Titel: Der geschenkte Tag (Seite 7)
Autor: Naurdolien


Es war, als wäre sie nicht mehr Herrin ihres eigenen Körpers. Sehenden Auges lief sie in ihr Unheil und zog Boromir und Aragorn mit sich in den Tod. Fast konnte sie Mornuans hämisches Lachen hören, weil sich die große Kriegerin kampflos ergab.
 
Eine nie gekannte Schwermut drückte sie zu Boden. Das war also ihr letzter Tag auf dieser Welt. Wie lange war sie in Schlachten gezogen, wohlwissend, dass sie am Ende des Tages der Tod erwarten konnte und nie hatte sie auch nur einen Hauch von Furcht verspürt. Sie war eine Kriegerin - sie fürchtete sich nicht vor dem Tod oder dem Sterben, aber diesmal war es etwas ganz anderes. Bei all ihren Schlachten hatte die Gefahr zu sterben wie ein drohendes Schwert über ihr geschwebt, aber Gefahr und Hoffnung waren Bettgefährten, wie ihr Schwertmeister sie von dem Moment an als sie ein Schwert zu schwingen begann gelehrt hatte. Diesmal gab es für sie keine Hoffnung.
 
Laietha erbebte unter den Schluchzern, die sie schüttelten. Sie würde ihre Kinder und Brüder nie wiedersehen und Boromir, ihr geliebter Boromir! Wie viel wollte sie ihm noch sagen! Aber sie konnte es nicht, sie wagte nicht einmal, ihm jetzt unter die Augen zu treten. Am liebsten wäre sie davongelaufen und hätte sich vor Mornuan und ihrer finsteren Macht versteckt. Aber es war zu spät - der Handel war abgeschlossen und unumkehrbar.
 
Hatte Mornuan gewusst, dass sie so fühlen würde? Hatte sie Laietha betrogen? Wahrscheinlich nicht. Mornuan hatte ihr wie versprochen Zeit geschenkt und plötzlich erwachte eine grimme Wut in Laietha - nicht auf die Hexe, sondern auf sich selbst, weil sie nicht in der Lage war, dieses Geschenk zu nutzen.
 
Sie hörte Stimmen im Wald - Boromir und Bergil riefen ihren Namen. Sie suchten nach ihr. Laietha fragte sich, wie lange sie wohl fort gewesen war. Die Ameisen waren fast fertig mit ihrer Arbeit. Von dem toten Vogel waren nur noch ein paar Knochen übrig. Laietha hob den Kopf und erschrak - es war schon Nachmittag! Kein Wunder, dass die Männer nach ihr suchten! Es mussten wenigstens drei Stunden vergangen sein - drei Stunden, in denen sie nichts getan hatte, um ihren Mann und ihren Bruder zu retten.
 
Sie fühlte sich schuldig. Es war höchste Zeit, sich auf den Weg zu machen und Aragorn zu helfen. Die Stimmen kamen näher und Laietha bekam Angst, dass ihr Mann sie so vorfinden würde. Schon vorhin war er drauf und dran gewesen, sie zu fragen, was sie quälte. Sie konnte ihm jetzt nicht gegenübertreten!
 
Laietha fühlte sich schwach. Boromir - ihr geliebter Boromir! Wenn er sie fand, würde sie sich ihm in die Arme werfen und ihm alles erzählen, aber das durfte sie nicht. Ihr Mann würde sie in seine starken Arme schließen und tröstende Lösungen für die auswegslose Lage finden - vielleicht sogar etwas ausgesprochen Dummes tun, das sich Laietha nie verzeihen würde. Sie wollte ihn nicht verlieren.
 
Eine menschliche Gestalt näherte sich ihr und schon fühlte sie die Schwäche, die sie zu übermannen drohte. Bei Eru, lass es nicht Boromir sein, betete sie still und ihre Gebete wurden erhört.
 
***
 
Elrond und seine Söhne hatten zum Aufbruch gedrängt. Gegen Mittag hatten sie einen einzelnen Reiter in der Ferne ausgemacht. Schnell hatten die Elben ihn als Aiglos erkannt und ein dumpfes Gefühl breitete sich in Elladans Magengrube aus - hoffentlich war Laietha nichts zugestoßen! Geschwind hielten sie auf den Jungen zu, der sie mit fröhlichem Winken grüßte. Das beruhigte die Elben ein wenig, denn wenn seiner Familie etwas zugestoßen wäre, würde er kaum so gelassen sein.
 
Mit einem breiten Grinsen brachte Aiglos sein Pferd zum Stehen. Luthawen schwang sich strahlend vom Rücken ihrer Stute und als auch Aiglos abgesessen hatte, schloss sie ihren Bruder überglücklich in den Arm. "Du wirst es kaum glauben, aber du hast mir gefehlt!" Aiglos erwiderte die Umarmung. Er würde es zwar nie zugeben, aber auch er hatte seine große Schwester vermisst. Immer nur mit Ionvamir durch die Gegend streifen war auf Dauer nicht das Wahre. Dann erinnerte er sich plötzlich seines Auftrags und wurde so ernst, wie ihn noch nie jemand der Anwesenden gesehen hatte.
 
Schnurstracks ging der Knabe zu Elrond. "Großvater, Mama hat mich geschickt. Sie sagt, ihr sollt euch beeilen. Es wird Krieg geben, sagt Onkel Faramir. Er kam gestern Abend bei uns im Lager an. Da war noch irgendwas..." Aiglos kratzte sich am Kopf. Er hatte nicht das beste Gedächtnis, warum ließ es ihn gerade jetzt im Stich? "Onkel Faramir hat noch etwas mit Truppen gesagt oder so..."
 
Zum Glück musste der Junge nicht weiter ausholen, denn Bereg, Olbern und den Elben war die Bedeutung dessen sofort klar. Mornuan musste Truppen eingeschleust und die Stadt besetzt haben. "Das hast du sehr gut gemacht, Aiglos. Lass dir von deiner Schwester etwas zu Essen geben." Elrond strich seinem Enkel wohlwollend über den Kopf und Aiglos hatte gegen diesen Vorschlag nicht das geringste einzuwenden. Sein Magen knurrte laut, schließlich war das Frühstück schon eine ganze Weile her und sein Bisschen Proviant hatte er schon kurz nach dem Aufbruch verputzt. Er war eben im Wachstum, wie seine Mutter sich sein Essverhalten zu erklären pflegte.
 
Elrond wartete kurz, bis seine Enkel außer Hörweite waren, dann beratschlagten er und die anderen, was zu tun sei. "Besser wir reiten sofort nach Minas Tirith," schlug Elladan vor, der die ganze Zeit über an das grausige Schauspiel im Garten denken musste, das er und seine Schwester hatten mit ansehen müssen. "Was ist mit den Kindern?" fragte Olberns Mutter besorgt. "Sicherlich wollt ihr sie nicht in Gefahr bringen und wenn es Krieg geben wird..."
 
Bereg nickte bedächtig. "Vielleicht können wir sie in ein nahegelegenes Dorf bringen? Meine Frau könnte sie begleiten." Der Vorschlag hörte sich gut an und Elladan und sein Bruder waren sofort einverstanden, nur Elrond zögerte einen Moment. Er spürte die erwartungsvollen Blicke der anderen auf sich ruhen. Nach einer Weile stillen Nachdenkens antwortete er.
 
"Aiglos und Beregs Frau sollen sich auf den Weg in das Dorf am Druadanwald machen, aber ich möchte, dass Luthawen uns begleitet." Mit einer schnellen Handbewegung erstickte er Olberns aufkommenden Protest im Keim. "Du wirst mit ihr ein Stück weit hinter uns herreiten, aber ich habe das Gefühl, dass der Krieg schneller eintreten wird als gedacht, vielleicht werden wir in eine Schlacht reiten und Luthawen ist eine geschickte Heilerin. Sie hat viel von mir gelernt und ich möchte nicht, dass ein Mädchen ihres Alters schon die Grauen eines Krieges sehen muss, aber wenn wir auf eine Schlacht treffen, wird es verletzte geben - und heilende Hände werden von Nöten sein."
 
Olbern schluckte. Auch er wollte nicht, dass Luthawen Kriegsgefallene sehen musste, aber in den Augen ihres Großvaters sah er so viel Sorge und Schmerz bei seiner Entscheidung, dass er glaubte, der Elb habe sich die Entscheidung sehr gut überlegt. "Gut, aber ich werde auf sie aufpassen," nickte er langsam und errötete plötzlich. Sein Vater bemerkte es und klopfte ihm lachend auf die Schulter. "Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich gedacht, du wärst schon ihr Mann!" Ach, dachte Olbern, wenn das nur so einfach wäre, aber dafür müsste er erst an Herrn Boromir vorbei!
 
Luthawen hatte Aiglos in den Wald geschickt, um Feuerholz zu holen. Sicher wollte sie nur ungestört Olbern anhimmeln! Mürrisch bückte sich der Junge und sammelte trockene Zweige auf. Eben noch war er der gefeierte Kundschafter seiner Mutter in wichtiger Mission gewesen, nun war er der Sklave seiner großen Schwester. Na ja, das würde er alles Papa erzählen, dann würde sie schon sehen, was sie davon hatte. Plötzlich entdeckte er im Gras eine seltsame Pflanze. Sie hatte leuchtend rote Beeren und tiefschwarze Blätter. An den feinen Stängeln waren Dornen - das merkte er, als er versuchte, eine der Pflanzen zu pflücken. Ärgerlich saugte er an dem Stich. Ein Kribbeln lief über seine Zunge - nicht unangenehm. Was das wohl für eine Pflanze war? Schnell rief er nach seiner Schwester.
 
Luthawen ging gemächlich auf ihren Bruder zu. Was er wohl nun schon wieder hatte? Vielleicht ließ sich Aiglos wirklich nur dann ertragen, wenn sie ihn nicht sehen musste, sie hatte eben noch so schön von sich und Olbern geträumt...
 
"Sieh mal!" Aiglos deutete auf eine Stelle am Waldboden. Zuerst fürchtete Luthawen, er hätte einen toten Vogel gefunden und wollte sie ärgern, aber dann entdeckte sie zu ihrem Erstaunen, das Pflänzlein. "Das ist Saewthond! Giftwurz!" Aiglos verzog das Gesicht. Toll, er hatte eine giftige Pflanze gefunden und sich an ihr gestochen. Wurde ihm nicht schon ganz flau im Magen? Gestorben auf seiner ersten wichtigen Mission...
 
"Ist...ist sie tödlich?" stammelte er, ganz blass um die Nase, während seine herzlose Schwester sich über die Pflanze beugte und sie vorsichtig pflückte - natürlich nicht, ohne sich mit ihrem Kleid vor den Dornen zu schützen. "Hast du dich gestochen?" Aiglos nickte und hielt ihr mit Heldenmiene den Finger hin. Luthawen drückte so lange daran herum, bis tatsächlich ein winziger Tropfen Blut aus der Wunde trat. "Du wirst es überleben, du Held," lachte sie.
 
"Ist sie giftig?" fragte Aiglos - nun ein wenig verärgert, da er sich nicht ernstgenommen fühlte. Luthawen war ganz und gar damit beschäftigt, den Waldboden nach noch mehr Pflanzen abzusuchen. "Natürlich nicht, du Tollpatsch, und hättest du ein wenig besser in Salabwens Unterricht bei Großvater aufgepasst, wüsstest du, dass sie sehr selten ist und gegen Vergiftungen aller Art hilft! Es ist ein großes Glück, dass du sie gefunden hast, ein zerstochener Finger ist kaum ein gerechter Preis dafür."
 
Aiglos dachte für einen Moment daran, seine Schwester im Wald festzubinden und sich zum Lager davonzumachen, aber dann hörten sie die Stimme von Beregs Frau, die das Zauberwort sprach, um Aiglos Ärger verpuffen zu lassen - "Essen!"
 
Während Aiglos das Mittagessen hinunterschlang wie ein ausgehungerter Wolf, berichtete Luthawen ausführlich von ihrem Fund, obwohl Aiglos seine Rolle nicht annährend gewürdigt genug fand. Elrond lächelte und strich seinen Enkeln wohlwollend über das Haar. "Das habt ihr gut gemacht. Diese Pflanze kommt ausgesprochen selten vor. Der Vorrat, den Luthawen gepflückt hat, wird eine ganze Weile reichen. In Bruchtal werde ich daraus einen Sud kochen, der Vielen helfen wird."
 
Elladan und Elrohir waren rastlos. Sie stocherten in dem Essen herum, das Beregs Frau zubereitet hatte. Am liebsten wären sie sofort aufgebrochen. Etwas stimmte nicht. Der Tag wurde seltsamer und seltsamer. Aiglos hätte nicht allein kommen sollen - es war nur ein Gefühl, aber jemand hätte ihn begleiten müssen. Außerdem mussten Boromir und Laietha wirklich verzweifelt sein, wenn sie den Jungen ohne Begleitung losschickten. So etwas würden sie nur tun, wenn eine Schlacht bevorstände und sie niemanden entbehren konnten. Die Elbenbrüder sahen sich an und hofften, dass ihr Gefühl sie trog.
 
***
 
Bregol war über die Maßen überrascht gewesen. Er hatten den Verräter, der bis vor Kurzem noch ihr König gewesen war - es genaugenommen auch noch immer war - mit den Kindern seines Hauptmannes aus dem Palast laufen sehen. Was hatte dieser Teufel jetzt vor? War es nicht genug, dass er ihnen die Mutter nehmen wollte? Sollten die Kinder bei der Hinrichtung zusehen oder wollte er sie gar selbst noch umbringen lassen? Was immer er auch im Sinne hatte, Bregol würde es zu verhindern wissen.
 
Geschwind hatte er ausgeholt und hatte den König niederschlagen wollen, vorsichtig darauf bedacht, das kleine Mädchen auf seinem Arm nicht zu verletzten, aber der greisgewordene König war im blitzschnell ausgewichen, fast als hätte er den Schlag kommen sehen. Bregol zögerte nicht lange. Er würde dem Alten keine Chance geben, seine neuen Wachen zu rufen und wollte sich auf Aragorn stürzen, aber die Kinder waren schneller als er. Schreiend stellten sie sich vor den Mann.
 
"Nicht! Tu ihm nichts! Er hat uns doch geholfen! Tu ihm nicht weh!" Bregol hatte nicht gewusst, was ihn mehr erstaunt hatte - die Reaktionsschnelle oder das Mitgefühl der Kinder mit dem zukünftigen Mörder ihrer Mutter, aber Bregol hatte ein weiches Herz und hatte dem Mann Glauben geschenkt, als er beteuerte, er wolle alles tun, um Frau Eowyn und die Halblinge zu retten.
 
Er hatte Wort gehalten und sich tapfer in dem kurzen Scharmützel geschlagen. Zumindest Bregols Herrin schien nicht an Aragorn zu zweifeln - ebenso wenig wie die Halblinge. Einer von der Stadtwache Minas Tiriths hatte Bregol freundschaftlich auf die Schulter geklopft. "Hab ich es dir doch gesagt, mein Junge, unser König ist wieder zu sich gekommen und nun werden wir es diesem Weibsbild zeigen!" Bregol sah zu dem Mann hinüber, der ihnen allen so viel Leid zugefügt hatte. Er würde ihm fürs erste vertrauen, aber wenn es hart auf hart kam - dieser Mann war nicht mehr sein König, bis er sich nicht wieder seiner würdig erwiesen hatte!
 
***
 
Warum hast du nicht besser auf sie aufgepasst, du Narr! Boromir rannte durch den Wald. Seine Lungen brannten. Jetzt war keine Zeit, sich alt zu fühlen. "Laietha!" brüllte er aus Leibeskräften. Von seiner Frau fehlte jede Spur. Einer der Männer hatte gesehen, wie sie in den Wald gelaufen war. Er hatte gedacht, sie würde ihre Notdurft verrichten gehen und es als nicht weiter wichtig angesehen. Boromir hätte ihn am liebsten erwürgt, obwohl er wusste, dass der Mann nichts dafür konnte. Einen winzigen Moment lang hatte er sogar Wut auf Aragorn verspürt - schließlich war seine Frau seinetwegen besorgt, verwirrt und verletzt!
 
Das wäre alles nicht passiert, wenn er seinen Verstand früher eingesetzt hätte! Er hätte dieser Frau niemals trauen dürfen! Sicher, Boromir selbst war auch auf Mornuan hereingefallen, aber er war ja auch nicht König von Gondor!
 
Entsetzt über diesen Gedankengang blieb Boromir stehen. Er keuchte, nicht so sehr, weil er außer Atmen war. Vielmehr wünschte er sich, diesen Gedanken nie gedacht zu haben. Aragorn war ein guter König - er war Boromirs Schwager und ein enger Freund. Boromir selbst wollte die Herrschaft über Gondor nicht - auch wenn das nicht immer so gewesen war.
 
Damals - vor so vielen Jahren, als er hilfesuchend nach Bruchtal zu den Elben gegangen war, um Hilfe für die Stadt zu erbitten, über die er eines Tages herrschen würde, hatte er Aragorn lieber tot als auf dem Thron sehen wollen. Aber das war lange her. Aragorn war ein guter König - und Aragorn war jetzt verdammt noch mal nicht wichtig!
 
Jetzt musste Boromir zuerst seine Frau finden und sicherstellen, dass ihr nichts fehlte. Er würde sie in die Arme schließen, er würde Bergil nicht sofort rufen, er würde mit ihr sprechen. Im Lager hatte er sie zu leicht gehen lassen. Es musste mehr hinter ihrer Flucht stecken als nur die Kränkung durch ihren dummen Bruder! Boromir würde dafür sorgen, dass es ihr besser ging und besser auf Laietha Acht geben als ihr Bruder - diesmal! - auf seine Stadt!
 
***
 
Es war Bergil, der aus dem Wald auf sie zugelaufen kam. Schnell lief er auf sie zu und blieb vor ihr stehen, die Kriegerin musternd. Laietha hockte immer noch auf dem Boden. Die Bisse der Ameisen brannten. "Zum Glück haben wir dich gefunden," seufzte er und schickte sich an, nach Boromir zu rufen. Laietha hielt ihn mit einem festen Griff ums Handgelenk zurück. "Nicht." Bergil hob eine Augenbraue. "Was ist los?"
 
Laietha schluckte. Sie konnte Boromir nicht unter die Augen treten - nicht so. Schon allein Bergils beunruhigte Miene hatte ihr einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzt, wie erleichtert würde ihr Mann erst sein, wenn er sie fand. Sie machten sich Sorgen um sie. "Was ist nur los mit dir, Laietha?" Bergil hatte sich neben sie gekniet. "Willst du darüber reden?" Reden - sie wollte es am liebsten herausschreien, dass sie alle in Gefahr waren, dass sie nur noch diesen einen Tag hatte, dass ihr Mann sterben würde, ihr Bruder, sie selbst. Aber wie absurd klang das alles schon allein in ihren eigenen Ohren. Bergil würde sie gewiss für verrückt halten...
 
Aber noch während ihr all diese Dinge durch den Kopf schossen, hörte sie ihre eigene Stimme, die Bergil alles von Anfang an berichtete, die unter Schluchzern von Mornuan und ihrem Handel erzählte, von den Ereignissen der kommenden Nacht, von Schuldgefühlen Bergil gegenüber, der nun auch mit ihnen in die Schlacht ziehen würde, obwohl er vorher vielleicht sicher an der Seite ihres Sohnes gewesen war und so wenig, wie sie sich vorher hatte aufraffen können, etwas zu tun, so wenig war sie nun in der Lage den Fluss ihrer Worte zu beenden bis nicht alles bis zum Letzten erzählt war.
 
Der Soldat hörte ihr aufmerksam zu, aber Laietha konnte seine Miene nicht deuten. Ob er sie nun für verrückt hielt oder ihr Glauben schenkte, wusste sie nicht. Schweigen senkte sich über den Wald, in der Ferne nur Boromirs Stimme, der nach ihr suchte. Schließlich erhob sich Bergil und streckte ihr eine Hand entgegen. "Steh auf, Laietha. Wir haben nicht mehr viel Zeit, aber es gibt Hoffnung. Wenn Eomer nicht weit ist, werden wir ein paar Kundschafter schicken und selbst voraus reiten. Aragorn wird leben - genau wie Boromir und auch du. Ich bin sicher, dass dein Vater nicht mehr fern ist und helfen kann. Steh auf."
 
***
 
Boromir hatte Stimmen gehört. Bergil hatte seine Frau also doch schon gefunden. Ein winziger Funke Zorn durchzuckte ihn, konnte er nun also doch nicht zuerst mit ihr sprechen, aber die Erleichterung überwog. Er würde den Jungen zurück zum Lager schicken und mit seiner Frau reden. Aber was Boromir sah, brachte sein Blut in Wallung - seine Frau saß an einem Baum und Bergil kniete neben ihr. Sie redeten - Laietha redete mit Bergil, aber nicht mit ihm. Vielleicht war es kindisch, aber die alte Eifersucht wallte wieder auf und Boromir ballte die Hände zur Faust. Nun, vielleicht gab es eine andere Erklärung. Vielleicht hatte Bergil sie gerade erst gefunden und erkundigte sich nur nach ihrem Befinden. Boromir blieb stehen und sah ihnen einen Augenblick lang zu. Aber der Junge machte keine Anstalten, nach ihm zu rufen. Sollte er noch den ganzen Nachmittag durch den Wald irren?
 
Bergil erhob sich und streckte Laietha die Hand entgegen. Er streckte sich beim Aufstehen, also war er schon länger bei ihr gewesen. Boromir schnaubte. Er begann zu laufen. "Da seid ihr ja!" Groll schwang in seiner Stimme mit. "Wie schön, dass du mir gesagt hast, dass ich nicht mehr zu suchen brauche, Bergil." Es war viel einfacher wütend auf ihn als auf seine Frau zu sein. Überhaupt fühlte er in den letzten Stunden viel Wut in sich. Er war wohl ein verbitterter alter Mann.
 
"Ich werde den Männern sagen, dass sie sich zum Aufbruch bereitmachen sollen." Bergil entschied, dass es besser wäre, die beiden einen Moment alleine zu lassen. Boromir warf ihm einen finsteren Blick hinterher, als der Junge zurück zu ihrem Lager ging. Den Unmut in sich etwas zügelnd, trat er zu seiner Frau. "Was ist nur los mit dir? Rede mit mir, Laietha, ich bin dein Mann!" Er hoffte, dass sein Tonfall nicht verriet, wie gekränkt er in seinem Stolz war. Sie tat es immer wieder - sie hatte sich mal wieder jemand anderem geöffnet, bevor er etwas erfuhr. Sicher, normalerweise hatte sie ihre Gründe dafür, aber das machte es nicht besser.
 
Boromir trat auf sie zu und wollte sie in den Arm nehmen, aber allein sein Anblick rief die schrecklichen Bilder wieder zurück und ein Gedanke erhärtete in Laiethas Verstand - sie musste verhindern, dass er sie in die Schlacht begleitete - nur wie? Unbewusst wich sie von ihm zurück.
 
Was war das? Boromir blieb verdattert stehen, als seine Frau sich von ihm abwandte. Was war nur geschehen? Sie war noch nie von ihm zurückgewichen! Angst, Sorge und eine winzige Spur Eifersucht mischten sich in seinem Herzen. Es musste ihr furchtbar gehen, wenn sie nicht mit ihm sprechen wollte. Schnell machte er einen Schritt auf sie zu. "Was ist passiert? Rede mit mir, Laietha!" Boromir griff nach ihr und bekam sie am Arm zu fassen.
 
Laietha stieß ihn hart von sich. "Es ist nichts! Lass mich einfach nur in Ruhe, ja?" Hastig trat sie ein paar Schritte zurück. Es gab nur einen Weg, wie sie sein Leben retten konnte - er durfte sie nicht in die Schlacht begleiten. Sie musste ihn überzeugen zu gehen - mit Gewalt und einer List.
 
In Boromirs Kopf wirbelten verschiedene Gedanken durcheinander, er versuchte eine Erklärung zu finden, wieso seine Frau sich so benahm, aber es wollte ihm kein vernünftiger Grund einfallen. Je mehr sie sich ihm widersetzte, desto mehr erwachte das Bedürfnis in ihm, zu erfahren was sie so verstört hatte - wichtiger noch, was sie mit Bergil besprochen hatte. Mit einem Satz stand er vor ihr und packte sie an den Schultern, damit sie ihm nicht noch einmal ausweichen konnte.
 
"Ich verlange, dass du mir sagst was hier vorgeht, auf der Stelle, Frau!" Laietha wand sich in seinem Griff, aber er würde nicht zulassen, dass sie ihn erneut von sich stieß. Boromir packte fester zu und schüttelte sie, als würde er dadurch eine Antwort bekommen. Der erschreckte Schrei seiner Frau brachte ihn wieder zur Besinnung.
 
"Lass mich los, Boromir, du tust mir weh!" Er hatte sie gegen einen Baum gedrängt und ihre grünen Augen funkelten böse. Trotzdem löste er seinen Griff nicht. "Sprich mit mir! Ich suche dich den ganzen Nachmittag, du verschwindest im Wald und als ich dich gefunden habe, hast du stundenlang mit Bergil geredet, was hast du?" Es hatte eine Bitte an Laietha sein sollen, aber Boromirs Herz raste vor Angst. Er hatte fast das Gefühl, als würde er sie zum letzten Mal sehen, als müsse er sie vor einer bevorstehenden Gefahr beschützen, die er nicht fassen konnte.
 
"Du sollst mich einfach nur in Ruhe lassen!" Laiethas Stimme klang so schrill, dass es in seinen Ohren wehtat. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen seinen Körper und versuchte sich ein Stück Freiraum zu verschaffen. "Verstehst du nicht, dass ich einfach nur allein sein will? Du würdest mir ja sowieso nicht glauben, wenn ich dir erzähle, was mich bedrückt! Du hast mir ja nicht mal geglaubt, als ich euch alle vor Mornuan gewarnt habe! Es wäre deine gottverdammte Pflicht als mein Mann gewesen, damals an mich zu glauben, denn dann wäre das alles hier nicht passiert! Dann wäre Aragorn jetzt nicht in dieser tödlichen Gefahr und ich...!"
 
Laietha schluckte, eine Sekunde lang entsetzt über den Hass, der in ihrer Stimme  mitschwang und darüber, dass sie sich fast verraten hätte. Hatte sie wirklich so viel Wut auf Boromir verspürt, als niemand ihr Glauben geschenkt hatte. Was aber viel wichtiger war, war dass Boromir jetzt zurückgewichen war und sie mit offenem Mund anstarrte. "Was willst du damit sagen, Laietha?" Keine Kampfeslust mehr, nur noch Unglaube und ein Hauch von Verzweiflung schwangen in seiner Stimme mit.
 
Sie holte tief Luft, als sie ihre Chance witterte, ihn davon abzuhalten, sie in die Schlacht zu begleiten. "Ich frage mich, wo du gewesen bist, als ich dich damals brauchte, als ich versucht habe, dieses Unglück von meinem Bruder abzuwenden, das so vielen Menschen bis jetzt Leid bereitet hat! Vielleicht ist es dir ja auch ganz recht, dass Mornuan jetzt die Stadt in ihrer Gewalt hat und meinen Bruder umbringen will! Du wolltest ihn doch sowieso lieber tot als auf dem Thron sehen, weil dieser Platz dir zustand! Und jetzt siehst du die Gelegenheit, nach seinem Tod die Stadt zu befreien und dich an seiner Statt auf den Thron zu setzen!"
 
Ihr Stimme zitterte, genau wie ihre Hände, die sie unmerklich zu Fäusten an ihrer Seite geballt hatte. Boromir starrte sie mit offenen Mund und weit aufgerissenen Augen an, unfähig, etwas zu sagen. Er war ein ganzes Stück zurückgewichen und alle Farbe hatte seine Wangen verlassen. Laietha keuchte heftig. Niemals hätte sie sich träumen lassen, ihren Mann so schändlich zu belügen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte schnellen Schrittes in Richtung Lager zurück.
 
Laietha spitze die Ohren, ihr Herz schlug wie eine Kriegstrommel und sie betete zu den Valar, dass Boromir ihr nicht nachlaufen würde, nicht durchschaut hätte, dass alles nur ausgemachte Lügen waren. Sie wagte sich nicht umzudrehen, aus Angst vor dem Anblick seiner Gestalt, aus Angst zu sehen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Sie hätte sofort kehrt gemacht und wäre vor ihm auf die Knie gefallen, um ihn um Verzeihung zu bitten, aber was war sein gekränkter Stolz schon gegen sein Leben!
 
Sie hatte keine Zeit, sich jetzt darüber Gedanken zu machen und je näher sie dem Lager kam, desto mehr verschwand ihr Mann und der Streit aus ihren Gedanken. Boromir war jetzt nicht mehr wichtig - jetzt war es an der Zeit, Aragorn zu retten. Laietha blickte zum Himmel, dem Sonnenstand nach musste es später Nachmittag sein. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, aber Laietha wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie ballte die Faust in grimmer Entschlossenheit und bahnte sich den Weg durchs Unterholz zu ihrem Rastplatz.
 
***
 
Boromir starrte seiner Frau nach, die wütend im Wald verschwand. Er sollte ihr nachlaufen und versuchen zu ergründen, was sie dazu bewogen hatte, so mit ihm zu reden, so zu denken, aber er hatte plötzlich keine Kraft mehr. Seine Knie gaben nach und er setzte sich auf einen Baumstamm.
 
Ihre Worte hatten ihn direkt ins Herz getroffen und er schnappte immer noch nach Luft, als sie schon lange seinen Blicken entschwunden war. Sicher, er war verdammt wütend auf Aragorn gewesen, aber ihn tot sehen zu wollen? Nein, schon allein nicht, weil er wusste, wie sehr seine Frau leiden würde, wenn sie ihren geliebten Bruder verlöre. Aber als er sie gesucht hatte - er hatte Aragorn für die missliche Lage seiner Stadt verantwortlich gemacht.
 
Laietha kannte ihn gut - besser als Faramir, was viel zu bedeuten hatte. Hatte seine Frau seine Wut gesehen? War es vielleicht auch anderen aufgefallen? Er fühlte sich schäbig, die Schuldgefühle, die er lang begraben gehofft hatte, rissen die Mauern nieder, die er gezogen hatte, um sie zu verbergen. Vielleicht stimmte es also doch - ein Mal ein Verräter, immer ein Verräter - und Laietha hatte es erkannt. Niemals hätte er etwas getan, um Aragorn zu schaden, aber in Gedanken hatte er ihn verraten und sich gewünscht, dass er dafür büßen sollte, dass er Laietha Kummer bereitete.
 
Ihr Kummer bereiten kannst du schließlich auch gut allein, schalt er sich. Es hatte ihm den Atem verschlagen, als sie ihn angeschrieen hatte, er hätte ihr nicht geglaubt. Ja, er hatte seine Pflicht als ihr Ehemann vergessen und ihr nicht geglaubt. Boromir stützte den Kopf in die Hände und massierte sich die schmerzenden Schläfen. Er hatte als ihr Ehemann versagt. Vielleicht hätte er ihr auch einfach hinterhergehen sollen und sie trösten, aber dazu fehlten dem stolzen Krieger der Mut.
 
***
 
Bergil war erleichtert, als er seine Freundin aus dem Wald kommen sah. Er konnte kaum glauben, dass sie noch vor kurzer Zeit so mutlos gewesen sein sollte. Jetzt war ihr Blick entschlossen und ihr Schritt fest. Endlich ging sie wieder mit erhobenem Haupt.
 
"Ich habe Faramir auf die große Weststraße geschickt. Er wird nach Eomer Ausschau halten. Das hier hat er mir für dich gegeben." Mit einem Lächeln nahm Laietha ihr Schwert entgegen. Es war Aragorns Geschenk an sie gewesen. Jetzt würde sie es benutzen, um ihren Bruder zu schützen. Es hatte sie immer begleitet - von ihrer ersten Schlacht an. Für Laietha war es ein gewisser Trost, dass es sie auch in ihre letzte Schlacht begleiten sollte.
 
"Wir brechen auf!" Ruhe trat schlagartig im Lager ein und Bergil zuckte unter der Stimme seiner Freundin zusammen. Bis jetzt hatte er sie zwar als herausragende Kriegerin erlebt, aber nie in einer Führerrolle. Dennoch verwunderte ihn nicht, dass die Krieger fast ohne zu zögern ihrem Befehl folgten und sich auf ihre Pferde schwangen. Auch Laietha ging zu ihrem Hengst.
 
Plötzlich wurde Bergil klar, dass etwas fehlte. Suchend sah er sich um, aber den Mann seiner Freundin konnte er nirgendwo ausmachen. Er war ihr nicht gefolgt. "Wo ist Boromir?" Laietha hatte das Schwert am Sattel ihres Pferdes befestigt und stand schon mit einem Bein im Steigbügel. Sie sah dem Soldaten fest in die Augen. "In Sicherheit." Mit einer geschmeidigen Bewegung saß sie auf.
 
Eine Bemerkung, sie habe ihn wohl an einen Baum gefesselt, lag Bergil auf der Zunge, aber ihr Gesichtsausdruck war zu ernst gewesen, als dass er sich getraut hätte, einen Scherz zu machen. Sie war zu allem entschlossen. Bergil glaubte nicht daran, dass Mornuan ihr ein Gift verabreicht hatte, das sie am Ende des Tages töten würde, aber Laietha schien es zu glauben. Geschwind saß auch Bergil auf.
 
"Folgt mir, Männer Gondors! Reitet für euer Land, für euren König!" Mit einem Klirren zog sie ihr Schwert und streckte es hoch in die Nachmittagssonne - als hätte das Weiße Gebirge das Geräusch verhundertfacht klang es, als die Männer es ihr gleichtaten. Stahl funkelte in der Sonne, wie ein Bergbach an einem Sommertag. "Auf nach Minas Tirith!" Und mit einem Donnerschlag setzte sich die kleine Armee in Bewegung.
 
***
 
Mornuan räkelte sich auf den seidenen Laken ihres Ehebettes. Neben ihr lag der Hauptmann ihres Heeres. Sein gebräunter Körper bildete einen angenehmen Kontrast zu dem cremefarbenen Laken. Er wartete geduldig auf die Befehle seiner Herrin, aber Mornuan fand keinen gefallen an seiner Gesellschaft.
 
Der König war geflohen - nun, das war nichts Neues, ebenso wenig, dass auch die Hinrichtung entfallen würde. Mornuan war nicht besorgt, schließlich wusste sie, wie der tag enden würde. Sollten sie nur das vermeintliche Glück genießen.
 
Es war später Nachmittag - nicht mehr lang und Annaluva würde endgültig tot sein - ihr Mann und Aragorn wahrscheinlich auch. Sie sollte sich also gar keine Gedanken machen - aber in ihrem Herzen herrschte große Unruhe.
 
Mit einem ärgerlichen Grollen schwang sie sich aus dem Bett und hüllte ihren Körper in einem federleichten Morgenmantel. "Du kannst gehen. Mach dich und deine Männer bereit für die Schlacht." Ohne den Krieger eines weiteren Blickes zu würdigen ging sie zum Fenster und starrte hinaus, über die Ebene hinweg zum Rand des Waldes.
 
"Wo bist du?" flüsterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie wünschte sich die Gabe der Hellsicht. "Liegst du im Wald in einer Kuhle und weinst dir die Augen aus? Oder versuchst du vor mir wegzulaufen?" Mornuan lachte einen Hauch zu schrill für ihre eigenen Ohren. Was war dieses Gefühl in ihrem Magen? Furcht? Das war unmöglich! Sie hatte diese Frau schon einmal besiegt.
 
Mit raschen Schritten ging sie hinüber zu ihrer Kommode und zog den festen roten Zopf heraus. Ihr Haar war nur der Anfang gewesen. Vielleicht hätte sie sich als Beweis für ihren Tod damals gleich ihr Herz und ihre Leber verlangen und verspeisen sollen, aber dann besann sie sich wieder auf ihre Macht und lachte kurz. Sie war viel zu mächtig für dieses Kriegerweib! Annaluvas Dummheit hatte ihr den endgültigen Triumph in die Hände gespielt. Wie konnte sie nur so dumm sein und für die verschwindend geringe Chance, ihren Mann und ihren Bruder zu retten ihr eigenes Leben eintauschen!
 
Das Gefühl der Unsicherheit blieb - ganz gleich wie sehr Mornuan auch versuchte, sich die Kriegerin schwach zu reden.. Unruhig trat sie an ihren Kleiderschrank und suchte sich ein dunkelrotes Kleid aus Samt heraus. Ihre Kleiderfrauen eilten auf ihren Befehl hin herbei und kleideten sie hurtig an. Der Ausdruck von Furcht in ihren Augen gab Mornuan ein Stück ihres Machtgefühls zurück. Sie flüchteten wie aufgescheuchtes Geflügel, als Mornuan sie fortschickte.
 
Sie ärgerte sich nun, dass sie ihre Halskette mit den roten Steinen fortgegeben hatte - völlig umsonst, wie sich herausgestellt hatte. Einen Augenblick lang hatte sie überlegt, die Kette anzulegen, die sie der Kriegerin abgenommen hatte, aber das Schmuckstück hatte eine seltsame Ausstrahlung und bereitete ihr Unbehagen. Ein anderes mal vielleicht. Heute entschied sie sich für eine Kette aus Silber, Diamanten und einen großen schwarzen Onyx. Er passte so wunderbar zur Farbe ihrer Augen.
 
Es klopfte an der Tür. Mornuan ließ absichtlich ein paar Augenblicke verstreichen, bis sie den wartenden zum Eintreten aufforderte. Ihr Hauptmann knallte die Hacken zusammen. "Das Heer ist bereit, meine Königin." Sie nickte. "Gut. Wir verlassen bei Sonnenuntergang die Stadt. Macht meinen Wagen bereit, nach dem Essen soll alles fertig sein."
 
Der Soldat salutierte und verließ den Raum. Mornuan rieb sich die Hände. Gut, bald würde sie alle Sorgen los sein. Sie würde sich die letzten Stunden vor dem Aufbruch noch ein gutes Mahl gönnen. Schließlich wollte sie sich ihren Triumph nicht durch einen knurrenden Magen verderben lassen.
 
***
 
Faramir ritt zügig gen Westen. Er wusste zwar nicht, wieso sich der junge Mann so sicher gewesen war, dass Eomer und seine Männer auf dem Weg in die weiße Stadt waren, aber es sollte ihm nur recht sein, sie konnten Hilfe gebrauchen. So abwegig war die Vermutung auch nicht, denn auch Eowyn hatte sich auf den Weg machen wollen. Vielleicht würde er seine Frau und die Kinder ja schon bald wiedersehen - dagegen hätte er ganz und gar nichts einzuwenden gehabt.
 
Lange musste er nicht suchen - zwei Stunden war er vielleicht geritten und dann sah er sie und sein Herz füllte sich mit frischem Mut. Fünfzig Ritter aus Rohan, mit wehenden Bannern auf stolzen Pferden kamen die Straße entlang galoppiert. Faramir hielt Ausschau nach seiner Frau, konnte sie aber nicht unter den Männern entdecken. Nun, vielleicht hatte sie in einem der Gasthäuser unterwegs Rast gemacht oder vielleicht sah er sie auch nicht unter den vielen Männern. Auf jeden Fall war Faramir froh, nicht weiter reiten zu müssen. Seine Gedanken verdüsterten sich. Er hatte sich schließlich nicht zum Vergnügen auf die Suche nach seinem Schwager gemacht. Faramir durfte nicht vergessen, dass ihnen bald ein Krieg bevorstand. Vielleicht war es also nicht so schlimm, wenn Eowyn in einem der Gasthäuser untergekommen und so in Sicherheit war, dachte er bei sich.
 
Als sie erkannt hatten, wer sich ihnen näherte, ließ Eomer seinen Schwager mit einem Hornstoß begrüßen. "Seht nur, der König schickt uns eine großartige Eskorte! Nicht, dass wir schon zu spät zur Hochzeit kommen!" scherzten die Rohirrim. Eomer stimmte gut gelaunt ins Gelächter ein und seine Frau lächelte schmal. Manchmal musste sich Lothiriel doch noch sehr an die raueren Umgangstöne in Rohan gewöhnen und das, obwohl sie bereits seit so vielen Jahren mit Eomer verheiratet war. Elfwine hörte neugierig zu, wenn sich die Männer unterhielten - vielleicht war er zu aufmerksam, dachte Lothiriel.
 
Faramir ritt den Rohirrim mit schnellem Schritt entgegen. Eomer begrüßte ihm freudig und auch Faramir war erleichtert, ihn mit einer solchen großen Reiterschar zu sehen. Eomer bemerkte, wie der Fürst von Ithilien die Männer musterte. "Ich weiß, ich sehe aus, als wolle ich in den Krieg ziehen, aber," er bedachte Lothiriel und den Knaben mit einem Lächeln, "ich habe große Schätze dabei."
 
Der König von Rohan schlug seinem Schwager freundschaftlich auf die Schulter, als Faramir nicht aufhörte, die Menge nach einem vertrauten Gesicht abzusuchen, aber Eowyn blieb nicht auffindbar. Nun, dafür war jetzt keine Zeit. Sicher ging es ihr gut. So berichtete er schnell und so leise, dass seine Cousine und Eomers Sohn nichts mit anhören mussten von den Dingen, die ihnen bevorstanden. Eomer versteifte. Kurz dachte er über das Gesagte nach, denn winkte er seinen Waffenmeister zu sich.
 
"Nimm zwei deiner besten Männer. Sie werden mit der Königin und dem Prinzen in das nächste Dorf reiten." Er reichte dem Mann einen kleinen Beutel, in dem Faramir Münzen vermutete. "Wir werden euch rufen lassen, wenn ihr nach Minas Tirith nachkommen sollt. Bis dahin hütet meine Familie wie euren Augapfel." Der Soldat nickte und verbeugte sich tief. Eomer gab seiner Frau einen schnellen Kuss und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Lothiriel wurde etwas blass, nickte dann aber und holte ihren Sohn zu sich. Faramir küsste die Hand seiner Cousine und wünschte ihr eine gute Reise. Sie sahen der kleinen Gruppe noch nach, bis sie verschwunden waren, dann wandte sich Eomer grimmig an Faramir.  "Wir haben keine Zeit zu verlieren. Während wir auf dem Weg in die Stadt sind, musst du mir in allen Einzelheiten berichten, was vorgefallen ist. Der tag heute kam mir ohnehin seltsam vor..."
 
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Ein Lächeln umspielte Aragorns Lippen und Eowyn legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter. "Sie ist dir nicht böse, Aragorn, sie hat gewusst, dass du unter einem Bann standest. Laietha und ihre Leute warten am Druadanwald und ihr werdet euch bald wiedersehen." Aragorn nickte. Fast hatte er geahnt, dass seine Schwester noch am Leben war. Er hatte es sich zumindest gewünscht und nun da Eowyn ihm die frohe Kunde überbracht hatte, wäre er am liebsten aufgestanden und zu ihr geritten, aber das musste noch ein wenig warten. Zuerst würde er seine Stadt befreien, denn er hatte so viel Unheil angerichtet, das es jetzt wieder gutzumachen galt.
 
Einige Männer vertrauten ihm noch immer, aber die Blicke, die ihm der junge Soldat, der Eowyns Befreiung organisiert hatte, zuwarf, sprachen eine deutliche Sprache - es galt nun, sich das Vertrauen des Volkes wieder zu erarbeiten und dafür galt es Taten zu vollbringen. Eowyns Kinder eilten an ihre Seite und die Fürstin von Ithilien presste sie gegen ihre Brust. "Ich werde meinen Bruder suchen. Ich habe das Gefühl, dass er nicht weit von hier sein kann...warum auch immer." Sie lächelte unsicher. Irgendwie kam ihr der Tag merkwürdig vertraut vor.

Aragorn erhob sich und drückte die Frau fest an sich. "Pass gut auf dich auf und bleib mit den Kindern in Sicherheit." Niemand sprach davon, aber Eowyn war zu sehr eine Frau, die den Weg des Schwertes gegangen war, um die Zeichen einer bevorstehenden Schlacht zu übersehen. Sie würde Hilfe schicken, wenn sie jemanden traf, der helfen konnte. Vielleicht würde sie Boromir unterwegs begegnen. "Möge dein Schwert geschärft und dein Pferd stark und schnell sein," flüsterte sie ihm ins Ohr. Aragorn lächelte dankbar. "Geh nun." Eowyn und ihre Kinder verschwanden in der Dämmerung und Aragorn sah ihnen noch eine Weile nach. Dann straffte er sich und begab sich zu den Männern, die auf sein Kommando warteten.
 
Frodo trat schnell zu Arahorn, als er den König erblickte. Er hatte etwas im Gefühl, über das er unbedingt mit dem Mann reden musste. Aragorn sah ihn erwartungsvoll an. Es dauerte einen Augenblick, bis Frodo seine Gedanken in Worte fassen konnte, dann begann er sich zu erklären.
 
Es war ein seltsamer Tag und er hatte das Gefühl, als würde Mornuan sie verfolgen. "Sie beobachtet uns. Vielleicht kann sie durch die Augen von Tieren sehen, wie Saruman, ich weiß es nicht, Streicher, aber sie weiß, dass wir hier sind und sie angreifen wollen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie ihre Truppen in die Schlacht begleiten wird. Hier ist Hexerei am Werk, also sollten wir besonders vorsichtig sein."
 
Die anderen Hobbits hatten gelauscht und sie alle hatten ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, aber Sam hatte ein ums andere Mal beteuert, dass er glaubte, ihnen würde nichts geschehen und Frodo hatte ihm beigepflichtet. Was für ein seltsamer Tag!
 
Die Männer waren alle unruhig - einige hatten das Gefühl, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben, was nichts ungewöhnliches vor einer Schlacht war, aber das Gefühl unterschied sich von dem, was sie bisher erlebt hatten. Aragorn wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, die Unruhe zu bezwingen. "Wir brechen auf!" verkündete er laut und tatsächlich wich das Gemurmel dem Rasseln von Waffen und Rüstungen und es dauerte nicht lange, bis die kleine Armee sich in gang setzte, um gegen Minas Tirith zu marschieren.
 
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Elrond hatte zum schnellen Aufbruch gedrängt und sie waren den ganzen Tag im strammen Tempo geritten. Als sie gegen Abend den Waldesrand erreichten, hielten sie kurz an, was Aiglos Hintern ihnen dankte. Vielleicht war das leben als Kundschafter doch nichts für ihn, denn sein Rücken schmerzte vom langen Reiten. Zumindest - und das hatte Elrond über die Maßen erstaunt - hatten sich die Geschwister nicht gestritten.
 
Elladan und Elrohir tauschten einen besorgten Blick. Sie wollten so schnell wie möglich weiter, denn je näher der Abend rückte, desto mehr hatten sie das Gefühl, dass ihre Ziehgeschwister in Gefahr schwebten. Elrond suchte die Große Weststraße mit seinen Blicken ab, konnte aber nichts ausmachen. Er rief Aiglos und Bereg zu sich. "Aiglos, du und Beregs Frau werdet euch auf den Weg zum nächsten Gasthaus machen und dort warten, bis ich euch holen lasse." Er drückte dem Jungen einen kleinen Beutel in die Hand, in dem Boromirs Sohn Münzen erfühlen konnte. "Du bist für die Sicherheit der Frau verantwortlich, verstanden?" Der Junge grinste breit. Das wurde immer besser. Das nächste Gasthaus war ein ganzes Stück weit fort, weit genug, um eventuellen Abenteuern über den Weg zu laufen! Aber als hätte sein Großvater seine Gedanken gelesen, packte er den Jungen fest an der Schulter.
 
"Ihr reitet auf direktem Weg dorthin. Zwei von Beregs Männern werden euch begleiten. Im Zweifelsfall versteckt ihr euch, bevor ihr einer Gefahr entgegentretet, haben wir uns verstanden?" Aiglos nickte. Wenn sein Großvater so ernst und eindringlich mit ihm sprach, hatte es meist einen guten Grund. Sein Enkel hatte nur einmal nicht auf ihn gehört, weil ihm die Ermahnung, dass Feuerkröten ein brennendes Sekret absondern nur als Vorwand erschienen war, damit Aiglos seiner Schwester die Tiere nicht ins Bett setzte. Die brennenden Blasen an seiner Hand hatten ihn eines Besseren belehrt und von diesem Tag an glaubte er Elrond aufs Wort.
 
Elrond nickte zufrieden. "Geht nun und seid vorsichtig. Wir sehen uns bald wieder. Und mach keinen Unsinn." Luthawen drückte ihren Bruder zum Abschied. Fast wäre sie froh gewesen, ihre Ruhe vor ihm zu haben, wenn sie nicht das Gefühl geplagt hätte, ihr stände an diesem Tag noch etwas Schlimmes bevor. Nur was geschehen würde, wusste sie nicht. Und sie wagte auch nicht, mit den anderen darüber zu reden, denn irgendwie schien jeder in der Gesellschaft unangenehmen Gedanken nachzugehen. Natürlich hatte es sie stutzig gemacht, dass sie die Gruppe begleiten sollte und Aiglos nicht und auch Olbern wich ihr nicht von der Seite und sah sich immer wieder nach rechts und links um.
 
Jetzt, das Aiglos und Beregs Frau in Sicherheit waren, beschleunigte die Gruppe ihr Tempo und sie preschten in Windeseile auf die Weiße Stadt zu.
 
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In der Ferne ragte der Weiße Turm Ecthelions auf und die untergehende Sonne tauchte ihn in feuriges Licht. Mein letzter Sonnenuntergang, dachte Laietha. Sie verabschiedete sich still vom Tageslicht und ihr Herz schlug schneller. Bald würde es vorbei sein. Für einen Augenblick schweiften ihre Gedanken von der bevorstehenden Schlacht ab. Von ihrem Mann hatte sie so schmählich Abschied genommen. So hatte sie sich die letzte Begegnung mit dem Menschen, den sie am meisten liebte nicht vorgestellt. Aber der Moment war verstrichen. Was geschehen war, konnte sie nicht rückgängig machen und letztendlich war alles gut so wie es war.
 
Sie preschten über die Ebene, den Pelennor Feldern entgegen. Laietha spähte in Richtung Stadt, in der Hoffnung, eine Spur von ihrem Bruder zu entdecken, aber das schwindende Licht erschwerte die Sicht. Hoffentlich hatte sie ihn nicht verpasst! Sie trieb ihren Hengst noch mehr zur Eile an und die Männer Gondors griffen ihr Tempo auf und folgten ihr. Ein Mal hatte sie neben sich eine huschende Bewegung gesehen. Sie war sich nicht sicher, meinte aber eine Frau und Kinder erkannt zu haben, aber das war nicht wichtig. Es ging jetzt nur darum, Aragorn so schnell wie möglich zu finden.
 
Nicht lange nachdem es ganz dunkel geworden war und nur der Mond ihnen noch Licht spendete, hörten sie in der Ferne das Klirren von Waffen und Laiethas Herz machte einen ängstlichen Sprung. Sie kämpften bereits! Sie hatte so gehofft, Aragorn noch vor der Schlacht abzupassen und ihn zu warnen, aber nun wurde jede Sekunde kostbar. Sie musste Aragorns Mörder aufhalten bevor er zuschlug!
 
Mit einem Ruck brachte sie ihr Pferd zum Stehen und die Soldaten taten es ihr gleich. "Männer Gondors! Schützt euren König, befreit eure Stadt, reitet für Heimat und König Elessar!" Ein donnernder Jubel folgte ihren Worten und mit gezückten Schwertern ritten die Soldaten an ihr vorbei und es dauerte nicht lange, bis sie ins Schlachtgeschehen eingriffen.
 
Laietha verharrte einen Moment lang und suchte das Schlachtfeld nach den vertrauten Umrissen ihres Bruders ab, aber sie sah ihn nicht. Die Schlacht musste schon eine Weile toben, denn es sah nicht gut für Aragorns Leute aus. Sie musste ihn finden und sich zu ihm vorkämpfen, aber vorher hatte sie noch etwas anderes zu erledigen, wenn sie in Frieden sterben wollte.
 
Neben ihr griff Bergil bereits zu seiner Waffe. Laietha sprang von ihrem Pferd und packte ihn am Arm. Erstaunt sah er sie an, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Hör gut zu, mein Freund, ich bitte dich um einen letzten Gefallen." Sie ließ ihm keine Chance zu protestieren. "Du musst diese Schlacht überleben und Boromir finden. Für Erklärungen ist keine Zeit, aber ich habe furchtbare Dinge zu ihm gesagt."
 
Jetzt verstand Bergil, warum die Kriegerin alleine aus dem Wald gekommen war. Ein Mann wie Boromir ließ sich nicht von ein paar Beleidigungen abschrecken. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was Laietha ihm gesagt hatte, um ihn in Sicherheit zu bringen. Die Kriegerin schluckte und presste ihren Freund fest an sich. Die letzte menschliche Wärme, die sie spüren würde...
 
"Sag ihm, dass ich ihn liebe und dass nichts von alledem wahr ist..." Ihre Stimme versagte und Bergil schloss sie fest in den Arm. Sie löste sich von ihm und lächelte dankbar. "Und hab ein Auge auf meinen Bruder." Kurz zögerte sie, aber dann packte sie ihr Schwert. "Wir sehen uns in Mandos Hallen, Bergil!" Ihre Stimme hallte noch in der Luft, aber sie war bereits  verschwunden. Bergil holte tief Luft. Jetzt war er geneigt ihr zu glauben, dass sie sterben sollte.
 
Einer der Fremdlinge hatte Bergil entdeckt und nutzte den kurzen Moment seiner Gedankenverlorenheit. Mit einem harten Schlag entwaffnete er den Soldaten und Bergil konnte um Haaresbreite einem zweiten Schwerthieb ausweichen, nicht ohne das Gleichgewicht zu verlieren und zu Boden zu gehen. Entsetzt sah er den grinsenden Fremdling an, der sein Schwert hob, um ihn zu enthaupten.
 
Dann war Bergil auf einmal nur noch Krieger. Ohne zu wissen, was er tat, holte er aus und trat mit aller Kraft zu. Mit einem Schmerzensschrei ging der Fremdling zu Boden und hielt sich den verletzten Unterleib. Bergil griff nach dem Dolch des Feindes und rammte ihm die Waffe ins Herz. Keuchend wischte er sich den Schweiß von der Stirn. "Danke, Laietha," flüsterte er. Er sollte sich schon etwas mehr Mühe geben, sein Versprechen zu erfüllen. Er wischte sich das Blut von den Händen und griff nach seinem Schwert. "Mehr Vorsicht," murmelte er. Wenn er starb würde ihm seine Freundin die Unsterblichkeit zur Hölle machen.
 
Im Zentrum der Schlacht entdeckte er seinen König. Er würde gleich damit anfangen, auf Aragorn aufzupassen. Fest umschloss er den Griff seiner Waffe und bahnte sich seinen Weg durchs Kampfgetümmel, bereit, seinem König zur Seite zu stehen und seinen Eid zu erfüllen.
 
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Aragorn hatte wohl bemerkt, dass sie Verstärkung erhalten hatten. Er atmete auf. Lange hätten sie den Feinden nicht mehr standhalten können. Die Valar mussten die Männer geschickt haben. Auch Aragorns Leute schöpften neuen Mut und rings um ihn herum hörte er die Kampfrufe gondorianischer Soldaten. Auch er packte sein Schwert fester und stürzte sich mit frischem Mut in den Kampf.
 
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Boromir hatte eine ganze Weile lang reglos auf einem alten Baumstamm gesessen und zu Boden gestarrt. Seine Frau kannte ihn zu gut. Sie hatte bemerkt, was nicht einmal er selbst hatte wahrhaben wollen, dass er Aragorn für einen schlechten König hielt, dass er Laietha nicht zur Seite gestanden hatte, als es seine Pflicht gewesen war. Dennoch sträubte sich etwas in ihm zu akzeptieren, dass er der schlechte Mensch sein sollte, als den sie ihn dargestellt hatte.
 
Vielleicht lag es an der plötzlichen Art, wie sie ihre Meinung zu ihm geändert hatte, dass er nicht glauben konnte, ihre Worte wären von Herzen gekommen, aber sie hatte ihn dort am härtesten getroffen, wo er am verwundbarsten war - bei seiner Liebe zu ihr und zu Gondor. Sie wusste genau, dass er alles tun würde, um seine Stadt und sein Land in Sicherheit zu wissen, und vielleicht hatte sie gerade deshalb nicht einmal falsch gelegen, als sie ihn bezichtigt hatte, Aragorn Vorwürfe zu machen und ihn seines Amtes entheben zu lassen, aber Gondor war schon lange nicht mehr seine größte Liebe. Er würde für sein Land in den Krieg ziehen, aber ohne Nachzudenken jeden töten, der seine Stadt bedrohte - nein. Es gab nur eins, für das er zum Mörder werden würde und das waren seine Frau und seine Kinder.
 
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und mit einem wilden Fluch sprang er in die Höhe. Sie hatte ihn getäuscht! Sie musste irgendetwas wahnsinniges vorhaben, bei dem sie ihn nicht dabei haben wollte, deshalb hatte sie diesen Streit vom Zaun gebrochen und er war dumm genug gewesen, ihren Erwartungen zu folgen und sich selbstmitleidig in die Ecke zu setzen um zu jammern!
 
Er wusste gar nicht, dass er so schnell laufen konnte, denn er war im Handumdrehen bei ihrem ehemaligen Lagerplatz. Er hatte schon genug Zeit vertrödelt und jetzt musste er sich selbst übertreffen, wenn er rechtzeitig zur Stelle sein wollte um zu verhindern, dass seine Frau etwas sehr Dummes tat. Sein Pferd war noch angebunden, was ihn darin bestärkte, dass sie nur hatte Zeit gewinnen wollen.
 
Schnell schwang sich der Krieger in den Sattel und trieb das Tier zu höchster Eile an. Es war später Nachmittag. Seine Frau hatte eine gute Stunde Vorsprung und die galt es jetzt aufzuholen. Er lenkte das Tier in Richtung Minas Tirith, denn Boromir hätte sein Leben darauf verwettet, dass Laietha unterwegs war, um Aragorn zu suchen.
 
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Laietha war von der falschen Seite her in die Schlacht eingedrungen. Es war unmöglich, Aragorn zu erreichen. Zwischen ihrem Bruder und ihr selbst waren unzählige Feinde. Die Kriegerin fluchte, aber dann erregte jemand ihre Aufmerksamkeit. Wenige Meter von ihr entfernt stand ein Bogenschütze, der anlegte und die Sehne spannte. Laietha wusste, wem der Pfeil galt. Vielleicht war sie doch am rechten Ort!
 
Sie zückte ihren Doch und mit einem gezielten Wurf brachte sie den Bogenschützen zu Fall. Er ging gurgelnd zu Boden. Laietha atmete auf. Jetzt war es geschafft! Ihre Fingerspitzen wurden taub. Das war also der Anfang vom Ende. Dort, auf einem der Streitwagen sah die Kriegerin Mornuan. Hatte sie es sich doch nicht nehmen lassen, ihrem Triumph am Ende beizuwohnen. Laietha umschloss ihr Schwert mit der Hand, entschlossen der Hexe wenigstens noch einen Denkzettel mitzugeben, bevor sie starb.
 
Mornuan lächelte hämisch. Laietha konnte ihre Selbstzufriedenheit selbst auf diese Entfernung sehen, aber die Kriegerin hatte erreicht was sie wollte - Boromir war in Sicherheit und Aragorn würde die Schlacht mit großer Gewissheit überstehen. Sie sah, wie Bergil sich zu ihm vorkämpfte. Aber sie hatte nicht mit Mornuan gerechnet.
 
Wie in einem bösen Traum sah sie den Bogenschützen an ihrer Seite auftauchen, der anlegte und auf ihren Bruder zielte. Nein! Schoss es ihr durch den Kopf. Nicht jetzt! Laietha stieß einen gellenden Warnruf aus, aber zu spät - der Pfeil traf sein Ziel und dann explodierte auch in ihrem Körper ein Geschoss aus Schmerz, das ihren Schrei ersticke und sie auf die Knie sinken ließ.
 
Alle Geräusche wurden dumpf, die Bewegungen der Schlacht um sie herum langsam, nur ihr Herz pumpte das Gift unermüdlich durch ihren Körper. Ihre Atmung wurde schwer, als die Muskeln zu versagen begannen, jede Faser in ihrem Körper brannte, als das Gift sie zu zerfressen begann. Und dann tauchte Mornuans Gesicht über ihrem auf. Laietha konnte keinen Muskel rühren.
 
"Ist dein armer Bruder nun doch noch gefallen?" höhnte die Frau. Grimmige Wut durchzuckte die Kriegerin. Am liebsten wäre sie der Hexe an die Gurgel gesprungen, aber das Gift wirkte schnell und sie konnte sich nicht mehr bewegen. Eine eisige Kälte begann Besitz von ihr zu ergreifen.
 
Plötzlich huschte ein breites Grinsen über das Gesicht ihrer Kontrahentin. "Wen haben wir denn da?" rief sie freudig überrascht. "Sieh nur, wer wegen dir gekommen ist!" Mornuan nahm ihren Kopf in die Hände und drehte ihn in Richtung des Schlachtfeldrandes. Es dauerte einen Moment, bis Laietha begriff, was sie von ihr wollte, aber dann raste ihr Herz vor Entsetzen. Boromir, formte sie mit stummen Lippen. Dort am Rande des Schlachtfeldes stand ihr Mann und suchte nach ihr. Mornuan würde ihn töten lassen und dann war alles umsonst gewesen.
 
Das Gift begann ihr Herz zu erreichen. Schon wurde der Herzschlag unregelmäßig und vor ihren Augen begann es zu flimmern, aber in ihr erwachte ein Hass, den sie nie zuvor verspürt hatte. Ihre Muskeln verkrampften unter ihrer Gegenwehr und Mornuan lachte laut. "Oh, es ist schmerzhaft, nicht wahr? Habe ich vergessen, das zu erwähnen? Dein Herz beginnt zu flattern, hab ich Recht? Sei getrost, du hast es bald überstanden. Hast du noch letzte Worte an deinen Mann, bevor ich ihn töte?"
 
Laietha konnte schwören, dass sie nicht mehr Herrin über ihre Glieder war, aber die Wut war so stark in ihr, dass sie ihr Schwert zu fassen bekam. Sie konnte Mornuan vielleicht nicht töten, aber sie würde ihr unvergessen bleiben. Mit einer letzten Anstrengung packte Laietha ihr Schwert und als Mornuan erkannte, was sie vorhatte, war es bereits zu spät - Laietha traf ihren Hals und das letzte was sie sah war der heiße rote Blutstrom, der sich über ihr Gesicht ergoss.
 
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Er hörte den Schrei seiner Schwester. Warum er sich zur Seite drehte, wusste Aragorn nicht, aber der Pfeil, der für sein Herz bestimmt gewesen war, durchschlug seine Schulter. Mit einem Ächzen ging er zu Boden. Sofort war Bergil an seiner Seite. "Mein Herr!" Der junge Mann bekam ihn unter den Armen zu fassen und wuchtete ihn hoch. Stöhnend stützte sich Aragorn auf ihn. "Schon gut, ich kann gehen." Suchend sah sich der König um. Wo war seine Schwester?
 
Plötzlich ertönte ein wilder Schrei der feindlichen Truppen und aus dem straff organisierten Regiment wurde in Windeseile ein chaotischer Haufen. Etliche flohen, die anderen kämpften verbissen weiter und an einer Stelle des Schlachtfeldes bildete sich ein verlassener Kreis, um den zuerst Mornuans Männer herumstanden, die dann von den Männern aus Minas Tirith niedergemacht wurden, aber auch die Wachen Gondors blieben stehen.
 
Aus dem Süden schallte ein Horn - Rohirrim, erkannte Aragorn. Eomer und seine Männer waren als doch noch rechtzeitig eingetroffen und nun stürzten sich auch die Pferdeherren ins Kampfgetümmel und trieben die Fremden auseinander. Schon jetzt war abzusehen, dass die Schlacht bald vorüber sein würde. Auf Bergil gestützt humpelte er zu jenem Kreis inmitten des Schlachtfeldes.
 
Aragorns Herz zog sich schmerzhaft zusammen und das lag nicht an der Verletzung in der Schulter. Laietha! Mit erstaunlicher Kraft zog er Bergil mit sich und als der junge Mann zu begreifen begann, warum die Männer einen Kreis bildeten war er es, der das Tempo anzog. Aragorn verschaffte sich unsanft Zutritt zum Zentrum und brauchte einen Moment um zu erkennen, was er dort sah - auf dem Boden lag der blutüberströmte, regungslose Körper seiner Schwester und direkt daneben der seiner Frau.
 
Hastig stieß er Mornuan zur Seite. Ihre glasigen Augen starrten reglos in den Himmel. Sie schien tot zu sein. Aber auch um seine Schwester stand es schlecht. Der Lärm um sie herum war verloschen - zumindest nahmen sie ihn nicht mehr wahr. Aragorn suchte nach ihrem Puls, aber er fand keinen, er legte sein Ohr an ihre Lippen, aber kein Hauch entkam ihrem Körper. "Nein." Zuerst war es ein Flüstern, dann ein Schrei der die Nacht zerriss.
 
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Bergil überlegte fieberhaft. Das konnte nicht das Ende sein. Er sprang auf die Beine und sah sich suchend um. In der Ferne sah er Boromir angelaufen kommen, aber hinter dem Krieger erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Reiter am Horizont. Das war genug um Hoffnung in dem Mann keimen zu lassen. Bergil rannte los.
 
Elrond schien ihn erblickt zu haben, denn der Elbenfürst hielt auf ihn zu und sprang hastig vom Pferd. Bergil hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. Er bekam den Elben am Ärmel seines Gewandes zu fassen und zog hastig. Stoff riss, aber entweder Elrond schien es nicht zu bemerken, oder es war ihm egal. "Vergiftet - sie stirbt - schnell!"
 
Mehr brauchte der Elb nicht. Er stieß den Soldaten zur Seite und begann zu rennen. Seine Robe war hinderlich, aber er stolperte dank seiner Geschicklichkeit nicht und erreichte in wenigen Augenblicken den Kreis auf dem Schlachtfeld, aus dem er Aragorns Klage hörte.
 
Elrond kniete neben seiner Ziehtochter nieder. Er suchte den Puls, suchte nach Atem und fand so wenig wie sein Ziehsohn. "Ruhe!" donnerte er und Aragorns Klage verstummte mit dem Gemurmel der Männer. Elrond legte ihr die Hand aufs Herz, betastete ihre Stirn, sah in ihre Augen.
 
Der Junge hatte Recht gehabt, man hatte sie vergiftet - ihr Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen, aber in ihr hatte er einen solchen Kampf gespürt, dass er der festen Überzeugung war, sie retten zu können - wenn er die richtigen Mittel hatte! Es konnte jedes beliebige Gift sein! Wahrscheinlich eines, das er noch nie zuvor gesehen hatte und er hatte nicht einmal einen Wimpernschlag Zeit. Alles was er hatte war die Pflanze, die Luthawen gefunden hatte - es war einen Versuch wert.
 
Hastig zog er die Pflanze aus seinem Kräuterbeutel, ohne auf die Stacheln zu achten, die in seine Haut eindrangen. Er pflückte die Beeren und steckte sie in den Mund seiner Tochter. Normalerweise kochte man Sud aus den Beeren, zerrieb ihre Blätter zu einer Paste, versetze sie mit anderen Kräutern, verdünnte die Extrakte, aber das alles brauchte Zeit.
 
Roter Beerensaft lief Laietha über die Lippen. Es sah aus wie Blut und hob sich von ihrer immer bleicher werdenden Haut ab. Elrond öffnete ihren Mund und schob den Brei mit seinem Finger in ihren Hals. Er massierte ihn von außen, in der Hoffnung, etwas von der Medizin in ihren Körper zu bekommen. Er zerriss der Stoff ihres Hemdes und rieb ihre Brust mit den Blättern ein, ohne einen Gedanken an die Stacheln zu verschwenden. Laietha spürte sowieso nichts. Wenn es nur etwas helfen mochte!
 
Wie in Trance hörte er die Stimmen von Laiethas Mann und ihrer Tochter. Hoffentlich war jemand zur Stelle, der sie zurückhielt! Elrond beugte sich über den reglosen Leib seiner Tochter. Kein Herzschlag war zu hören, nur der Tumult in ihr tobte weiter. Er kniff die Augen zusammen. Mehr konnte er nicht tun. Das Kraut war verbraucht und mehr Hilfsmittel hatte er nicht.
 
Stumm blickte er auf und sah Boromir, der seine Tochter fest gegen sich presste, ein hilfloser Olbern, der daneben stand und einen fassungslosen Aragorn. Sie alle warteten geduldig, dass er ihnen hoffnungsvolle Nachrichten überbringen würde. Elrond schüttelte den Kopf.
 
Luthawen riss sich von ihrem Vater los. Bevor auch nur einer von ihnen einen Muskel rühren konnte, hatte sich das Mädchen über ihre Mutter geworfen.
 
"Mama! Mama, komm zurück zu uns!" Heiße Tränen strömten über Luthawens Wangen und tropften auf das Gesicht ihrer Mutter. Das Mädchen trommelte mit den Fäusten auf ihren Oberkörper ein, als könne sie die Frau dadurch zurückbringen. Boromir beugte sich zu ihr hinunter und wollte sie fortziehen, aber seine Tochter schrie hysterisch und warf sich zurück auf Laietha. Boromir ließ sie gewähren und legte ihr eine Hand auf den Rücken. Plötzlich versteifte Luthawen. Sie presste ihr Ohr gegen die Brust ihrer Mutter und sprang mit einem Schrei in die Höhe.
 
"Sie lebt!" Fast grob stieß ihr Großvater sie zur Seite. Ja, ganz schwach, ganz langsam - aber eindeutig ein Herzschlag. "Bringt eine Bahre," flüsterte Elrond und bevor er den Satz beendet hatte, war Bergil auch schon davon gestürmt auf der Suche nach einem Transportmittel.
 
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Dem Schmerz wich eine leichte Wärme und ein Ziehen, das einen Teil der Kriegerin von ihrem Körper zu lösen schien. Laietha versuchte sich an ihrem Leib festzuklammern, aber sie hatte weder Hände noch Finger zum Greifen. Eine unendliche Leichtigkeit durchflutetet sie und vor ihr tat sich ein gleißendes Licht auf, in dessen Mitte der Umriss einer Frau zu erkennen war. Es kam Laietha wie in einem Traum vor. Zwar konnte sie das Gesicht der Frau, die vor ihr stand nicht erkennen, aber sie war sich sicher zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. "Mutter," flüsterte sie und die Frau streckte lachend die Arme nach ihr aus.
 
Endlich, endlich ist es soweit, mein Kind! Komm zu mir, dein Vater und ich haben so lange auf dich gewartet, jetzt ist der Tag gekommen, an dem wir uns wiedersehen!
 
Laietha zögerte einen kurzen Augenblick, aber dann schüttelte sie den Kopf. "Nein, Mutter, ich kann noch nicht. Jetzt ist nicht der richtige Augenblick!" Sie dachte an Boromir und Aragorn und daran, wie schändlich Mornuan sie betrogen hatte. Nein, sie konnte jetzt nicht sterben, sie würde es einfach nicht zulassen!
 
Wehr dich nicht, Kind, wehr dich nicht, komm zu uns ins Licht, deine Zeit ist gekommen. Wehr dich nicht, sonst wirst du rastlos auf der Erde wandeln und der Weg zu uns wird dir versperrt sein!
 
Der Sog wurde stärker und sie spürte, wie sie sich immer mehr von ihrem Körper entfernte. Nein, jetzt noch nicht, dachte sie. Sie konnte nicht ruhen, bis sie Mornuan das Handwerk gelegt hatte, sie musste zu sich kommen, musste versuchen, Aragorn und Boromir zu retten! So hatten sie nicht gewettet! Die Frau im Licht streckte ihre Arme nach ihr aus.
 
Laietha, mein Kind! Komm zu uns! Komm zu mir und deinem Vater!
 
Ihre Gesten wirkten bittend und Laietha war fast versucht ihr nachzugeben, als sie ein Stück weiter an ihren Körper herangezogen wurde und ein Schrei an ihr Ohr drang: "Mama!"
 
Traurig sah sie die Frau im Licht an. Lebewohl, mein Kind! Und mit einem Ruck wurde Laietha zurück in ihren Körper gepresst. Alles was sie wahrnahm war ein stechender Schmerz und danach wurde sie von tiefer Dunkelheit verschluckt.
 
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Boromir saß vor dem Krankenzimmer und wartete darauf, dass Elrond ihnen endlich Nachricht überbrachte. Er selbst hatte versucht herauszufinden, was seiner Frau zugestoßen war - erfolglos. Boromir hatte an ihrem Körper keine Verletzungen ausmachen können - sah man von einem Schnitt an der Stirn ab. Die Unmengen von Blut stammten von der toten Hexe. Dennoch kämpfte Laietha mit dem Tod.
Neben ihm auf der Bank lag Luthawen, ihren Kopf an Olberns Seite gebettet. Der junge Beorninger hatte die Augen halb geschlossen und das Mädchen war vor Erschöpfung eingeschlafen. Boromir war sehr froh, dass seinem Sohn dieser Anblick erspart geblieben war. Er würde in den nächsten Tagen zusammen mit Eowyn und der Königin von Rohan nachkommen. Elrond hatte ihn in das nächste Dorf geschickt.
Im Nebenzimmer hatte man Aragorns Schulterverletzung bandagiert. Der König hatte Glück im Unglück gehabt, denn der Pfeil hatte ein wichtiges Blutgefäß knapp verfehlt. Die Zeit verstrich quälend langsam. Überall auf dem Flur huschten Heilerinnen von Zimmer zu Zimmer, denn neben vielen Toten hatte es bei der Schlacht auch viele Verletzte gegeben. Auch Gefangene waren gemacht worden und aus der Ferne drangen die barschen Befehle der gondorianischen Soldaten an Boromirs Ohr. Seine Gedanken blieben nicht lange beim Los der gefangenen Fremdlinge.
Auf Bergil gestützt kam Aragorn aus dem Verbandszimmer. Mit einem Ächzen nahm er auf der Bank platz. "Gibt es etwas Neues?" fragte er hoffnungsvoll, aber Boromir schüttelte nur den Kopf. Schweigend saßen sie nebeneinander. Bergil lief nervös auf und ab. Schließlich schüttelte Boromir verzweifelnd den Kopf. "Ich verstehe es einfach nicht! Was ist nur mit ihr geschehen? Bergil, du bist doch die ganze Zeit über mit ihr zusammen gewesen - was hat meine Frau so zugerichtet?"
Der junge Soldat atmete tief durch und baute sich vor dem Mann seiner Freundin auf. Boromir hatte ein Recht von alledem zu erfahren, es war schließlich auch Laiethas letzter Wunsch gewesen. Sie war zwar am Leben, aber wenn man danach urteilen wollte, in welchem Zustand sie sich befand, konnte es gut möglich sein, dass sie die Nacht nicht überlebte. Trotz allem befürchtete Bergil, dass sein König und sein ehemaliger Hauptmann ihm die Geschichte nicht glauben würden.
Er nahm also seinen Mut zusammen und begann alles zu berichten, was Laietha ihm im Wald anvertraut hatte: vom Ausgang der Schlacht in der Boromir und Aragorn gestorben waren, von ihrem Handel mit Mornuan, ihren Bemühungen Boromir zu schützen und auch von dem Versprechen, das sie Bergil abverlangt hatte.
Aragorn hatte den Kopf in den Händen vergraben und Boromir starrte Bergil fassungslos an. Er öffnete und schloss den Mund einige Male, ohne jedoch einen Ton hervorbringen zu können. "Das ist alles meine Schuld," murmelte Aragorn mehr zu sich selbst als zu den anderen. Zu dem Schmerz in seiner Schulter gesellte sich auch der Schmerz in seinem herzen, dass sie vielleicht sterben würde, ohne dass er sie um Verzeihung für all das Unrecht bitten konnte, das er ihr angetan hatte.
Boromir widersprach seinem Schwager nicht. Auch er hielt ihn für den Schuldigen an der Lage seiner Frau, aber ihm gingen zu viele andere Dinge durch den Kopf, als dass er einen Wutanfall hätte bekommen können. An vorderster Stelle stand die Sorge um seine Frau, dicht gefolgt von der Verwirrung, die Bergils Bericht in ihm ausgelöst hatte. Die Geschichte von geschenkten Tagen und Zaubertränken passte ganz und gar nicht in sein Weltbild, aber er wagte es nicht weder Bergil noch seine Frau der Lüge zu bezichtigen.
Es war einfach absurd! Es war verrückt! Und vielleicht wurde es deshalb so glaubwürdig für Boromir. "Ich werde sie umbringen," brummte er voller unterdrückter Wut. Allein der Gedanke daran, dass sie ohne zu zögern für ihn und Aragorn gestorben wäre, ließ ihm einen kalten Schauer den Rücken herunterlaufen. Dass ihn jemand so sehr lieben konnte, ängstigte ihn, obwohl er es immer gewusst hatte.
"Wie hat sie es nur geschafft, Mornuan zu töten?" sinnierte Bergil vor sich hin, der sich ausgesprochen unbehaglich zwischen den beiden Männern fühlte und der selbst kaum erwarten konnte, dass sich die Tür öffnete und Elrond verkündete, dass Laietha außer Gefahr wäre.
Boromir knirschte mit den Zähnen. "Du wirst es nicht glauben, aber soweit ich erkennen konnte, hat sie ihr die Kehle durchgeschnitten." Bergil verschränkte die Arme vor der Brust. Natürlich, aber als er vorgeschlagen hatte, ihr den Kopf abzuschlagen, hatte man ja gesagt, es wäre unmöglich!
 
***
 
Endlich war Ruhe in den kleinen Raum eingekehrt. Elrond beugte sich über den Körper seiner Tochter, den man gewaschen, in ein sauberes Nachthemd gekleidet und in ein weiches Bett gelegt hatte. Die gondorianischen Heiler hatten nur die Köpfe geschüttelt, nachdem sie die Kriegerin untersucht hatten und waren unverrichteter Dinge wieder gegangen. Auch Elrond konnte nicht viel für seine Tochter tun. Er hatte ihren Mann vor die Tür geschickt, damit er sich ganz auf Laietha konzentrieren konnte.
Ihr Herz schlug zu schnell und zu flach und in ihrem Geist tobte ein wahrer Kampf. Ihre Stirn glühte und Elrond erneuerte das mit Kräutersud getränkte Tuch auf ihrer Stirn. Seine Tochter sprach wirr im Fieber. Zunächst konnte er mit ihren Worten nichts anfangen, sie kamen in einer Sprache, die ihm zunächst unbekannt schien, aber dann wurde ihm bewusst, wo er sie schon einmal vernommen hatte - das war viele Jahre her, wahrscheinlich zu lange, als dass sich seine Ziehtochter noch daran entsinnen konnte.
Die Stunden der Nacht zogen sich in die Länge, aber das Fieber wollte nicht abklingen. Elrond versuchte ihr etwas Wasser einzuflößen, aber es lief ihr aus dem Mund wieder heraus, während ihr Körper glühte, als wolle er von innen verbrennen. "Lass mich, Mutter! Bitte, noch nicht!" Laietha riss die Augen auf und starrte mit entsetztem Blick ins Leere.
Elrond nahm ihren Kopf in seine Hände und sah ihr tief in die Augen. Der Elb erschrak. In den Augen seiner Tochter spiegelte sich nicht sein Bild, es war fast, als könne er in ihre Seele blicken. Ersah die Silhouette einer Frau umkränzt von gleißendem Licht, das selbst auf ihn einen faszinierenden Sog ausübte. Aber beim Anblick dieser Gestalt begann Laiethas Herz zu rasen und ihr Atem ging rasselnd und schwer. Elrond legte ihr eine Kühle Hand auf die Stirn, die andere ließ er über ihrem Herzen ruhen.
"Es wird alles gut, meine Tochter. Du bist in der Welt der Lebenden." Langsam verebbte der Tumult, die Frauengestalt verschwand und Laiethas Herzschlag wurde ruhiger. Elrond sah nun wieder das eigene Spiegelbild in den glasigen Augen der Menschin. Dann schloss Laietha die Augen und fiel in tiefe Bewusstlosigkeit.
 
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Als Laietha die Augen aufschlug blendete sie helles Tageslicht. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. War sie tot? War sie in Mandos Hallen? Sie versuchte ihre Hand zu bewegen und ein jäher Schmerz schoss durch ihren Körper. Ich bin wohl noch am Leben, schoss es ihr durch den Kopf. An ihrer Hand spürte sie eine leichte Bewegung und kurz darauf erschien Boromirs Gesicht über ihr. Er sah aus, als wäre er gerade erst erwacht. Laietha versuchte ihn anzulächeln, aber selbst das schmerzte.
 
Boromir schnappte hörbar nach Luft. "Du lebst," flüsterte er ungläubig und strich ihr vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. Laietha spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Boromir betastete vorsichtig ihre Wangen. "Du lebst," lachte er ungläubig. Die Übelkeit wurde stärker und hilfesuchend sah sich Laietha um. An ihrer Seite stand eine Schüssel. Unter Aufbringen all ihrer Willenskraft riss sie ihren Oberkörper hoch und erbrach sich. Boromir sprang auf und brüllte aus dem Fenster: "Sie lebt!"
 
Laietha sank zurück in die Kissen. Ihr Körper war eine einzige Masse aus Schmerz und sie fühlte sich elend. Erneute Übelkeit stieg auf und es würde nicht lange dauern, bis sie sich wieder übergeben müsste. Boromir küsste sie stürmisch auf den Mund. "Den Valar sei Dank, du lebst!" lächelte er. Erneut raffte sich Laietha auf und erbrach sich in die Schale neben ihrem Bett. Ich wünschte, ich wäre tot, schoss es ihr durch den Kopf, aber dann überspülte sie eine Woge der Dankbarkeit, denn an ihrem Bett saß ihr lieber Mann, gesund und am Leben und sie lächelte glücklich. "Ja, ich lebe," hauchte sie.
 
***
 
Boromirs Schrei war nicht unbemerkt geblieben. Aragorn hatte seine Geschäfte in den Garten verlegt, er hatte viel Arbeit aufzuholen, die liegengeblieben war, aber er wollte sofort erfahren, wenn sich der Zustand seiner Schwester verbesserte oder verschlechterte.
 
Auch Bergil hatte schweren Herzens seinen Dienst wieder angetreten, allerdings nicht ohne zu verlangen, dass man ihn informieren würde, wenn seine Freundin wieder zu sich kam. Elrond und seine Söhne hatten Tag und Nacht im Flur Wache gehalten, aber Boromir war nicht zu überzeigen gewesen, die Seite seiner Frau zu verlassen.
 
Vier Tage hatten sie um Laiethas Leben gebangt und als der Schrei aus dem Fenster drang, verkniffen sich die Heilerinnen den Sohn des ehemaligen Statthalters zu ermahnen, dass dies ein Haus der Heilung sei und schreiende Angehörige nicht erwünscht wären.
 
Aragorn war der erste, der in das Zimmer stürmte. Er starrte sie an, als hätte er ein Wunder gesehen, dann fiel er vor ihr auf die Knie und küsste ihre Hand. "Verzeih mir, Schwester!" Er weinte vor Glück und auch über Laiethas Wangen liefen Tränen, so glücklich war sie, dass er am Leben war. Seine Schulter war bandagiert und er sah müde und erschöpft aus, aber seine Augen hatten wieder das alte Feuer und ihr war sofort aufgefallen, wie aufrecht er das Zimmer betreten hatte. Laietha lächelte und obwohl ihr bei jeder Bewegung übel wurde, richtete sie sich auf und umarmte ihren Bruder. "Es gibt nichts zu verzeihen, Dunai, ich war dir nie böse," wisperte sie leise.
 
***
 
Am Abend des Tages, als Laietha erwacht war, erreichte Faramirs Familie in Begleitung von Aiglos und Beregs Frau die Stadt. Eomer war einen Tag nach der Schlacht aufgebrochen, um nach Rohan zurück zukehren. Faramir hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, nachdem Aragorn ihm berichtet hatte, dass auch Eowyn mit ihren Kindern auf dem Weg in das Gasthaus gewesen seien, in dem Eomers Frau sich in Sicherheit gebracht hatte.
 
Es war ein glückliches Wiedersehen, Faramir wollte seine Familie nicht mehr loslassen. Er war mehr als froh, dass Eowyn nicht in die Schlacht gezogen war, wenn er an das Los seiner Schwägerin dachte. Er könnte es nicht ertragen, wenn seine Frau an Laiethas Stelle gewesen wäre.
 
Zwei Tage hatten sie noch dort verweilt und Eowyn genoss es, endlich wieder Gelegenheit zu haben, mit ihrem Bruder Zeit zu verbringen. Aiglos gegenüber hatte man zuerst nicht erwähnt, wie es um seine Mutter stand, obwohl der Junge zu ahnen schien, dass etwas nicht in Ordnung war. Glücklicherweise wurde er durch die Gesellschaft seiner Cousins und seiner Cousine die meiste Zeit über davon abgelenkt, sich um das Wohl seiner Mutter Sorgen zu machen. Schließlich sind Papa, Bergil und Onkel Aragorn bei ihr und passen auf sie auf, sagte er sich. Dennoch war er froh als sie aufbrachen, denn Elfwine hatte ihm etliche Inspirationen eingehaucht, die er unbedingt an seiner Schwester ausprobieren wollte.
 
In Minas Tirith angekommen, erschrak Aiglos zuerst, als Luthawen ihn in Richtung der Häuser der Heilung führte. Es war ihn schon verdächtig vorgekommen, dass sie so nett zu ihm war. "Und mach keinen Unsinn, hörst du? Und wenn du welchen gemacht hast, dann prahle nicht damit," ermahnte sie ihn. "Mutter ist schwach und darf sich nicht aufregen." Luthawen drückte ihn an sich und lächelte dann. "Du machst das schon."
 
Aiglos schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. Vorsichtig klopfte er an die Tür des Krankenzimmers und lauschte gespannt in die Stille. Er seufzte erleichtert, als die leise Stimme seiner Mutter ihn aufforderte, einzutreten.

 

 

 

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