben mehr, für dessen Verlust Mornuan und ihre Männer bezahlen würden. Noch wütender als vorher, warf er sich wieder in den Kampf.

Merry und Pippin standen Rücken an Rücken und die Soldaten waren wohl nicht darauf vorbereitet gewesen, dass diese kleinen Wesen sich so geschickt zur Wehr setzen würden. Wahrscheinlich hatten sie die beiden zunächst für Kinder gehalten. Die zwei Hobbits nutzten die Verwirrung der Feinde aus und gemeinsam brachten sie einen Soldaten zu Fall und beendeten sein Leben durch einen gut gezielten Streich. Es schien sich alles zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die Schlacht würde zwar noch eine Weile dauern, aber sie würden gewinnen. Pippin zwinkerte Merry zu und gemeinsam duckten sie sich unter einem Schwerthieb, nur um ihre Gegner durch einen kräftigen Schlag ins Gemächt zu Fall zu bringen.

***

Zum zweiten Mal in dieser Nacht klopfte es an Mornuans Tür und mit einem ungehaltenen Schnauben sprang sie aus den Federn. Mit ihrem Morgenmantel bedeckte sie notdürftig ihre Blöße. "Was gibt es?" schnauzte sie und der Soldat vor ihrer Tür zuckte zusammen. "Wir werden geschlagen, Herrin," stieß er ängstlich hervor. Mornuan stieß einen wütenden Schrei aus. "Alles muß man selbst machen! Sorgt dafür, dass mein Pferd gesattelt wir!"

Sie stapfte wütend in den Raum und zog sich etwas an. Ihr Heerführer räkelte sich verschlafen in den Kissen. Ärgerlich riß sie ihm die Decke weg und warf ihm seine Kleidung vor die Füße. "Mach schon, jetzt kannst du unter Beweis stellen, wie gut du dich auf die Kunst der Kriegsführung verstehst."

Mornuan zog sich an und begab sich zu den Pferdeställen. Ihre Männer waren gewappnet und bereit zum Aufbruch. Zwar warfen sie ihr sorgenvolle Blicke zu, als sie erkannten, dass ihre neue Königin plante, mit ihnen zu reiten, aber Mornuan war wild entschlossen dazu. Sie hatte genug von diesem hin und her. Der König von Gondor würde den Tod finden, dafür würde sie persönlich sorgen, und dann sollte dieses Ärgernis ein für alle Mal aus der Welt geschafft sein. Es bewahrheitete sich, was sie schon immer geahnt hatte - wenn man wollte, dass etwas richtig gemacht wurde, mußte man sich selbst darum kümmern.

***

Elrohir zuckte zusammen, als der Schrei durch die Nacht gellte. Das war Aragorn. Mit seinen scharfen Sinnen versuchte er die Nacht zu durchdringen, aber selbst für einen Elben war die Schlacht noch zu weit entfernt. Nur eines war ihnen allen klar - und es wurde deutlicher, als Elrond sein Pferd zur Eile antrieb - sie mussten sich beeilen, oder ihr Ziehbruder war verloren.

Luthawen hatte den Schrei auch gehört und die Haare in ihrem Nacken stellten sich auf. Ihr Großvater hatte versucht, sie und Aiglos in das nächste Dorf zu schicken, aber die knappe Zeit hatte gegen den Elben gearbeitet und so durften die Kinder die Gruppe begleiten. Eins hatte Elrond aber deutlich gemacht - wenn sie die Schlacht erreichten, würden sich Olbern und Laiethas Kinder an ihrem Rand aufhalten und außer Schussweite bleiben.

Sie hatten sich damit zufrieden gegeben. Olbern, Aiglos und Luthawen bildeten gemeinsam mit Olberns Mutter und Bergil die Nachhut. Bereg ritt in vorderster Reihe, freudig darauf brennend, seinem Freund Aragorn dessen Güte vergelten zu können. Sie hatten vielleicht keine übermächtige Armee, aber ein wenig Hilfe hatten sie zu bieten und vielleicht würde es ausreichen.

Elrond war weniger optimistisch eingestellt. Fieberhaft überlegte er die ganze Zeit nach einer Lösung, wie er Mornuan beikommen konnte.

Es war ihm eingefallen - sie war schon einmal bei ihm gewesen, zusammen mit ihrem Mann, einem dunklen Hexer. Lange Jahre lag das nun schon zurück, und er verfluchte sich, dass es ihm nicht eher aufgefallen war.

Ihr Mann hatte versucht, sein Land mit Gewalt zu nehmen, als sich Elrond geweigert hatte einen Pakt gegen die Zwerge mit ihm einzugehen. Laietha hatte ihn in einer Schlacht getötet. Auch Mornuan konnte also sterben. Er musste nur einen Weg finden, dicht genug mit einer Klinge oder einem Pfeil an sie heran zu kommen.

***

Der Lärm der Schlacht wurde lauter. Sie hörten die Aufschreie der Verwundeten, Schmerzensschreie, Schreie voller Angst, Pein, Agonie und die Geräusche der aufeinanderprallenden Waffen. Der Gestank von Blut hing in der Luft. Tod war allgegenwärtig.

Sie überquerten den letzten Hügel und waren mitten im Schlachtgeschehen.

Es sah in der Tat schlecht für Aragorn und seine Männer aus. Viele von ihnen lagen bereits tot am Boden. Laietha erkannte viele von ihnen. Aus der Ferne hatten sie beobachtet, dass die Schlacht zuerst gut für Aragorn ausgesehen hatte - bis Mornuan Verstärkung gesandt hatte. Mit einem wilden Schrei hob Laietha ihr Schwert und preschte auf einen der Feinde zu. Nun hatte der Krieg auch für sie begonnen.

Neben ihr ging einer der Männer, die ihr gefolgt waren, zu Boden. Sie stieß einen wütenden Schrei aus, sprang vom Pferd und enthauptete seinen Mörder. Die Kriegerin tauchte ihr Schwert tief ins Blut ihrer Feinde, aber sie ließen sie nicht zu Atem kommen und begannen, sie zurückzutreiben. Aragorns Männer waren am Ende ihrer Kräfte und wären ihre Freunde nicht zu Hilfe gekommen, wäre die Schlacht entschieden gewesen.

Laietha sah, wie sich ihr Mann unter dem Hieb eines feindlichen Schwertes duckte und sie eilte ihm zur Seite und trieb den Angreifer mit gezielten Schlägen zurück. Ein Ruf drang an ihr Ohr. "Elendil!" Sie wirbelte herum und versuchte die Richtung auszumachen, aus der er gekommen war. Es war ihr Bruder gewesen.

Dort war er - umzingelt von Feinden. Er kämpfte verzweifelt gegen sie an, aber er würde den Kampf verlieren. Laietha unterdrückte die Panik, die sie zu erfassen drohte. Sie begann zu rennen, musste ihm helfen. Viele Feinde tötend oder verwundend, bahnte sie sich ihren Weg zu ihm. Halte durch, Dunai, dachte sie.

Boromir sah Laietha nach, die sich ihren Weg durch die feindlichen Reihen bahnte. Mit einem unterdrückten Fluch hastete er ihr hinterher. Auch er hatte Aragorn entdeckt und Boromir befürchtete, dass seine Frau unaufmerksam und verwundbar wurde. Er hatte geschworen, sie zu beschützen, und das würde er tun.

Laietha sah den Bogenschützen und dann fiel ihr Blick auf Aragorn, der ihn nicht sehen konnte. "Aragorn! Hinter dir!"

Aragorn wirbelte herum. Diese Stimme würde er überall wiedererkennen. Konnte es sein, dass sie hier war? Sein Blick durchsuchte den Kampfplatz, suchte nach ihrem roten Schopf und dann fand er sie. Laietha stand mit hochgerissenen Armen auf dem Schlachtfeld, starrte ihn an und winkte wie von Sinnen. In einer grotesken Geste der Freude winkte Aragorn zurück, winkte ihr zu, als hätten sie keinen Krieg, als stünde er nicht mitten auf einem Schlachtfeld.

Er lief auf sie zu, lachend, und spürte plötzlich einen Stich ins Herz. Seine Beine versagten ihm den Dienst, noch immer sah er seine geliebte Schwester an, die nun plötzlich weinte und auf ihn zurannte. Dann fiel sein Blick auf den Pfeil, der aus seiner Brust ragte und während alles um ihn herum im Dunkel versank, begriffe er, dass er starb.

***

Boromir versteinerte in seinem Lauf, als er Aragorn zu Boden gehen sah. Mit einem wilden Aufschrei rannte er seiner Frau hinterher, die nun alle Vorsicht sinken ließ und nur noch auf den getroffenen König zustürmte. Boromir musste ihr den Rücken decken.

Laietha stürzte neben ihrem Bruder zu Boden. Mit einem Schrei riss sie ihn in ihre Arme und drückte ihn gegen ihre Brust. Mit zitternden Fingern suchte sie seinen Puls, aber sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Wie eine Puppe wiegte sie ihn, aber sein Leben konnte sie ihm nicht zurückgeben. Die Schlacht, der Krieg und die Gefahr für ihr eigenes Leben interessierten sie in diesem Moment nicht.

Ein heftiger Schlag traf sie an der Schulter und schleuderte sie zur Seite. Am Rande ihrer Wahrnehmung bemerkte sie Boromir, der wie verrückt um ihre Sicherheit kämpfte. Ihr Geist schrie, sie möge sich zusammenreißen und auf die Beine kommen, aber ihr Körper war taub und jenseits ihrer Kontrolle.

Wie in einem schlimmen Traum sah sie das Schwert, das ihrem Mann den Schädel spaltete. Langsam und immer langsamer sank Boromir zu Boden und wie eine Schnecke schlich sich ein grellrotes Rinnsal aus Blut über seine Stirn, immer langsamer werdend, bis er schließlich unbeweglich, mit gebrochenen Augen vor ihr kniete.

Die Zeit um sie herum schien stillzustehen. Fassungslos starrte Laietha auf das Gesicht ihres Mannes, auf die vielen Gefallenen, die sie umgaben, Ein Schrei staute sich in ihrer Brust und die Zeit dehnte sich ins Endlose.

Fast erwartete sie nun endlich den tödlichen Schlag eines Gegners, aber nichts geschah. Laietha spürte ihre Beine wieder, erhob sich und sah sich um. Plötzlich durchzuckte sie die Erkenntnis wie ein Blitz - die Zeit stand wirklich still!

Rings um sie herum war die Schlacht zu einem grausigen Bild erstarrt. Ein Mann rammte seinem Feind ein Schwert in den Leib - beide Münder zum Schrei verzerrt. Ein abgetrennter Kopf hing in der Luft, einen feinen Faden aus Luft hinter sich herziehend, fast wie ein makaberer Ballon.

War sie tot? Waren das Mandos Hallen? Blut, Tod und Leid bis in die Ewigkeit?

Aber Laietha war eine vernünftige Frau, auch wenn sie mit Vernunft hier nicht weiter kam. Dies war alles, aber nicht der Tod. Langsam schritt sie durch das schreckliche Statuenkabinett. Zwar konnte sie nicht behaupten, dass sie etwas besonderes gesucht hätte, aber als sie die Gestalt erblickte, die sie unverwandt anstarrte, wusste sie, dass ihre Suche ein Ziel gefunden hatte.

Dort stand sie - noch mit ihrem weißen Brautkleid - ein spöttisches Lächeln auf den Lippen und starrte sie ein wenig verwundert an. "Mornuan." Laiethas Stimme bebte vor Zorn. Die Kriegerin verharrte im Gehen. Sie hätte sich denken müssen, dass dieses Weib seine Finger im Spiel hatte.

Mornuan schritt langsam auf die Frau zu. Zugegeben, sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass Aragorns Schwester noch am Leben sein könnte, was wiederum bedeutete, dass der Junge sie betrogen hatte. Wenn man sich nicht um alles selbst kümmert, dachte sie zum zweiten mal in dieser Nacht. Eigentlich sollte Annaluva ja bereits verwesen, aber dafür würde sie schon sorgen. Dass die Kriegerin noch am Leben war bedeutete aber vor allem, dass Mornuan nun doch noch ein wenig mit ihr spielen konnte. Sie liebte Spiele.

"Fast ein kleines Kunstwerk, nicht wahr, Annaluva?" Mornuan strich fast liebevoll über eine Klinge, die aus dem Leib eines gefallenen Kriegers ragte. Mit einem anerkennenden Nicken betrachtete sie die Szenerie. "Es scheint wohl so, dass die Schlacht zu meinen Gunsten enden wird. Wir können gern die Soldaten zählen, was meinst du?"

Laietha war zu perplex, um eine Antwort zu geben. Sie war angewidert von der Abgebrühtheit mit der Mornuan das Schlachtfeld betrachtete und noch viel mehr darüber erschüttert, wie viel größer die macht der Hexe zu sein schien, als sie erwartet hatte. Wie lange konnte Mornuan ihren Trick wohl noch aufrecht erhalten? Laietha erwartete, dass der erstarrte Hexenkessel um sie herum jeden Augenblick wieder zu toben beginnen würde. Kein Zauber hielt ewig!

Mornuan lachte. "Keine Bange, wir haben Zeit zum Plaudern. Ich bin die Herrin der Zeit! Erst wenn ich es befehle wird sie weiterlaufen und dann wirst du auch bald schon tot sein." Sie lächelte Laietha milde an. "Allerdings...du bist mir fast ans Herz gewachsen. Vielleicht - nur vielleicht - gewähre ich dir ja einen letzten Wunsch!"

Laietha überlegte nicht lange. "Rette meinen Mann, rette meinen Bruder. Wenn du wirklich so viel Macht hast, schenk ihnen das Leben. Ich werde dafür sorgen, dass du die Krone behalten kannst."

Mornuan lachte überrascht. Sie hatte erwartet, dass die Kriegerin um ihr Leben betteln würde. "Und wie soll ich das anstellen? Ich bin Herrin über die Zeit - nicht über Leben und Tod, zumindest nicht auf diesem Schlachtfeld!"

Laietha kniff die Lippen zusammen. Der letzte Hoffnungsfunke drohte zu erlöschen. Aber Mornuan gefiel die Idee. "Was würdest du mir geben, wenn ich dir Gelegenheit gäbe sie zu retten?" Die Augen der Frau hatten sich zu Schlitzen verengt und sie musterte Laietha neugierig.

"Was immer du verlangst, mein Leben..." Als die Worte Laiethas Mund verließen wusste sie, dass die Hexe in den Handel einschlagen würde. Mornuan lachte laut, drehte sich um und begann ein paar leise Wörter zu murmeln. Als sie damit fertig war, zog sie eine Phiole hinter ihrem Rücken hervor und hielt sie der Kriegerin hin.

"Ich bin gewillt, dir zu helfen, Annaluva. Wenn du diesen Trank zu dir nimmst, schenke ich dir einen Tag. Ich kann deine Familie nicht retten, aber wer weiß, vielleicht kannst du es?" Laietha streckte die Hand nach dem Trank aus, verharrte aber in der Bewegung und sah Mornuan skeptisch an. "Wo ist der Haken?" Vielleicht war es ja Gift? Aber selbst wenn, was machte es für einen Unterschied! Sobald Mornuan den Zauber löste, würde sie erschlagen werden, denn ihr Schwert hatte sie verloren. Und außerdem konnte sie am Horizont etwas erkennen, das ihre Hoffnung weckte.

"Es gibt keinen Haken - keinen wirklichen. Ich werde dir einen tag schenken, wie ich es versprochen habe, und du wirst im Gegenzug für mich sterben - wie du es versprochen hast. Dieser Trank bringt dich einen Tag zurück. Du kannst versuchen was in deiner Macht steht, um deiner Familie zu helfen, aber du kannst nicht weglaufen. Wenn der Tag verstrichen ist, um genau diese Zeit wirst du sterben. Was sagst du, Annaluva? Dein Leben gegen ihrs?" Mornuan streckte ihr die Hand entgegen. Der Trank schimmerte blassblau.

Laietha schlug ein und nahm die Phiole. Sie öffnete sie, machte sich nicht die Mühe, an dem Trank zu riechen oder ihn zu kosten, sondern stürzte ihn mit einem Schluck hinunter. Er schmeckte bitter und augenblicklich drehte sich alles um sie herum. Vielleicht war es doch Gift, dachte sie bei sich und Mornuans Lachen war das letzte, was sie wahrnahm.

***

Das Erste was sie hörte war der Gesang der Vögel. Die Sonne schien ihr ins Gesicht und der süße Duft von Blumen hing in der Luft. Neben sich hörte sie leise, vertraute Atemzüge.

Ich bin in Mandos Hallen, dachte sie. Laietha wagte nicht die Augen zu öffnen. Alles schien so friedlich und ruhig. War das der Lohn für all die Jahre, die sie im Dienst der Waffe verbracht hatte? Die Valar hatten sie heimgeholt. Sie wollte ihren Mann sehen, dem sie gefolgt war. Langsam öffnete Laietha die Augen.

Boromir lag an ihrer Seite und schlief. Die Morgensonne schien auf sein Gesicht und ließ die weißen Haare golden schimmern. Unter ihr piekste ein Tannenzapfen Laietha in die Seite und der Waldboden auf dem sie lag roch feucht. So idyllisch ihr auch alles schien, aber das Gefühl, nicht tot und nicht in Mandos Hallen zu sein wurde stärker.

Die Kriegerin richtete sich auf. Um sie herum befand sich ein Lager - nein, nicht irgend eines, korrigierte sie sich schnell, es war ihr Lager im Druadanwald, das Lager, das sie am Vorabend aufgeschlagen hatten und von dem aus sie ihren Sohn entsenden würde, um Hilfe zu holen! Sie schüttelte den Kopf - was für ein grässlicher Traum war das doch gewesen!

An ihrer Seite begann sich Boromir zu strecken. Er gähnte und blinzelte in die Morgensonne. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er seine Frau ansah. Rings um sie herum begann das Lager zu erwachen. Das Rasseln der Schwerter wurde laut, als die Soldaten sie sich um die Hüfte gürteten, Feuer wurden geschürt und Kessel mit Trinkwasser aufgesetzt, um ein Frühstück zuzubereiten.

Auf der anderen Seite des Lagers erwachte Faramir. Boromir stand rasch auf und eilte an seine Seite. Laietha folgte ihrem Mann mit einem Lederbecher, in den sie Wasser gefüllt hatte und einem Stück Brot. Nachdem sich Faramir gestärkt hatte, begann er zu berichten. Mornuans Truppen hatten die Stadt übernommen, die Männer der Stadtwache waren entlassen worden, Eowyn und die Kinder wollten sich auf den Weg nach Rohan machen. Boromir verzog das Gesicht. "Schlechte Nachrichten bringst du."

Der Krieger schüttelte den Kopf - es kam ihm vor, als hätte er das alles schon einmal gehört. Laietha versteifte. Auch ihr kam alles so bekannt vor - wie in ihrem Traum. Es war kein Traum, meldete sich ihre innere Stimme. Aber es konnte nicht sein. Nicht einmal Mornuan konnte so mächtig sein, die Zeit um einen ganzen Tag zurückzusetzen.

"Diese Frau hat aber auch an alles gedacht," knurrte Boromir. "Sie hält Aragorn schön in ihrem bann und platziert in Seelenruhe ihre Leute in der Stadt. Aber sie wird ihn ja wohl nicht für den Rest seines Lebens in ihrem Bann halten können, oder?" Er schüttelte den Kopf - schon wieder hatte er das Gefühl, diese Worte schon einmal gesagt zu haben. Was für ein seltsamer Morgen!

Laietha zuckte zusammen. Auch sie hatte das Gefühl, den Tag schon erlebt zu haben. Ihre innere Stimme hatte auch eine gute Erklärung dafür, aber das war einfach zu absurd, maßregelte sie ihr Verstand. Trotzdem mussten sie ihren Vater darüber informieren. Ein Gefühl sagte ihr, dass Elrond nicht mehr fern war. Boromir erklärte sich damit einverstanden, dass sie Aiglos aussenden würden, um Elrond zu suchen. Boromir wollte ihm Bergil zur Seite stellen, aber Laietha schüttelte den Kopf. Sie würden kämpfen müssen. Die Bilder aus ihrem Traum schlichen sich vor ihre Augen. "Wir brauchen hier jeden Mann, der ein Schwert führen kann und Vater ist nicht mehr weit. Aiglos kann alleine reiten."

Boromir war nicht einverstanden. Der Junge war erst 12 und am liebsten wäre es ihm, wenn seine Frau ihn begleitet hätte. Sie schien etwas zu wissen, das sie nicht sagen wollte, aber in ihren Augen hatte Boromir eine winzige Spur von Furcht gesehen, die ihm nicht gefallen wollte. Dennoch blieb seine Frau stur und ging nicht auf seinen Vorschlag ein - nicht, dass er etwas anderes erwartet hätte.

Laietha erhob sich, nahm ein paar Früchte, etwas Wasser und ein Stück Wegbrot und ging hinüber zu ihrem Sohn, der noch immer tief und fest schlief. Statt ihn zu wecken, kniete sie eine Weile neben seinem Lager nieder und musterte ihn aufmerksam. Er war ein hübscher Junge, mit einem schön geschnittenen Gesicht. Er hatte noch nicht die markanten Züge seines Vaters, obwohl es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sein Kinn kräftiger würde und sich Freude und Sorgen in den glatten Wangen niederschlagen würden. Sein Haar schimmerte golden in der Sonne. Er musste es von Boromirs Mutter geerbt haben, von der ihr Mann so selten, aber immer voller Liebe sprach. Laietha dachte an seine wachen Augen und sein helles Lachen.

Plötzlich überkam sie eine tiefe Trauer. Sie hatte das Gefühl, ihren Sohn zu letzten Mal zu sehen. Ängstlich zuckte sie zusammen. Würde ihm doch etwas geschehen? Sollte ihn vielleicht doch jemand begleiten? Aber im selben Moment, als sie überlegte Bergil zu bitten mit ihm zu reiten wurde ihr klar, dass nicht Aiglos sondern sie selbst sterben würde, bevor der tag zu Ende war.

"Guten Morgen, Mama." Laietha machte fast einen Satz in die Höhe. Schnell zwang sie sich zur Ruhe und schenkte ihrem Sohn ein erzwungenes Lächeln. "Guten Morgen, Schlafmütze." Ihre Verwirrung war ihm nicht entgangen, aber bevor er sie befragen konnte, hatte Laietha ihm schon das Wasser und das Essen gereicht. "Beeil dich mit dem Frühstück und zieh dich an. Ich habe einen wichtigen Auftrag für dich."

Ein Auftrag! Aiglos schlang das Essen hinunter wie ein ausgehungerter Wolf, hustete, als er sich verschluckte und stürzte das wasser in einem Zug hinunter. Hastig lief er zu einem kleinen Tümpel in der Nähe des Lagers, stolperte vor Eile und wäre fast hineingefallen. Er ganz alleine sollte sich auf die Suche nach seinem Großvater machen! Die Valar mussten seine Gebete erhört haben! Hätte seine Mutter nicht so seltsam besorgt gewirkt, hätte er einen Jubelschrei ausgestoßen. Aiglos war mächtig stolz, dass man ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte.

Boromir schüttelte schmunzelnd den Kopf über den Eifer seines Sohnes. Ja, die Ausgelassenheit der Jugend war etwas Wunderbares. Ihm selbst und seinem Bruder waren solche Ausbrüche der Freude nicht gestattet gewesen - ihr Vater war nicht müde geworden, sie immerfort an ihre Stellung zu erinnern und daran, wie sie sich zu betragen hatten. Aiglos schien nun die Ausgelassenheit, die man ihm verwehrt hatte, mit auszuleben.

Boromirs Züge verdüsterten sich, als er an einen Vater dachte. Er spürte Denethors festen Griff um seinen Oberarm, den Funken eines auflodernden Freudenfeuers in seinem Sohn erstickend.

"Boromir! Nimm dich zusammen und erinnere dich daran, wer du bist. Du bist der Sohn des Statthalters von Gondor, du wirst eines Tages an meinet Statt über Gondor regieren - du bist kein Bauerntölpel, der durch den Schmutz auf seinen Feldern trampelt!"

Boromir schüttelte den Kopf. Ich war ein aufgeregter Junge, Vater, ein Junge, der zum ersten mal mit auf die Jagd durfte!

Er verstand sich selbst nicht mehr. Früher - früher hatte er nie solchen gewaltigen Groll gegen seinen Vater verspürt. Er hatte gewusst, dass Denethor nicht gerecht gegen seine Söhne war, aber er hatte Entschuldigungen gefunden, die rechtfertigten, wie sein Vater sie behandelt hatte. Aber jetzt wollten ihm keine Entschuldigungen mehr einfallen. Nicht mehr, seit er selbst Kinder hatte. Vielleicht war er selbst manchmal nicht streng genug mit seinen Kindern, aber um keinen Preis würde er dem Beispiel seines Vaters folgen. Im Grunde war selbst Aiglos, den er mehr als ein Mal einen Rüpel schimpfte, doch ein guter Mensch, also konnte sein Weg so falsch nicht sein.

"Papa!" Boromir schüttelte die Gedanken ab und trat lächelnd zu seinem Sohn. Schon oft hatte er in den letzten Jahren im düsteren Zwiegespräch mit Denethor gesessen, aber versöhnt hatte es ihn nicht.

Aiglos saß auf dem Rücken des Schimmels, den man ihm gegeben hatte. Am liebsten wäre er schon davon geprescht, aber Laietha redete ermahnend auf ihn ein und gab ihm letzte Anweiszungen, in welche Richtung er reiten sollte. Aiglos hörte nur mit einem halben Ohr hin.

Laietha schluckte hart. Für einen Moment dachte sie daran, dass sie Aiglos nie wieder sehen würde. Nie würde sie sehen, wie er zum Mann wurde, sich eine Frau suchte und sein Glück machte. Natürlich war es Unsinn, schalt sie sich selbst. Aber auch wenn es kein böser Traum gewesen war - wie sie sich immer noch zu überzeigen versuchte - selbst wenn sie diese Nacht sterben sollte, blieb jetzt keine Zeit für lange Gespräche. Sie musste ihren Jungen gehen lassen. Laietha zog ihren Sohn in ihre Arme und er wäre fast vom Pferd gefallen.

"Beeil dich, Aiglos, reite wie der Wind. Finde deinen Großvater und deine Schwester. Sag ihnen, dass die Zeit drängt - und sag ihnen, dass ich sie liebe." Bei den letzten Worten schnürte sich ihr die Kehle zu und Laietha räusperte sich schnell. Sie rang sich ein Lächeln ab und entließ Aiglos aus ihrer Umarmung.

Aiglos bekam nichts von der seltsamen Stimmung mit, in der seine Mutter sich befand. In Gedanken ritt er schon wie ein Pfeil durch den Wald. "Mach ich, Mama! Bis bald!" Er schnalzte mit der Zunge und der Schimmel galoppierte davon. "Sei vorsichtig und mach keinen Unsinn!" brüllte Boromir ihm hinterher, aber sein Sohn war schon zwischen den mächtigen Bäumen verschwunden. Wenn der Junge nur nichts anstellte!

 

***

Elrond und seine Söhne schraken gleichzeitig aus dem Schlaf hoch. Sie sahen sich an und mit einer Stimme riefen die jungen Elben aus: "Was war das?" Verwirrt sahen sie sich um. Sie waren an der Stelle des Waldes, wo sie gestern Nacht ihr Lager aufgeschlagen hatten, aber - etwas schien nicht richtig zu sein! Sie sollten gar nicht mehr hier sein! Hilfesuchend blickten sie zu ihrem Vater, der sich nachdenklich übers Kinn strich. Verschlafen blinzelten Luthawen und Olbern zu ihnen hinüber und auch Bereg und seine Frau waren von der Unruhe aufgewacht.

Bereg ging zu seinen Männern hinüber, die alle ein wenig besorgt aussahen. Er wechselte geschwind ein paar Worte mit ihnen in ihrer eigenen Sprache, dann kam er brummend und den Kopf schüttelnd zu den anderen zurück. "Sie sagen, sie würden sich unbehaglich fühlen. So als sein ein Schatten über uns alle hinweggezogen, aber nun ist er fort und es gibt keine Spur mehr von ihm."

Luthawen  rieb sich den Schlaf aus den Augen. "Ich habe etwas Seltsames geträumt - einen Traum, fast wie den von dem Mutter geplagt wird. Ich sah Onkel Aragorn und er kämpfte in einer Schlacht - bis er von einem Pfeil getroffen fiel. Mutter kam auch darin vor, aber ich kann mich an nichts genaues mehr erinnern." Sie schüttelte den Kopf. Vielleicht war es nur die Sehnsucht nach ihrer Familie, obwohl sie sich einen angenehmeren Traum hätte vorstellen können. Ob es wohl die Angst war, ihren Eltern gegenüberzutreten und ihnen zu sagen, wofür sie sich entschieden hatte?

Auch Elrohir hatte von seiner Schwester geträumt - von Laietha und einem Raben. Sie hatte ihn zu sich gelockt und der Vogel war auf ihre Hand geflogen. Plötzlich aber hatte er nach ihr gehackt und bevor Elrohir ihr eine Warnung hätte zurufen können, hatte der Vogel seiner Schwester das Herz herausgerissen! Eine Stimme hatte etwas geflüstert und dann gelacht, dass ihm das Blut in den Adern stocken wollte. Langsam verschwand die Szenerie im Dunkeln, aber was ihn bis zum Aufwachen begleitete war die Stimme seiner Schwester: "Hab keine Sorge Elrohir, sie hat mir einen Tag geschenkt!"

"Seltsam," lachte Olbern. "Mir kommt es vor, als hätte ich diesen Morgen schon mal erlebt, nur ein wenig ruhiger!" Nur Luthawen lachte gezwungen mit ihm, die Elben blieben stumm und ernst. Auch ihnen kam es so vor, als wiederholte sich der Morgen. Etwas ging nicht mit rechten Dingen zu. Für Elben waren Elladan und Elrohir noch jung - sie zählten noch nicht einmal 3000 Jahre, aber für die Menschen war das eine Zeitspanne, die dem Wort Ewigkeit fast gleichkam und weder sie noch ihr Vater, der schon so viel länger als sie auf dieser Welt war, hatte jemals einen Tag erlebt, der wie ein anderer schien. Nein, hier war jemand am Werk, der sich in der schwarzen Kunst verstand. "Mornuan."

***

Draußen jubelten die Menschen noch immer. Mornuan konnte sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen. Aragorn saß stumm auf dem Bett und stierte an die Wand. Ekel überkam Mornuan, als sie daran dachte, wie viele Nächte sie neben diesem sabbernden Greis gelegen hatte. Nun, zu ihrem Trost wusste sie, wie die Geschichte ausgehen würde. Sie hatte den ganzen Morgen hin und her überlegt, ob sie Annaluva betrügen und ihn gleich nach der Hochzeit töten lassen sollte, aber das wäre ja ein Zeichen von Schwäche, nicht wahr? Nein, anders herum war es viel amüsanter. Sie konnte nicht verlieren. Annaluva wusste nun zwar, dass ihr Bruder noch lebte und dass sie seine Truppen schlagen würden, aber was machte das schon?

Sie hatte ihr einen Tag versprochen und Annaluva hatte nicht mal einen halben bekommen - zugegeben, das war nicht Mornuans Absicht gewesen, aber es betrübte sie auch  nicht sonderlich. Sie war gespannt, was sich die Kriegerin einfallen lassen würde, um ihren geliebten Bruder zu retten. Aber selbst eine Frau wie sie konnte nicht aus Lehm eine Armee backen! Aragorn und seine Männer waren verloren und Mornuan würde zur Stelle sein, um zuzusehen, wie Annaluva starb. Es würde kein angenehmer Tod sein, aber das war auch nicht teil der Abmachung gewesen, nicht wahr?

Nun war es Zeit, sich um ihre neuen Staatsangelegenheiten zu kümmern. Sie verließ den Raum und verschloss die Tür hinter sich. Vielleicht würde sie später noch einmal auftauchen, rechtzeitig, um Aragorn an der Hinrichtung seiner Freunde teilhaben zu lassen. Es war beim zweiten Mal eben nicht mehr halb so lustig wie beim ersten, sein herz brechen zu sehen. Leise lachte sie in sich hinein. Wer weiß - vielleicht würde er ja so gar nicht aus dem Palast fortlaufen wollen?

***

Aragorn schenkte seiner Frau keinen Blick. Die Trauung war ihm wie ein Traum vorgekommen, aber es schien kein guter Traum zu sein. Dennoch war etwas in seinem Bewusstsein, das ihn den ganzen Morgen nicht in Ruhe gelassen hatte. Mornuan schien ihm verändert und als er in den Spiegel geblickt hatte, hatte sich ein teil seines Verstandes erschrocken. Er war ein alter Mann geworden! Noch etwas war nicht so, wie es sein sollte - darüber hatte er die ganze Zeit versucht nachzudenken, aber erst als Mornuan den Raum verlassen hatte, war es ihm eingefallen - seine Schwester fehlte!

Bilder sprangen vor sein Auge - ein Todesurteil gegen seine Schwester, von seinen Lippen und die Nachricht, dass sie auf der Flucht getötet worden war, aber Trauer empfand er nicht. Aus den Tiefen seines Herzens drangen leise Stimmen hervor, die von seinem Entschluss, sie zu begnadigen sprachen und er sah Eowyns Gesicht, die ihm lächelnd verkündete, dass Laietha lebte.

Vor seinem Fenster bauten die Henker schon den ganzen Morgen. Es waren Galgen, die sie errichteten - Galgen für seine Freunde. Aragorn stand auf. Er fühlte sich so schwach, wie er aussah, aber durch Herumsitzen würde er seine alte Stärke nicht zurückbekommen. Es war Zeit zu handeln. Seine Freunde würden nicht auf sein Geheiß sterben - zumindest nicht, so lange er am Leben war! In diesem Moment hörte er Kinderstimmen vor der Tür und kleine Hände, die schwach gegen das schwere Holz klopften. Jetzt war seine Zeit zum Handeln gekommen!

***

Das Volk johlte und der Lärm toste in ihren Ohren. Es hatte Widerstand gegen die bevorstehende Hinrichtung gegeben, aber er war von der neuen Stadtwache brutal niedergeschlagen worden. Einige Menschen in der Menge hielten betroffen oder verängstigt die Köpfe gesenkt, aber es gab auch Menschen unter ihnen, bei denen Eowyn Mordlust in den Augen blitzen sah. Sie selbst war jedoch seltsam ruhig und gefasst - sie hätte nie für möglich gehalten, ihrem Ende so mühelos aufrecht entgegenzugehen. Vielleicht hatte es ja etwas damit zu tun, was Frodo an diesem Morgen gesagt hatte.

Es war ein ausgesprochen seltsamer Morgen gewesen. Keiner von ihnen hatte sich erinnern können, eingeschlafen zu sein  und auch von ihrem Erwachen fehlten alle Erinnerungen. Aber was spielte das auch für eine Rolle? Der Jubel der Stadt hatte ihnen verkündet, dass Aragorn und Mornuan vermählt worden waren und das hämische Lachen der Wächter kündete von ihrem nahenden Tod.

Sam hatte düster vor sich hingebrütet und auch Eowyn hatte wehmütig ihrer Kinder gedacht. Da aber war Frodo aufgestanden und hatte nur gelächelt. Diesen Anblick würde Eowyn nicht mehr vergessen. Der Hobbit sah aus, als wäre er von einem inneren Leuchten erfüllt - ganz so, als käme er aus einer anderen Welt. Es war kein Fünkchen Angst in seinem Blick. Tröstend legte er Sam eine Hand auf die Schulter. "Habt keine Angst, meine Freunde, heute werden wir nicht sterben."

 Im Angesicht ihrer Bewacher, der errichteten Galgen und der soliden Kerkermauern. Hätten sie ihm ins Gesicht lachen, oder ihn zurechtweisen sollen, aber seltsamerweise waren sie alle geneigt, ihm zu glauben.

Nun hatten sie den äußersten Ring der Stadt erreicht. Der Karren machte sich bereit zum Wenden und es war ihre letzte Gelegenheit noch einen Blick in die weite Ebene vor Minas Tirith zu werfen. Urplötzlich spannten sich Eowyns Muskeln und ohne jeglichen erkennbaren Grund machte sie sich zur Flucht bereit. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass es den Hobbits ebenso erging. Sie spürte Frodos Blicke auf sich ruhen und mit einem winzigen Lächeln murmelte sie ihm zu: "Ich glaube, du hattest Recht."

***

Kaum dass Aiglos fort war hatte Laietha zum Aufbruch gedrängt. Langsam, ganz langsam waren Bilder vor ihre Augen getreten - Bilder, die aus einer nicht allzu fernen Zukunft zu kommen schienen, Bilder, die ihr bekannt vorkamen. Sie ritten schnell und Minas Tirith kam näher. Und immer wieder sah sie diese Bilder, wie Fetzen aus einem bösen Traum, die von leid und Tod kündeten. Gegen Mittag hieb sie die Wucht der Eindrücke fast aus dem Sattel.  Sie rasteten. Die Kriegerin ließ sich mit einem Ächzen von ihrem Pferd gleiten und sank keuchend zu Boden - gerade noch rechtzeitig, bevor sie die Flutwelle der Bilder überrollte. Und mit den Bildern kehrten ihre Erinnerungen zurück - die Schlacht, die vielen Gefallenen, Aragorns Tod und schließlich auch ihr Handel mit Mornuan.

"Aragorn! La!" Boromir kniete neben ihr und hatte ihr besorgt eine Hand auf die Schulter gelegt. "Was ist los, Laietha? Geht es dir nicht gut?" Sie schüttelte den Kopf, um das Bild ihres Bruders zu verdrängen, der in seinem Blut auf dem Schlachtfeld lag. Es nütze nichts. Ihr schien es, als hätte sich dieser Anblick in ihr Hirn gebrannt. "Aragorn!"

Boromir legte ihr eine Hand auf die Stirn. Zumindest hatte sie kein Fieber, aber das beruhigte ihn auch nicht sonderlich. Vielleicht waren es immer noch Aragorns Kränkungen, die ihr so zu schaffen machten. Hitzige Wut auf den König von Gondor jagte für eine Sekunde durch ihn, aber die Sorge um seine Frau kühlte die Wut so schnell ab, wie sie gekommen war.

Laiethas Augen waren leer und sie starrte in die ferne. Boromir kannte diesen Blick nur zu gut - es war der selbe, wie in so vielen Nächten, in denen sie aus Träumen von Kampf und Tod erwachte. Nicht selten rief sie den Namen ihres Bruders - so wie jetzt. Sie musste in furchtbarer Sorge um ihn sein.

"Ganz ruhig, Liebes! Es geht ihm gut! Du machst dir zu viel Sorgen!" Zärtlich strich ihr Boromir über den Kopf. Er selbst war nicht allzu überzeugt davon, dass sein Schwager wirklich in Sicherheit war. Der König von Gondor und Laietha hatten eine besondere Bindung zueinander und nach den Umständen zu urteilen, von denen Faramir ihnen berichtet hatte war es gut möglich, dass Mornuan ihn nach der Krönung hatte töten lassen. Sie sollten schnell weiterreiten.

Zärtlich nahm er ihr Kinn in seine Hände und sah ihr tief in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick, erkannte ihn und tauchte endlich aus ihren Tagträumen auf. Sie schenkte ihm ein schmales Lächeln - nicht annährend genug, um ihn zu beruhigen - und ein leichtes Kopfnicken. Was immer sie auch quälte, entschied Boromir, es konnte und musste warten. Sie würden später reden.

"Ich werde die Männer versammeln. Wir reiten weiter, wenn du bereit bist. Vor Einbruch der Dunkelheit kommen wir ohnehin nicht in die Stadt, also lass dir Zeit." Boromir hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Lippen und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. "Es geht mir gut, Boromir," flüsterte sie. Natürlich durchschaute er die Lüge, aber sie schien nicht in Gefahr zu sein. Der Zusammenbruch hatte ihm nicht gefallen, aber es würde Laietha weitaus schlechter gehen, wenn sie Aragorn nicht retten konnten.

"Ich liebe dich." Boromir strich ihr lächelnd über die Wange. Dann erhob er sich zu seiner vollen Größe, drehte ihr den Rücken zu und ging zu den Männern. Er würde mit seinem Bruder, Beregond und Faramir ihr weiteres Vorgehen besprechen. Vielleicht konnte er Laietha überreden, ihrem Vater entgegen zu reiten. Er wollte nicht, dass sie sich in Gefahr begab, aber die Chancen dafür standen ungefähr so gut, wie einen Ork zu überreden, sich zu baden.

Boromirs Stimme, die Wärme seiner Lippen und seine tröstende Zuversicht hatten ihren Herzschlag für einen Augenblick beruhigt, auch wenn die Bilder in ihrem Kopf so wild wirbelten, dass ihr ganz schwindelig wurde. Während ihr Mann mit ihr sprach versuchte sie sich davon zu überzeigen, dass sie fantasierte. Wie tröstlich wäre es gewesen, wenn sie dem Wahn verfallen wäre und ihrem Verstand misstrauen könnte, aber inihrem Herzen wusste sie, dass sie geistig vollauf gesund war.

Boromir erhob sich und wie ein Blitz zuckte eine neues Bild durch ihren Geist - ihr Mann ging von einer feindlichen Waffe getroffen zu Boden.

Laietha erhob sich langsam, die Knie weich wie Butter. Nicht Boromir! Nicht ihr geliebter Mann! Aber sie wusste, dass was sie gesehen hatte, die Zukunft war. Mit zitternden Knien lief sie in Richtung Wald. Sie konnte es nicht ertragen, ihn jetzt zu sehen. Nicht mein Mann! Jeder Blick, jeder Gedanke an ihn rief dieses schreckliche Bild in ihren Kopf - sie musste jetzt klar denken können, sie musste nachdenken, was zu tun sei, um Boromir und ihren Bruder zu retten. Es musste noch andere Erinnerungen in ihrem Kopf geben, nicht nur Tod und Krieg!

Ohne ihr Zutun trugen ihre Beine sie in den Wald hinein. Wie weit sie lief, konnte Laietha nicht sagen. Die Männer, in ihre Besprechung vertieft, bemerkten ihr Fortgehen nicht.

***

Als sie weit genug vom Lager entfernt war, ließ sie sich gegen einen Baumstamm sinken und begann bitterlich zu schluchzen. In ihrem Kopf tobte ein wahrer Orkan und wirbelte jeden klaren oder vernünftigen  Gedanken davon. Sie hatte einen tag versprochen bekommen - einen guten halben hatte sie gewonnen, um ihren Bruder und ihren Mann zu retten und die Zeit drängte! Dennoch konnte Laietha keinen Muskel rühren.

Laietha starrte auf einen toten Vogel, der dicht neben ihr am Boden lag. Eine Ameise kroch über den Kadaver und krabbelte wieder fort. Eine zweite Ameise kam und dann eine dritte.

Du solltest nicht hier rumsitzen, du solltest etwas tun!

Nun waren es schon zu viele Ameisen, um sie zu zählen. Wo kamen sie nur her? Laietha musste neben einem Ameisenhaufen sitzen. Die Tiere krabbelten über den Vogel, nagten an seinem toten Fleisch, rissen mit ihren kräftigen Zangen kleine Fleischstücken heraus und trugen sie davon - ein Festmahl für ihre Königin. Ihre roten Panzer schimmerten in der Sonne. Laietha konnte den Blick nicht abwenden.

Eomer und seine Männer waren auf dem Weg. Laietha wusste es. Wenn sie ein paar Männer schickten, könnten sie bald eine Kampfgruppe sein, die Mornuans Armee für eine Weile die Stirn bieten konnten. Zumindest lang genug, bis Aragorn in Sicherheit war. Alles, was sie tun musste, war sich zu erheben und zu handeln.

Inzwischen war es eine ganze Ameisenstraße, die zu dem toten Vogel und zurück zu ihrem Bau wanderte, ein glänzender roter Strom auf dem Waldboden. Es war ein junger Sperlin gewesen. Wahrscheinlich hatte ihn ein Räuber erlegt, oder das Tier war aus dem Nest gefallen.

Steh auf! Tu etwas! Starr nicht einfach Löcher in die Luft ! Rette deinen Mann! Rette deinen Bruder! Rette dich selbst!

Ich kann nicht.

Du kannst! Du musst! Kämpfe!

Ein paar Ameisen krabbelten über ihre Hand und erkundeten neugierig ihren Körper. Laietha bewegte sich nicht. Vielleicht hatten einige der Tiere sie gebissen, denn es brannte an ihren Oberschenkeln.

Du bist so dumm, schrie alles in ihr und in ihrem Magen bildete sich ein harter Klumpen. Du wirfst alles weg! Du hättest auch gleich gestern sterben können, wenn du es nicht einmal versuchen willst!

Laietha hätte am liebsten laut aufgeschrieen. Der Druck in ihrem Magen wurde zum Druck in ihrer Brust, aber nicht einmal für ein Seufzen hatte sie Kraft. Sie fühlte sich schwach und zum ersten Mal in ihrem Leben jämmerlich hilflos. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gekämpft, aber jetzt, als es um den wichtigsten Kampf in ihrem Leben ging, saß sie im Wald und starrte auf einen dummen Ameisenhaufen, die sich mit Aas den Bauch voll schlugen!


 

 

 

>>